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»Wir hätten längst eine Lösung finden können«

Nama- und Ovaherero-Organisationen lehnen das neue deutsch-namibische Abkommen zum Genozid ab, sagt Johannes Maboss Ortmann

Interview: Paul Dziedzic

Foto eines Demonstrationszuges. In der erste Reihe ein Plakat mit dem Text "It cannot be abot us without us. Anything about us without us is against us"
»Nicht über uns ohne uns«, seit bald zwei Jahrzehnten fordern Nama- und Ovaherero Organisationen Verhandlungen, an denen sie beteiligt sind. Foto: Joachim Zeller / Berlin Postkolonial / Flickr, CC BY-ND 2.0

Im Dezember 2024 verkündete die namibische Regierung plötzlich, dass sie die Verhandlungen mit der deutschen Bundesregierung über den von Deutschland zwischen 1904 und 1908 begangenen Völkermord an den Nama und Ovaherero abgeschlossen habe. Über ein Jahrzehnt wurde hinter verschlossenen Türen verhandelt, doch die Organisationen der betroffenen Gemeinschaften kritisieren das Abkommen, sagt Johannes Maboss Ortmann von der Nama Traditional Leaders Association (NTLA).

Nama und Ovaherero haben auf die Verhandlungen gedrängt, die nun schon seit einem Jahrzehnt laufen. Welchen Beitrag haben die betroffenen Gemeinschaften geleistet?

Johannes Maboss Ortmann: In den letzten zehn Jahren hat die NTLA zusammen mit der Ovaherero Traditional Authority (OTA), die fast 90 Prozent der Ovaherero vertritt, konsequent auf Verhandlungen über den Völkermord hingearbeitet. Es begann mit einem Antrag, der 2006 gemeinsam von OTA und NTLA im Parlament eingebracht wurde. Der Antrag beruhte auf vier Säulen: Erstens, dass die namibische Regierung direkte Verhandlungen zwischen den Nama und Ovaherero und der deutschen Bundesregierung über den Völkermord ermöglicht. Zweitens, dass Deutschland den Genozid anerkennt. Drittens, eine bedingungslose Entschuldigung und viertens Reparationszahlungen. Es ist einer der wenigen Anträge, der von allen anwesenden Abgeordneten einstimmig angenommen wurde.

Doch 2015 nahm die Regierung bilaterale Verhandlungen auf und sah sich als alleinige Vertreterin des namibischen Volkes. Die deutsche Seite hat das einfach akzeptiert. Die Führung der Nama- und Ovaherero war immer der Meinung, dass die betroffenen Gemeinschaften direkt mit Deutschland verhandeln sollten. Sie wurden lediglich dazu eingeladen, an einem Beratungsausschuss teilzunehmen. Das haben die Vertreter*innen aber von Anfang an abgelehnt. Dann hat die namibische Regierung einfach ohne sie weitergemacht.

Johannes Maboss Ortmann

ist Mitglied des Fachausschusses für internationale Angelegenheiten und Wiedergutmachung des Völkermordes für die Nama Traditional Leaders Association (NTLA). Die NTLA besteht aus den zehn anerkannten traditionellen Autoritäten der Nama, die mehr als 90 Prozent der Nama in Namibia vertreten.

Der erste Entwurf des Übereinkommens wurde 2021 vorgelegt…

Und wurde vielfach kritisiert. Denn von Reparationen war zunächst nicht die Rede. Stattdessen bot die deutsche Regierung 1,1 Milliarden Euro für einen Entwicklungsfonds an, aus dem Projekte in den Regionen Namibias finanziert werden sollten, in denen die betroffenen Gemeinschaften lebten. Von den Nama und Ovaherero, die aus ihren Ländern vertrieben wurden und heute in der Diaspora in Botswana, Südafrika und sogar in Großbritannien, Kanada und den USA leben, war keine Rede. Zweitens erklärte die deutsche Regierung, sie werde den Völkermord »aus heutiger Sicht« anerkennen – angeblich, weil die UN-Völkermordkonvention erst 1948 verabschiedet wurde – und sich dafür entschuldigen. Drittens verpflichtete sich die Bundesregierung dazu, die Reparationen über einen Zeitraum von 30 Jahren zu leisten. Als der Entwurf in das Parlament eingebracht wurde, kam es zu Protesten, weshalb beide Regierungen Verhandlungen über ein sogenanntes Addendum (Nachtrag, Anm. d. Red.) aufnahmen.

