Palästina, Israel und darüber hinaus
Verbinden sich die Kriege im Nahen Osten und in Westasien zu einem Großkonflikt? Dynamiken der regionalen Eskalation seit dem 7. Oktober
Von Axel Gehring
Als die Führung der Hamas ihre große Terrorattacke auf Israel plante, hatten eine Reihe von Regierungen in der Region ihre Beziehungen mit Israel normalisiert und diplomatische Beziehungen aufgenommen, zum Beispiel die Vereinigten Arabischen Emirate im Jahr 2020. Und immer deutlicher zeichnete sich ab, dass der laufende Normalisierungsprozess zwischen Saudi-Arabien und Israel ebenfalls kodifiziert würde. Die Hamas wusste dabei aus vorangegangenen Nahostkriegen, dass diese laufende Normalisierungsprozesse zwischen arabischen Staaten und Israel stoppen, zuweilen gar revidieren können.
Dennoch kann die Hamas den 7. Oktober nicht als Erfolg für sich verbuchen, denn die Reaktion der israelischen Regierung fiel unerwartet deutlich aus. Statt auf eine Sequenz von Militärschlägen setzt Israel auf die militärische Vernichtung der Hamas in einer großen Kampagne und ist dabei weit fortgeschritten. Dafür aber gefährdet Israel durch seine Kriegführung im urbanen Raum weitere Zehntausende Zivilist*innen in Gaza. Den Tatbestand des Genozids erfüllt dieses in Kauf nehmende Vorgehen, mangels Intention, jedoch nicht. Die Klageerhebung Südafrikas gegen Israel hat auch der palästinensischen Zivilbevölkerung nur bedingt geholfen, denn einerseits erlaubt das im Eilverfahren ausgesprochene Urteil des Internationalen Strafgerichtshofes die Weiterführung der Militäroffensive unter relativ begrenzten Auflagen.
Zudem erscheint in den Öffentlichkeiten zahlreicher Staaten, nicht nur in der Region, die Hamas in verheerender Weise als jene Kraft, die durch militärischen Widerstand einen »Völkermord« zu verhindern vermag. Dies ist selbst für die Hamas ein Problem, denn sie sucht aufgrund ihrer klaren Unterlegenheit nach Möglichkeiten unter Wahrung ihres Gesichts aus den Kampfhandlungen auszusteigen. Vor allem aber gibt es zahlreichen Gruppen in der Region einen scheinbaren Grund, sich in Verfolgung ihrer eigenen Interessen militärisch in den Konflikt einzuschalten. Und insgesamt konnten in dieser diskursiven Konstellation jene Stimmen, die beide Seiten zum Einstellen ihrer Kampfhandlungen auffordern, relativ erfolgreich marginalisiert werden.
Katalysator für weitere Konflikte
Solange der Krieg zwischen der Hamas und Israel andauert, ist er Katalysator für eine Reihe von anderen Konflikten, die mehr oder minder mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt verbunden sind, und sei es nur symbolisch-diskursiv. Ihre politische Stellung im Libanon rechtfertigt die Hisbollah ideologisch nicht zuletzt über ihr negatives Verhältnis zu Israel; jedoch basiert ihre soziale Macht darauf, dass sie ihren Anhänger*innen eine Form von kommunitaristischem Netz bietet, das ihnen hilft, die Unsicherheiten des Alltags zu bewältigen. Ein großskaliger Angriff auf Israel würde die Hisbollah in eine ähnliche Lage bringen wie die Hamas. Es bleibt bisher bei Grenzscharmützeln. Deren Eskalation zu einem neuen Libanonkrieg ist von keiner Seite wirklich gewollt, kann aber nicht ausgeschlossen werden.
Während die Hamas und die Hisbollah schon als traditionelle Verbündete Irans gelten, haben sich insbesondere in den gut zwei Jahrzehnten seit der US-geführten Irak-Invasion dort in den Postkriegswirren eine Reihe schiitischer Milizen formiert; mehr oder minder verdeckt operieren auch die iranischen Revolutionsgarden. Im syrischen Bürgerkrieg kämpfen schiitische Milizen, schiitische Söldner aus Irak und auch die iranischen Revolutionsgarden an der Seite der Zentralregierung in Damaskus. Sowohl in Irak also auch in Syrien sind dabei noch immer US-Truppen stationiert. Bündnisartige Beziehungen unterhalten sie sowohl zur Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien, also Rojava, als auch zur Autonomen Region Kurdistan in Nordirak. Einer ihrer Logistikbasen in Jordanien galt jüngst ein Angriff schiitischer Milizen. Die USA bombardierten in der Folge Ziele militant schiitischer Kräfte in Syrien und Irak. Während Iran direkte Angriffe auf Israel meidet, haben auch die USA und Israel, abgesehen von Cyberattacken und Geheimdienstaktionen, direkte Angriffe auf iranisches Territorium vermieden – selbst unter Trump.
Den wohl unmittelbarsten Link zur Weltordnung bilden derzeit die Huthi-Milizen. Während des Bürgerkriegs im Jemen griffen sie mit weitreichenden Waffen aus iranischer Produktion die Interventionsmacht Saudi-Arabien an. Aufgrund des Waffenstillstands infolge des Friedensprozesses, der nicht zuletzt durch die saudisch-iranische Verständigung vom Frühjahr 2023 ermöglicht wurde, können die Huthis nun ihre militärischen Potenziale für Angriffe auf den internationalen Seeverkehr und auf Israel nutzen. Während Saudi-Arabien de facto aktiv an Israels Luftverteidigung teilnimmt, denn die Flugkörper passieren saudischen Luftraum, finden eine Reihe von westlichen Luftschlägen auf Huthi-Stellungen im Jemen statt. Deren Ziel ist weniger ein regionalpolitisches als vielmehr die Sicherung stofflicher Ströme des kapitalistischen Weltmarktes insgesamt.
