Politischen Machtinteressen ausgeliefert – mal wieder
Die Folgen der Offensive der islamistischen Hayat Tahrir al-Sham (HTS) bedeuten für die Zivilbevölkerung in Syrien und die Selbstverwaltung in Rojava eine neue Bedrohung
Von Anita Starosta
Der Durchmarsch der islamistischen Hayat Tahrir al-Sham (HTS) bis Aleppo und Hama kam völlig überraschend und hat weitreichende Konsequenzen für die Zivilbevölkerung Syriens. Seit 2017 kontrolliert die HTS die Region Idlib, entstanden ist das Bündnis damals aus islamistischen und dschihadistischen Milizen mit Ursprüngen in dem Terrornetzwerk al-Qaida. Zu verstehen ist die Eskalation in Nordsyrien nur im Kontext des anhaltenden Krieges in Nahost, der globalen Kriegsregime und einer umkämpften, sich neu herausbildenden multipolaren Weltordnung. In Syrien werden die Macht- und Handlungsspielräume der verschiedenen geopolitischen Kräfte schon seit Jahren (militärisch) aus- und verhandelt. Die Schwächung der Hisbollah und Irans – beides wichtige Stützen des Assad-Regimes – durch den Krieg mit Israel und die Verlagerung der russischen Kräfte im Ukraine-Krieg haben zu einem günstigen Moment für die Milizen der HTS geführt, um diese große Offensive zu starten. Der türkische Dauerkrieg gegen die Kurd*innen und der unbedingte Wille, syrische Flüchtlinge aus der Türkei zurück nach Syrien abzuschieben, ist dabei für die türkische Regierung Motiv genug, diese Entwicklungen zu begrüßen.
Kurdische Bevölkerung auf der Flucht
Besonders Kurd*innen und andere religiöse und ethnische Minderheiten sind von der Machtübernahme der islamistischen Milizen im Norden Syriens bedroht. Berichte von Misshandlungen und gewalttätigen Übergriffen auf kurdische Zivilist*innen in den ersten Tagen haben sich schnell verbreitet und lassen Erinnerungen an die Zeiten unter dem Terror des Islamischen Staates (IS) wach werden. Deshalb versuchten die Syrian Democratic Forces (SDF), der militärische Arm der Selbstverwaltung Nordostsyriens (Rojava), die Bevölkerung in Aleppo und das Flüchtlingslager Shehba in Til Rifat zu schützen. Dies gelang nur bedingt – bis zu 70.000 Menschen aus Til Rifat wurden bereits evakuiert, die Region steht nun unter Kontrolle der HTS. In Til Rifat leben seit sechs Jahren 100.000 vertriebene Kurd*innen und Êzîd*innen unter sehr schlechten Bedingungen; sie stammen aus dem kurdischen Kanton Afrin. 2018 hatten islamistische Milizen die Region mit türkischer Unterstützung angegriffen und halten sie bis heute besetzt.
Zuletzt ohne Nahrung und Wasser harrten die Flüchtlinge in Shehba aus, eingeschlossen von den islamistischen Kämpfern im Süden und unter Beschuss der türkischen Söldner der SNA (Syrian National Army) aus dem besetzten Afrin. Nach Verhandlungen zwischen HTS und SDF ließen die Belagerer die Menschen aus Shehba in Richtung Tabqa ziehen, die, wenn man von dort kommt, erste größere Stadt in Rojava. Hier kamen in der Nacht vom 2. auf den 3. Dezember mehr als zehntausend Menschen an. Sie sind unterversorgt, von Kälte bedroht und unter Schock. Es sollen bereits zehn Kinder an Unterkühlung gestorben sein, so Berichte von vor Ort. Mindestens 120 Familien konnten Shehba noch nicht verlassen und werden aufgehalten. Die Nothelfer*innen des Kurdischen Roten Halbmonds nehmen die Vertriebenen in Empfang und versorgen sie nun. Wie schon andere flüchtende Gruppen aus dem Westen Syriens, die sich in den vergangenen Tagen bis hier durchschlagen konnten. Die Lage stellt den Halbmond und die Selbstverwaltung Rojavas vor enorme Herausforderungen. Zurzeit bereiten lokale Hilfsorganisationen den Bau eines neuen Camps in Tabqa und Raqqa für die Vertriebenen vor, die zum Teil noch unter freiem Himmel campieren müssen.
