Patt-Situation in der AfD
Auf dem Parteitag von Kalkar konnte sich weder das Meuthen-Lager noch der völkische Flügel durchsetzen
Eigentlich muss man Jörg Meuthen dankbar sein, denn die AfD macht auch nach dem Parteitag im nordrhein-westfälischen Kalkar weiterhin mit Grabenkämpfen Schlagzeilen. Ursprünglich wollte die AfD von Kalkar ein Signal der Geschlossenheit aussenden: Vorgesehen war, dass die AfD mitten in der Pandemie ein sozialpolitisches Programm entwickelt, um sich damit als sachorientiert und zupackend zu präsentieren. Dass das verabschiedete Konzept am Ende kaum jemanden interessierte, ist auf Meuthens Rede zu Beginn des Parteitags zurückzuführen, in der er die völkische Strömung frontal angriff. Die Partei werde »nicht mehr Erfolg erzielen, indem wir immer aggressiver, immer derber, immer enthemmter auftreten«. Er polemisierte gegen einen rückwärtsgewandten Konservativismus von Leuten, die Bismarck »geradezu schwärmerisch« verehrten. Bismarck-Groupie Gauland sah nicht besonders glücklich aus.
Meuthens Kehrtwende
Meuthens Inszenierung als »gemäßigter« und realpolitischer Vorkämpfer ist weniger inhaltlich als strategisch begründet, schließlich hatte er jahrelang gemeinsame Sache mit Höcke und Gauland gemacht – etwa um seine einstige Rivalin Frauke Petry abzuschießen. Er hielt auf Parteitagen und beim Kyffhäuser-Treffen des völkischen »Flügels« stramm rechte Reden. Wenn Höcke oder Kalbitz in der Kritik standen, stellte er sich über Jahre hinweg schützend vor sie.
Das Bündnis mit den Völkischen kündigte Meuthen endgültig im März 2020 auf, als er die formale Auflösung des Flügels veranlasste, die dieser zähneknirschend akzeptierte. Kurz danach ging Meuthen einen Schritt weiter und schmiss mit Andreas Kalbitz den wichtigsten Strippenzieher der Völkischen aus der Partei.
Meuthens Kehrtwende hat zwei Gründe: Er möchte die komplette Beobachtung durch den Inlandsgeheimdienst verhindern, denn momentan werden nur Teile der Partei beobachtet. Eine komplette Überwachung wird wesentlich davon abhängen, wie stark der Einfluss der Völkischen auf die gesamte Partei aus Sicht des Verfassungsschutzes ist. Meuthen geht es aber auch um eine strategische Mäßigung der AfD, um eines Tages am Tisch der Großen sitzen zu dürfen – vielleicht fällt ja dann auch mal ein Posten als Wirtschaftsminister für ihn ab.
Völkische verlieren an Einfluss
Meuthen ist seit 2015 einer von zwei Vorsitzenden und weiß deshalb gut um die Gefahr, im Kampf gegen den Flügel unterzugehen. Er beerbte einst Bernd Lucke als Co-Chef und war dann mit Gauland und Höcke wesentlich daran beteiligt, Frauke Petry aus der Partei zu werfen. Die Voraussetzungen des Meuthen-Lagers im Kampf gegen die Völkischen sind nun besser. Das zeigte sich in Kalkar: Bei den Nachwahlen für das Bundesschiedsgericht und den Bundesvorstand konnten sich jeweils Kandidat*innen aus dem Meuthen-Lager durchsetzen. Aus einer knappen Mehrheit für das Meuthen-Lager im Bundesvorstand ist nun eine bequeme Zwei-Drittel-Mehrheit geworden.
Am auffälligsten war die Wahl des durch Kalbitz‘ Rausschmiss freigewordenen Sitzes im Bundesvorstand. Der ehemalige Chef der Brandenburger AfD war noch vor einem Jahr mit gut 50 Prozent gewählt worden, obwohl damals schon bekannt war, dass er jahrzehntelang im extrem rechten bis neonazistischen Milieu unterwegs war. Maximilian Krah, der an Kalbitz Stelle rücken wollte, hat da eine unverfänglichere Vergangenheit: Er entstammt aus dem betulich-konservativen Bürgertum Dresdens, was ihn nicht davon abhielt, in Kalkar als Kandidat der Völkischen ins Rennen zu gehen. Trotzdem reichte es nur für 44,4 Prozent gegen seine Kontrahentin Joana Cotar, die den Delegierten vor allem bekannt gewesen sein dürfte, weil sie Mitte 2019 zu den wenigen Bundestagsabgeordneten gezählt hatte, die den »Appell der 100« gegen Höcke und den Flügel unterzeichnet hatte. Die Initiative kam damals auch bei Nicht-Flügel-Leuten nicht besonders gut an. Vor diesem Hintergrund ist Cotars doch relativ klarer Sieg gegen Krah überraschend – und ein starkes Indiz für den Bedeutungsverlust der Völkischen.
Aber auch Meuthens Stellung ist schlecht wie nie. In Kalkar konnte ein Antrag nur knapp verhindert werden, der seine Rede offiziell missbilligt. Nach fast zweistündiger heftiger Debatte sprachen sich schließlich 53 Prozent dafür aus, über den Antrag nicht abzustimmen. Bereits im Vorfeld hatte Meuthen angekündigt, nicht bei der Bundestagswahl antreten zu wollen. Er bleibt damit erst einmal Abgeordneter in Brüssel.
