Polen nach den Wahlen
Nach der Niederlage der PiS-Partei hoffen viele auf einen fortschrittlichen Aufbruch – doch so einfach ist es leider nicht
Von Jos Stübner
Der Nationalkatholizismus in Polen ist abgewählt. Nach acht Jahren an der Regierung hat die nationalistisch-autoritäre Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) nicht nur ihre absolute Mehrheit verloren. Auch für eine Koalitionsregierung mit dem rechtsextremen Parteienbündnis Konfederacja fehlen die notwendigen Mandate. Viele deutsche Medien bezeichneten das Wahlergebnis als Rückkehr nach Europa und zur Demokratie. Was das genau bedeuten soll, wie es praktisch weitergeht und was inhaltlich auf den klerikalen Autoritarismus unter der Führung des PiS-Parteichefs Jarosław Kaczyński folgen wird, ist keineswegs ausgemacht.
Die parlamentarische Mehrheit liegt nun bei einer heterogenen Allianz, zusammengesetzt aus der konservativ-neoliberalen Bürgerkoalition unter Führung des früheren EU-Ratspräsidenten Donald Tusk, der noch konservativeren Parteienformation Dritter Weg (Trzecia Droga) sowie der Linken (Lewica). Einfach durchregieren kann die Anti-PiS-Koalition jedoch nicht. Noch bis 2025 währt die Amtszeit des PiS-nahen, mit umfangreichen Kompetenzen ausgestatteten Präsidenten Andrzej Duda. Mit seinem Veto könnte das Staatsoberhaupt die Gesetzesvorhaben der neuen Regierung torpedieren.
Neben der legislativen Hürde ist noch völlig offen, wie die teilweise auf Jahre hinaus mit reaktionären Kadern besetzten, öffentlichen Institutionen – von den staatlichen Medien und der Justiz über Bildungseinrichtungen und Museen bis hin zum riesigen, auf eine affirmative Nationserzählung getrimmten geschichtspolitischen Apparat – strukturell und personell transformiert werden können. Auch die Berufung neuer Richter*innen ist Aufgabe des Staatspräsidenten. Sollte Duda eine strikte Blockadelinie verfolgen, wäre das ein immenses Erschwernis für den Rückbau des reationären Staatsprojektes der PiS.
Eine Koalition in der Selbstfindungsphase
Jenseits der praktischen Hindernisse stellt sich die grundsätzliche Frage, wofür die neue Dreierkoalition, die sich aus fast einem Dutzend Einzelparteien sowie einer Reihe von individuellen Protagonist*innen zusammensetzt, steht.
Allein Donald Tusks Bürgerkoalition umfasst neben ihrem christlich-konservativen, neoliberalen Kern in Gestalt der Bürgerplattform (PO) solch unterschiedliche Akteur*innen wie den Gründer und früheren Anführer der rechtsextremen Allpolnischen Jugend Roman Giertych, den nationalistischen Bauernführer Michał Kołodziejczak, der an einer der größten antisemitischen Kampagnen der letzten Jahre beteiligt war, die liberal-feministische Barbara Nowacka oder die Grünen-Partei. Insgesamt fällt das innere Kräfteverhältnis der Koalition mit starken konservativen bis reaktionären Anteilen sowie verschiedenen liberalen Spielarten deutlich zu Ungunsten einer schwachen Linken aus, die mit 8,6 Prozent deutlich unter dem Ergebnis der letzten Wahlen landete. Innerhalb dieses nominellen Linksblocks lässt sich wiederum nur die Razem-Partei als linkssozialdemokratisch einordnen. Rein rechnerisch ist die Tusk-Koalition noch nicht einmal auf die Stimmen der sieben Razem-Abgeordneten angewiesen.
Der liberale Rechtsstaat ist der kleinste gemeinsame Nenner in der Koalition.
Der auch international in liberalen bis linken Kreisen zu beobachtende Jubel über den Regierungswechsel in Polen ist von einer Hoffnung getragen, die für bestimmte Bereiche sicher berechtigt ist. Zugleich beruht diese Hoffnung oft genug auf einem schwarz-weiß gezeichneten Gegensatz zwischen der rechtsautoritären PiS und der pauschal als liberal-demokratisch etikettierten Opposition. Trügerische Eindeutigkeit suggeriert auch die scharfe Kontrastierung der von Kaczyński selbst zur Vierten Republik erkorenen Regierungsperiode unter PiS mit der Zeit davor. Lohnend ist deshalb der Blick auf einzelne Politikfelder.
Umkämpfter Fortschritt
Außer Frage steht das Bestreben der künftigen Regierung, die Unabhängigkeit der Justiz wiederherzustellen, die von PiS zu weiten Teilen der Regierungskontrolle unterworfenen wurde. Der liberale Rechtsstaat ist der kleinste gemeinsame Nenner in der Koalition. Auch der Dauerstreit mit der EU dürfte von der neuen Regierung beigelegt werden. Ein ähnlicher Konsens gilt für eine grundlegende Neuausrichtung der zum reinen Partei- und Propagandaorgan umfunktionierten staatlichen Medien.
