Kaczynskis Fehlkalkulation
Zehntausende demonstrieren in Polen gegen die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes
Von Bilke Schnibbe
Am 22. Oktober hat Polens Oberstes Gericht das Recht auf Abtreibung in Polen faktisch abgeschafft: Es entschied, dass ein Schwangerschaftsabbruch aufgrund eines »Defektes« des Fötus nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar sei. Abtreibungen wären demnach nur noch rechtens, wenn die Schwangerschaft durch sexuelle Gewalt oder Inzest zustande gekommen oder die Gesundheit der schwangeren Person gefährdet ist. Auf Basis des nun abgeschafften Paragrafen waren in Polen bisher fast alle Abbrüche, nämlich 98 Prozent, durchgeführt worden. Polnische Kirchenvertreter und Papst Franziskus dankten der polnischen Regierung für ihren »Einsatz für das Leben von der Empfängnis an«. Nachdem es zu massiven landesweiten Protesten und Streiks, vor allem von Frauen und Jugendlichen, gekommen war, verschob die rechtskonservative Regierung die Veröffentlichung des Urteils. Solange die nicht nachgeholt wird, bleibt das Gesetz vorerst außer Kraft.
Umfragen zeigen, dass drei Viertel der polnischen Bevölkerung gegen eine Verschärfung des eh schon strikten Abtreibungsrechts sind. Das und die allgemeine Unzufriedenheit mit der Regierung zeigt sich aktuell deutlich: Anfang November gingen zeitweise Hundertaussende Menschen gegen das Gesetz und die polnische Regierung auf die Straße. Medien berichten, dass das die größten Proteste seit Ende des Staatssozialismus in Polen seien. Die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) hat sich mit ihrem Vorstoß verkalkuliert, so scheint es, und rudert nun zurück. Der PiS-nahe Präsident Duda schlug vor, das Gesetz dahingehend zu lockern, dass Föten ohne Überlebenschancen abgetrieben werden dürfen. Das besänftigte allerdings, wie zu erwarten, niemanden, und die Proteste gingen unbeeindruckt weiter, obwohl sich in Polen aufgrund der aktuellen Pandemie-Beschränkungen nicht mehr als fünf Personen öffentlich versammeln dürfen. Aktivist*innen störten stellenweise Gottesdienste und protestierten in Kirchen, was in Polen gesetzlich verboten ist. Auf Aufrufe Jaroslaw Kaczynskis, dem Gründer und Parteivorsitzenden der PiS, die Kirchen vor den Protestierenden zu schützen, folgten Angriffe von rechten Hooligans auf die Demonstrationen in Warschau. Inmitten der wieder an Fahrt gewinnenden Pandemie hat die Regierung mit ihrem Verbotsvorhaben die Büchse der Pandora geöffnet.
Im Osten nichts Neues
All das passiert in einem Klima, in dem ultrakonservative Kirchenvertreter und rechte Politiker*innen schon länger mit Begriffen wie »Regenbogenseuche«, »LGBT-Ideologie« oder »Linksfaschismus« hantieren, um ihre Politik zu rechtfertigen. Seit einiger Zeit inszeniert sich die PiS-Regierung als Wächterin einer katholisch-konservativen Politik der Vernunft gegen die aus dem Westen importierte »Genderideologie«. Präsident Duda hatte in seinem Wahlkampf Mitte dieses Jahres dazu aufgerufen, »LGBT-ideologie-freie Zonen« auszurufen. Dem waren um die 80 Gemeinden in Polen gefolgt (siehe ak 663). Aktuell tut sich insbesondere der im Oktober ins Amt gehobene Bildungs- und Wissenschaftsminister Przemyslaw Czarnek mit antifeministischem Gepoltere hervor: Die »LGBT-Ideologie«, die von »Neomarxisten« in Polen verbreitet werde, sei in seiner Zerstörungskraft mit dem Nationalsozialismus zu vergleichen. Er wolle sich dafür einsetzen, dass dieser schädliche Einfluss aus den Universitäten und Schulen entfernt werde. Damit bedienen sich PiS und Kirchenvertreter einem Klassiker der rechten Strategie zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung: Die Verschwörungsidee von den hinterhältig agierenden und die Gesellschaft zersetzenden queeren und feministischen Kräften soll die Bevölkerung hinter PiS und ihrer Politik einen. Eine ähnliche Strategie verfolgen die AfD in Deutschland und Orbàn in Ungarn.
In Polen scheint trotz dieser ideologischen Vorarbeit das Maß nun voll zu sein. Die Vehemenz und Ausdauer der Proteste zeigen, dass sich nicht nur ausgemachte Regierungsgegner*innen in die Demonstrationen einreihen. Auch eigentliches PiS-Klientel scheint durch den Kurs der Regierung nachhaltig vor den Kopf gestoßen. Im Rahmen der Proteste werden Rufe lauter, dass die Regierung abtreten soll. Eine Mehrheit der Pol*innen ist mittlerweile dafür, dass Jaroslaw Kaczynski seine Ämter niederlegt.
Misslungenes Manöver
Ein wesentlicher Faktor ist der wachsende Ärger über das Krisenmanagement der Regierung während der Corona-Pandemie. Die Regierung steht in der Kritik, sich nicht rechtzeitig um Bereiche wie die Digitalisierung des Schulunterrichts oder die Ausstattung der Krankenhäuser und des medizinischen Personals gekümmert zu haben. Stattdessen seien wichtige Ressourcen in den Präsidentschaftswahlkampf im Sommer geflossen. Die Anrufung des Obersten Gerichts und die folgende öffentliche Auseinandersetzung um das Thema Abtreibung kann auch als Versuch gelten, von diesen politischen Versäumnissen abzulenken. Auf der anderen Seite verliert auch im katholisch geprägten Polen die Kirche an Einfluss. Ihre Rolle als widerständige Institution gegen den Kommunismus gerät langsam in Vergessenheit, während öffentliche Debatten um Korruption und sexuelle Gewalt an Kindern durch Kirchenangehörige in den vergangenen Jahren zunehmen. Dementsprechend beteiligen sich viele Jugendliche und junge Erwachsene an den Demonstrationen. Die Regierung um Kaczynski hat all das unterschätzt. Sie muss sich die Kritik gefallen lassen, diesen Konflikt eigennützig anzufachen, obwohl aktuell alle Ressourcen zur Bekämpfung der Pandemie gebraucht würden.