Nach Kalkar sind die Mehrheitsverhältnisse in der AfD uneindeutig. Zum einen sind die Lager nicht klar in ideologische Kategorien einzuordnen. Die neoliberale Alice Weidel hat inhaltlich starke Überschneidungen mit Meuthen, kann aber sehr gut mit dem völkischen Flügel und hat sich vor ein paar Monaten dagegen ausgesprochen, Kalbitz aus der Partei zu werfen. Und auch im völkischen Lager gibt es Vertreter, die sich eher mit einem marktradikalen Kurs der Gegenseite anfreunden könnten. Vor allem aber gibt es neben jenen, die felsenfest hinter Meuthen stehen, und jenen, die sich mehr oder weniger dem aufgelösten Flügel zugehörig fühlen, eine große Gruppe dazwischen, die sich nicht eindeutig verorten lassen und um deren Stimmen beide Lager buhlen. Weder die Völkischen noch das Meuthen-Lager haben eine Mehrheit hinter sich. Das Fehlen einer führenden Gruppe lähmt die Rechten. Der aktuelle, sich seit Monaten hinziehende Streit ist Ausdruck einer organischen Krise der AfD, weil es bei diesem nicht nur um Personalfragen geht, sondern sich darin der Konflikt zwischen sich bürgerlich gebenden Parlamentsorientierten und Bewegungsorientierten spiegelt. Ein Widerspruch, der die AfD seit Jahren prägt. (ak 631)
Familialismus als größter gemeinsamer Nenner
Dabei läuft es auf einer inhaltlich-ideologischen Ebene für das rechte Projekt gar nicht so schlecht. Das sozialpolitische Konzept bekam in Kalkar fast 90 Prozent, obwohl sich weder die Völkischen noch die Neoliberalen durchsetzen konnten. Der Leitantrag ist dabei mehr als ein Kompromiss; es deutet sich in dieser Frage eine Verschmelzung der Strömungen an. Der Politikwissenschaftler Tobias Kaphegyi erkennt in dem Leitantrag eine Synthese aus ordoliberalen und völkischen Positionen. (1)
Der größte gemeinsame Nenner der Lager ist der Familialismus, eine Ideologie, in der die bürgerliche Kleinfamilie Kernstück der Gesellschaft ist, eine Keimzelle für Nation – und für den Sozialstaat. Der Historiker Helmut Kellershohn schreibt mit Blick auf Kalkar: »Familienpolitik ist ein verbindendes Element zwischen den ideologischen Strömungen der AfD: Die Ordoliberalen sehen die Familie als gemeinschaftsstiftenden Gegenhalt gegen die kalten Mechanismen der Marktwirtschaft; die Christlich-Konservativen betrachten die Familie als biblisch oder zivilreligiös begründete Institution; und für die Völkischen ist die Familie Garant des Ethnos als Abstammungs- und Zeugungsgemeinschaft.« (2)
Nach dem Parteitag zog sich Meuthen erst einmal für ein paar Tage zurück. Seine Gegner, allen voran Alexander Gauland und Björn Höcke, kritisierten ihren Parteichef scharf. Gauland, immerhin Ehrenvorsitzender der AfD, sagte am 5. Dezember beim Landesparteitag der AfD Niedersachsen in Braunschweig: »Ton, Zeitpunkt und Inhalt dieser Rede waren eines Vorsitzenden nicht würdig«.
Am selben Tag hielt Höcke 100 Kilometer südwestlich im nordrhein-westfälischen Höxter ebenfalls eine Rede. Darin betonte er in deutlicher Abgrenzung zu Meuthen die Einheit der Partei. Tatsächlich ist es vor allem das völkische Lager, das sich für Pluralismus in der AfD starkmacht – wohlwissend, dass eine reine Flügel-Partei sowohl an Wählerstimmen als auch an politischem Einfluss verlieren würde. Um größtmögliche gesellschaftliche Resonanz zu erzeugen, ist für das Flügel-Milieu eine gesamtrechte AfD die beste Option. Das langfristige Ziel der Völkischen: eindeutig führende Kraft der rechten Sammlungspartei zu werden. Mittelfristig geht es für die Völkischen aber erst einmal darum, nicht noch mehr an Einfluss zu verlieren, also Meuthen an der Spitze der Partei loszuwerden. Deshalb läuft die Suche nach einem alternativen Kandidaten für die nächste Parteichef-Wahl gerade auf Hochtouren.
Die Völkischen suchen nach einem Meuthen-Ersatz
Rüdiger Lucassen könnte ein solcher Kandidat sein. Der Chef der AfD in Nordrhein-Westfalen sprach in Höxter direkt vor Höcke. Er mahnte ähnlich wie Meuthen Disziplin an, empfahl sich aber zwischen den Zeilen für höhere Aufgaben. Am Ende seiner Rede betonte er die geleistete Aufbauarbeit in seinem zerstrittenen Landesverband. Diese zeuge von einer funktionierenden Parteiarbeit. Jetzt wolle er mit der AfD den nächsten Schritt gehen, um sie »so zu positionieren und so zu festigen, dass wir für den Tag X bereitstehen«. Das dürften in Höxter nicht nur Höcke, sondern auch die anwesenden Oliver Kirchner, Flügel-Mann und Fraktionschef der AfD in Sachsen-Anhalt, sowie der kürzlich ausgeschlossene Bundestagsabgeordnete Frank Pasemann zur Kenntnis genommen haben. Höcke wich in seiner Rede mehrmals vom Manuskript ab, um sich auf Lucassen zu beziehen, den er demonstrativ beim Vornamen nannte. Nach der Rede gab es einen Handschlag.
Anmerkungen:
1) Tobias Kaphegyi: Verändert sich die sozialpolitische Programmatik der AfD? Und in welche Richtung? Rechts.Populismus.Blog
2) Helmut Kellershohn: Kommentar zum AfD-»Sozialparteitag«. DISSkursiv-Blog