Anders sieht es in sozial- und wirtschaftspolitischen Fragen aus. Die Zeit vor PiS lässt sich als eine Zeit des neoliberal dominierten, postsozialistischen Transformationskapitalismus charakterisieren. Erst PiS brach mit diesem Paradigma. Unter PiS wurde das Renteneintrittsalter gesenkt, ein Kindergeld und der Mindestlohn eingeführt. Die neue Regierung wird diese Errungenschaften nicht gänzlich zurückdrehen. Seit Jahren ist es aber im Umfeld der liberalen Bürgerplattform von Donald Tusk gang und gäbe, die unter PiS eingeführten Sozialleistungen als opportunistische Bestechung einer angeblich dumpfen und faulen Unterschicht abzustempeln. Spitzenpolitiker des Dritten Wegs kündigten mit Blick auf die Sozialhilfen bereits an, dass nun das »Polen des Verteilens« ein Ende haben werde. Dass die Linke angesichts der bestehenden Kräfteverhältnisse im Regierungslager auf sozialpolitischem Gebiet viel ausrichten kann, ist zweifelhaft.
Feministisches Potenzial und reaktionäre Blockaden
Lässt sich im Bereich des Abtreibungsrechts auf eine progressive Wende hoffen? Die Wahlniederlage der PiS lässt sich zu einem guten Teil auf die Mobilisierung junger Frauen zurückführen, für die die massenhaften feministischen Proteste gegen das fast vollständige Abtreibungsverbot 2020 einen entscheidenden Politisierungsmoment darstellten. Doch auch hier droht ein Zurück anstelle eines Vorwärts: Bereits vor der Regierungszeit der PiS besaß Polen eines der strengsten Abtreibungsgesetze Europas, das Schwangerschaftsabbrüche nur in Ausnahmefällen erlaubte. Pro-Choice-Aktivist*innen befürchten nun eine Rückkehr zum sogenannten Abtreibungskompromiss aus der Zeit vor der PiS-Regierung. Wie sehr sich konservative Kräfte in der künftigen Regierung gegen eine wirkliche Liberalisierung und Entkriminalisierung von Abtreibungen sträuben werden, zeigte sich schon unmittelbar nach der Wahl. Der streng katholische Ko-Vorsitzende des Dritten Wegs Władysław Kosiniak-Kamysz schloss eine Aufnahme »weltanschaulicher« Themen wie der Regelung von Abtreibungen in den Koalitionsvertrag sogleich kategorisch aus.
Dass die konzertierte Hasspropaganda von Regierung, staatlichen Medien und Kirche nach den Wahlen vermutlich keine Fortsetzung finden wird, bedeutet für viele Menschen aus dem LGBTQ+ Spektrum in Polen eine große Erleichterung. Auch dass die von der Zentralregierung eingesetzten Schulaufsichtsbehörden nicht mehr dem homofeindlichen Bildungsminister Przemysław Czarnek unterstellt sind, ist für die Antidiskriminierungs- und Aufklärungsarbeit an den Schulen eine gute Nachricht. Ob aber auf der rechtlichen Ebene in absehbarer Zeit wenigstens das Minimalziel der eingetragenen Partnerschaft – immerhin ein Wahlversprechen der Bürgerkoalition – umgesetzt wird, ist angesichts der starken katholisch-konservativen Prägung der neuen Regierungsformation und dezidiert queerfeindlichen Abgeordneten wie Roman Giertych ungewiss.
Es ist zu befürchten, dass dem konservativen Teil der neuen Regierung die Veto-Macht des reaktionären Präsidenten Duda durchaus gelegen kommt, um weitergehende Liberalisierungen auf gesellschaftspolitischen Feldern wie dem Abtreibungsrecht oder der Gleichstellung von nicht-heteronormativen Beziehungsformen auszubremsen. Mit dem Verweis auf das präsidentielle Zustimmungserfordernis lassen sich progressive Anliegen entschärfen oder ganz ausklammern.
Verpasste Wende in der Abschottungspolitik
PiS steht für einen aggressiven Nationalismus und die Vorstellung von Polen als Bastion des weißen christlichen Abendlandes. Doch den Anspruch auf die Rolle des Wächters der polnischen Nation gegen angebliche Bedrohungen erhebt PiS nicht allein. Das zeigte sich im von flüchtlingsfeindlichen Tönen dominierten Wahlkampf, der streckenweise einem rassistischen Überbietungswettbewerb zwischen PiS und der Opposition glich. Donald Tusk selbst machte der PiS-Regierung die hohen Zuwanderungszahlen aus muslimisch geprägten Ländern zum Vorwurf und sprach von einer Gefahr für die Sicherheit des Landes. Die Spitzenvertreterin der Linken forderte in der finalen TV-Debatte eine Obergrenze für Zuwanderung als Teil einer »vernünftigen« Migrationspolitik. Wer also darauf hofft, dass sich mit der neuen polnischen Regierung an der Praxis der Pushbacks an der polnisch-belarusischen EU-Außengrenze Wesentliches ändern wird, könnte enttäuscht werden. Die brutale Abschottungspolitik im Zeichen der Festung Europa wird auch ohne PiS fortgesetzt werden – nun unter liberal-demokratischem Vorzeichen.
Die Abwahl der PiS-Regierung bietet in Polen die Chance zur gesellschaftlichen Öffnung und fortgesetzten Säkularisierung, vor allem aber zum Wiederaufbau eines liberal-rechtsstaalichen Rahmens. Wie das Bündnis aus Rechtskonservativen, Neo- und Linksliberalen diesen Rahmen füllen wird, bleibt abzuwarten.