Welche Änderungen gibt es nun im Addendum?

Jetzt heißt es, dass die Mittel nicht auf eine Milliarde Euro begrenzt sind: Wenn der Betrag ausgeschöpft ist, wird man neu bewerten, wie viel benötigt wird. Zweitens wird das Geld nicht in die namibische Staatskasse fließen. Es wird einer sogenannten Zweckgesellschaft zugewiesen. Auf dieser Grundlage werden die Mittel an Projekte in den Regionen verteilt und im Namen der betroffenen Gemeinschaften verwendet, wobei die Regionalregierung und die Vertretungen der traditionellen Autoritäten einbezogen werden. Außerdem wurde uns mitgeteilt, dass die Formulierung »Völkermord aus heutiger Sicht« gestrichen wurde und eine Anerkennung und Entschuldigung für den Völkermord geplant ist. Und wir haben gehört, dass es sich nicht mehr um einen Entwicklungsfonds, sondern um einen Wiedergutmachungsfonds handelt, dessen Mittel nicht mehr über einen Zeitraum von 30, sondern von 20 Jahren bereitgestellt werden sollen. Dann ist da noch die Rückgabe von menschlichen Überresten und gestohlenen Artefakten. Das namibische Kabinett hat offenbar zugestimmt. Daraufhin hat die Regierung die namibische Bevölkerung darüber informiert, dass die Verhandlungen abgeschlossen sind. Das Abkommen soll noch vor März unterzeichnet werden.

Die NTLA und die OTA vertreten die Linie »Nichts über uns ohne uns«.

Wie haben die betroffenen Gemeinschaften reagiert?

Wenn die namibische Regierung von betroffenen Gemeinschaften spricht, meint sie nicht nur die Nama und Ovaherero, sondern auch die Damara und die San, auf die sich der Völkermord auch ausgewirkt hat. Am 19. Dezember 2023 fand ein Treffen statt, bei dem die Anführer*innen der Gemeinschaften über das fertiggestellte Dokument informiert wurden. Die NTLA und die OTA vertreten die Linie »Nichts über uns ohne uns« und boykottierten die Veranstaltung. Sie erkennen das Addendum nicht an, da sie nicht an den Verhandlungen teilgenommen haben. Die NTLA hat gehört, dass einige der Damara-Leader bei den Treffen gemerkt haben, dass sie ausgenutzt werden, um die Vereinbarung zu legitimieren, da hat sich eine Unzufriedenheit breitgemacht. Es kann also sein, dass auch sie künftig die stringente und konsequente Haltung von OTA und NTLA unterstützen.

An anderer Stelle wurde kritisiert, dass die Verhandlungen hastig verliefen. Woran lag das?

Offenbar drängte die namibische Seite auf ein Ende der Verhandlungen, weil die deutsche Regierung zusammengebrochen ist und sie Angst hatten, dass die Rechten danach in Deutschland das Sagen haben. Das Thema »Deutscher Genozid« wird diese Leute wohl kaum interessieren. Wir wiederum sagen, dass die namibische Regierung viel Zeit verschwendet hat. Hätte man uns vor zehn Jahren einbezogen, hätten wir schon längst eine Lösung finden können. Unabhängig davon, wie sich die politische Landschaft verändert, sagen die Nama- und Ovaherero-Leader: »Wir stehen zu unseren Prinzipien.« Sie werden ihr Streben nach Gerechtigkeit, Freiheit und für die Zahlung von Reparationen fortsetzen – ob es in diesem Leben geschieht oder im nächsten.

Warum lehnen die Nama und Ovaherero den Nachtrag ebenfalls ab?

Wiedergutmachung ist ein ganzheitliches Konzept. Die Menschen haben ihr Land und ihr Zuhause verloren. Heute sind sie arm, sind geflüchtet oder wurden zu Saisonarbeiter*innen in der Landwirtschaft. Sie haben Land verloren, das sie bewirtschaften konnten. Wir müssen uns überlegen, wie wir das wiederherstellen können. Die deutsche Regierung kann nicht einfach ankommen, etwas einen Wiedergutmachungsfonds nennen und dann Straßen und Kliniken bauen. Das sind ganz normale Entwicklungsprojekte, die der namibische Staat sowieso hätte umsetzen müssen.