Risiko einer nuklearen Eskalation?
Es ist nicht ganz klar, welchen Einfluss Iran auf die Huthis nahm, ihre Angriffe durchzuführen. Doch ist es offenkundig, dass Iran außer Symbolik diesen Angriffen nichts entgegensetzt. Die militärischen Auseinandersetzungen zwischen Iran und den westlichen Staaten finden also weiterhin exterritorial in jenen Gebieten der Region statt, in denen westliche Expeditionstruppen, iran-nahe Milizen oder dessen Revolutionsgarden operieren. Die Frage ist, ob dies so bleibt.
Eine direkte militärische Eskalation zwischen Iran und Israel oder Iran und den USA wäre mit dem Risiko der nuklearen Eskalation verbunden, denn die Informationen über den Stand des iranischen Atomprogramms sind nicht hinreichend. Seit der Einführung der Nuklearwaffen während des beginnenden Kalten Krieges waren direkte Schlagabtausche zwischen konkurrierenden nuklear bewaffneten Mächten unwahrscheinlicher geworden. Neben ökonomischer und kultureller Konkurrenz gehörten zum Austragungsmodus des Kalten Krieges eine Reihe von lokalen Kriegen, die zu globalen Stellvertreterkriegen aufgeladen wurden, aber örtlich isoliert blieben. Die direkte Konfrontation zwischen den Führungsmächten beider Lager wurde durch eine Reihe von Verhandlungsformaten eingehegt.
Den unmittelbarsten Link zur Weltordnung bilden derzeit die Huthi-Milizen.
Doch im Gegensatz zum damaligen Weltkonflikt besteht die heutige Sorge, dass sich die gegenwärtigen Kriege in der Region Nahost/Westasien noch mehr als ohnehin zu einem großen Krieg verbinden. Denn heute finden die Konflikte im Nahen Osten bzw. in Westasien nicht mehr unter den Bedingungen der Biopolarität des Kalten Krieges, aber auch nicht mehr unter denen der Post-1990-US-Hegemonie statt – Bedingungen also, die selbst große Kriege örtlich mehr oder minder isolieren konnten. Die Konturen der neuen Weltordnung befinden sich momentan noch im Prozess der umkämpften Aushandlung, dabei ist für die Akteure noch nicht vollkommen absehbar, ob die gegenwärtige Multipolarität von Dauer sein wird oder ein Übergangsstadium hin von der US-Hegemonie zu einer Hegemonie Chinas oder in eine Bipolarität markiert.
Stabilisierung entlang der eigenen Interessen
Da die Regionalpolitik Irans zu unüberbrückbaren Interessensdifferenzen mit den meisten westlichen Staaten führte, sieht sich Iran seit Jahrzehnten mit einem scharfen Sanktionsregime konfrontiert. Auch um dieses zu umgehen und zugleich seine Regionalpolitik weiterverfolgen zu können, hat sich Iran in den letzten Jahren außenpolitisch und ökonomisch deutlich nach Asien orientiert. Im Frühjahr 2023 kam unter chinesischer Vermittlung eine saudisch-iranische Einigung zustande, die unter anderem die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen umfasst.
Nicht nur die USA, sondern auch China möchte die Region entlang seiner Interessen stabilisieren. Gewisse Schnittmengen sind dabei nicht zu übersehen: Weder dürfen Handelsrouten dauerhaft angegriffen, noch dürfen Rohstoffexporte gefährdet werden. Dabei ist übrigens zweitranging, ob die beiden Staaten an sich auf Rohstoffe angewiesen sind: Hegemonialmächte von Weltrang bemühen sich um die Stabilisierung der globalen Bedingungen der Kapitalakkumulation. Die Zurückhaltung der chinesischen Realpolitik mit substanzieller Kritik an den westlich geführten Luftschlägen gegen die Huthi-Miliz im Jemen überrascht daher nicht.
Dass heute externe Akteure ihren Einfluss zur Einhegung des Konfliktes schwerer geltend machen können als früher ist nicht nur auf die gegenwärtige Multipolarisierung der Region infolge einer brüchigen Welthegemonie zurückzuführen, sondern speist sich auch wesentlich aus den inneren gesellschaftlichen Verhältnissen der Staaten der Region. Der identitär-nationalistische Kitt, der in den verschiedenen Staaten die jeweiligen Hegemonieprojekte zusammenhält, hat nicht nur eine kulturalistische, sondern auch eine religiöse Begründung. Zur Erhaltung ihrer inneren Legitimation sehen sich die herrschenden Kräfte der Region daher dazu gezwungen, sich auf den religiös-kulturell aufgeladenen Nahostkonflikt zu beziehen.
Letzterer ermöglicht es den an sich eigentlich exkludierend-kommunitaristischen Hegemonieprojekten, die Islamismus und Konservatismus in ihrem Kern darstellen, einen internationalistischen Touch zu geben und sich im Namen innenpolitischer Herrschaftssicherung als Stimmen der Subalternen zu gerieren. Ohne eine Überwindung der innergesellschaftlichen Kommunitarismen, die Solidarität exklusiv verstehen, mystisch begründen und dabei Verhältnisse der Unterordnung konservieren, ist in der Region Emanzipation beständig gefährdet und Frieden nicht absehbar. Und dies gilt im Übrigen auch für Israel und den dort herrschenden Kommunitarismus, der sich auf dem Rücken der Bevölkerung Palästinas artikuliert.