Die Reaktion des syrischen Regimes auf den Durchmarsch der islamistischen HTS ist brutal.
Unklar ist, wie es nun weiter geht für die zehntausenden erneut Vertriebenen und für die Selbstverwaltung. Es gibt Befürchtungen, dass HTS und SNA weiter vorrücken und Gebiete einnehmen, westlich vom Euphrat aber auch darüber hinaus – es wird darauf ankommen, ob die Türkei militärisch aus der Luft unterstützt und wie die USA und Russland auf die Angriffe reagieren werden. Beide sind als Schutzmächte in Rojava stationiert.
Bomben auf Idlib
Die Reaktion des syrischen Regimes auf den Durchmarsch der HTS ist brutal – mit russischer Unterstützung werden Luftangriffe vorrangig gegen zivile Ziele im Norden Syriens geflogen. Die Stadt Idlib und die Flüchtlingscamps an den Rändern werden für den Vormarsch der HTS bestraft, deren Kämpfer sich von dort auf den Weg gemacht hatten.
Die Luftangriffe sollen auch eine Machtdemonstration der syrischen-russischen Kräfte sein. Russland kann beweisen, dass es trotz des Krieges in der Ukraine weiterhin über Macht in Syrien verfügt. In den vergangenen Tagen wurden bereits vier Gesundheitseinrichtungen, vier Schulen, zwei Flüchtlingslager und eine Wasserstation von Bomben getroffen. Auch ein von medico finanziertes Frauenzentrum in Idlib-Stadt wurde zerstört, die Mitarbeiter*innen konnten sich in Sicherheit bringen und organisieren weiter Nothilfe für Vertriebene – so gut dies unter dem Bombenhagel geht.
Zehntausende Menschen sind in Idlib und Aleppo auf der Flucht vor den Kämpfen und Bomben aus der Luft. Seit der Eskalation am 26. November wurden in Idlib und Nord-Aleppo mindestens 44 Zivilist*innen getötet, darunter zwölf Kinder und sieben Frauen. Dies geht aus Daten hervor, die von den örtlichen Gesundheitsbehörden überprüft wurden. Mit 66 verletzten Kindern und 36 verletzten Frauen von den insgesamt 162 gemeldeten Verletzten machen Frauen und Kinder fast zwei Drittel der Verletzten aus. Notwendig wäre die Öffnung der Grenze in die Türkei, damit die Menschen hier Schutz finden können. Idlib ist dicht besiedelt; auf der Flucht vor der Verfolgung und den Angriffen des Assad-Regimes sind in den zurückliegenden Jahren hunderttausende Menschen aus anderen Teilen Syriens hierher geflohen. Sie leben seit Jahren in Flüchtlingslagern – die humanitäre Lage ist besonders seit dem Erdbeben 2023 äußerst prekär.
Wie geht es weiter?
Es ist zu früh, um eine Prognose zu wagen, wie sich die Lage in Syrien weiter entwickeln wird und welche globalen oder regionalen Player sich letztendlich durchsetzen werden. In der türkischen Regierung wird die Übernahme Aleppos begrüßt, die türkische Fahne wurde von Kämpfern bereits an der Zitadelle gehisst. Das, obwohl die Millionenstadt für ihre Multiethnizität bekannt ist. Aleppo ist seit jeher ein Melting Pot. Neben der arabisch-muslimischen Bevölkerung leben hier Griechisch-Orthodoxe, Assyrer*innen, Aramäer*innen, Armenier*innen und Kurd*innen. Wenn sie jetzt aus Sicherheitsgründen fliehen müssen, droht auch eine jahrtausendealte Kulturgeschichte zu Ende zu gehen.
Noch vor wenigen Wochen wurde in Deutschland über mögliche Abschiebungen nach Syrien diskutiert. Nicht erst angesichts der jüngsten Eskalation und der dramatischen Zuspitzung der humanitären Lage ist das unerträglich. Die jetzige Situation ist auch Ergebnis des Versagens internationaler Politik in der Region. Die Bundesregierung führt polarisierte Debatten über Migration, statt sich um ausreichend Hilfe für die Menschen zu bemühen und für eine politische Lösung in Syrien einzusetzen. Vertrauenswürdige Akteure vor Ort gibt es – wie die kurdische Selbstverwaltung im Nordosten des Landes. Sie muss gestärkt werden.