Bei Wiedergutmachung geht es nicht um Projekte, sondern um Regeneration und Heilung.

Aber bei der Wiedergutmachung geht es nicht einfach nur um Projekte oder die Rückgabe von Artefakten, sondern um die Regeneration und Heilung der Völker, gegen die ein deutscher Vernichtungsbefehl ergangen ist. Das namibische Land wurde von den Kolonisatoren und später vom südafrikanischen Apartheidregime gestohlen. Heute sind diese Ländereien, vor allem im Süden, private Farmen. Da die Eigentumsrechtsklausel in der namibischen Verfassung die Eigentümer dieser Farmen schützt, kann die Regierung keine angemessene Umsiedlung vornehmen und nicht einfach sagen, sie würde zum Beispiel mit einer Milliarde Euro das gestohlene Land zurückkaufen, schon gar nicht auf Grundlage der namibischen Landreformpolitik. Unser Land müsste so für das Vielfache zurückgekauft werden.

Gibt es noch Wege, diesen Deal rückgängig zu machen?

Die Nama und Ovaherero sind eine Minderheit innerhalb der namibischen Demokratie. Daher können wir uns allein aufgrund der Zahlen, die eine direkte Folge des Völkermordes sind, im politischen Prozess kein Gehör verschaffen. Heute sind wir weniger als 200.000 Menschen, ohne den Völkermord hätten wir 100.000 bis 200.000 mehr sein können.

 Wir haben mehrmals versucht, mit der namibischen Regierung zu sprechen, und zwar auf höchster Ebene. Die Nama-Vertreter*innen trafen sich mit dem Vizepräsidenten von Namibia (Nangolo Mbumba, Anm. d. Red.), der später Präsident wurde. Sie teilten ihm mit, was sie wollen. Er sagte, er würde mit dem damaligen und heute verstorbenen Präsidenten Dr. Hage Geingob sprechen, meldete sich aber nie zurück. Das haben sie sich getraut, weil sie uns als eine Minderheit betrachten, die, selbst wenn sie unzufrieden ist, keinen politischen Einfluss haben wird. Deshalb haben die Nama- und Ovaherero-Vertreter*innen die namibische Regierung verklagt, damit die gemeinsame Erklärung überprüft und annulliert wird. Außerdem prüfen wir, ob wir über namibische Gerichte den Internationalen Gerichtshof einschalten können.

Wenn eine Klage eingereicht wird, sollten normalerweise die laufenden Verhandlungen unterbrochen werden, bis das Gericht eine Entscheidung getroffen hat. Doch aus der Arroganz der Mächtigen machte die namibische Regierung weiter. Aber jetzt, wo sie das Addendum unterzeichnet hat, könnte das gut für das Gerichtsverfahren sein, da wir jetzt ein Dokument haben, das vor dem Obersten Gerichtshof angegriffen werden kann.

Was erhoffst du dir für die nächsten Jahre? Und wie siehst du die Rolle der Zivilgesellschaft in Namibia und in Deutschland?

Wir hoffen aufrichtig, dass sich die Einstellung bei der namibischen Regierung ändert, sie den Schrei der Nama und Ovaherero hört und die Verhandlungen neu aufsetzt oder so fortsetzt, dass die betroffenen Gemeinschaften an erster Stelle stehen. Die Zivilgesellschaft hat eine hervorragende Rolle gespielt. Viele positive Entwicklungen sind auf den zivilgesellschaftlichen Druck zurückzuführen. Sie muss also die namibische Regierung auch weiterhin auf Trab halten und sie in die richtige Richtung weisen. Auch die deutsche Zivilgesellschaft hat sich sehr für die Sache der Nama und Ovaherero eingesetzt, und wir werden weiter mit ihr zusammenarbeiten. Unabhängig davon, ob die deutsche Politik von rechts, links oder in der Mitte dominiert wird, gibt es eine menschliche und moralische Verpflichtung, die eingehalten werden muss.