Oury Jalloh wurde angezündet
Die Rekonstruktion des Falles durch einen britischen Sachverständigen zeigt, dass Brandbeschleuniger eingesetzt worden sein mussten
Von Christian Jakob
Dass der Sierra Leoner Oury Jalloh in einer Dessauer Polizeizelle verbrannte, ist im kommenden Januar 17 Jahre her. Der Name ist heute in der Öffentlichkeit untrennbar mit einem der größten Polizei- und Justizskandale der Nachkriegsgeschichte verbunden. Ohne die »Initiative in Gedenken Oury Jalloh« (IGOJ), eine kleine Gruppe antirassistischer Aktivist*innen, wäre das anders. Die Öffentlichkeit hätte nie erfahren, was geschehen ist – der Fall wäre nach kurzer Zeit in Vergessenheit geraten. Doch mit unfassbarer Hartnäckigkeit hat die IGOJ immer neue Fakten zutage gefördert. Zu den wichtigsten zählt eine detailgetreue Nachstellung der Zelle und des Brandes, die sie Anfang November der Öffentlichkeit präsentierte.
In einer aufwändigen Rekonstruktion hatte ein Team um den britischen Brandsachverständigen Iain Peck die Zelle Nummer 5 im Dessauer Polizeirevier nachgebaut. Um die Brandeigenschaften eines menschlichen Körpers zu simulieren, ließ Peck Schweinehaut und Schweinefleisch auf ein Plastikskelett nähen. Dem Dummy wurde die gleiche Kleidung angezogen, wie Jalloh sie am Tag seines Todes trug: eine schwarze Cordhose und ein weißes T-Shirt. Der Filmemacher Mario Pfeifer hat die Simulation in einem eindrucksvollen Film dokumentiert.
Sie zeigt, was lange bekannt, aber in der Form noch nie für Außenstehende nachvollziehbar war: Der an Händen und Füßen gefesselte Jalloh muss vor seinem Tod mit Brandbeschleuniger übergossen, also ermordet worden sein muss. Nur so, sagte Peck bei der Präsentation des Films in Berlin, sei der Grad der Verbrennung in der Zelle erklärbar.
Mit unfassbarer Hartnäckigkeit hat die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh immer neue Fakten zutage gefördert.
30 Minuten lang ließ Peck das Feuer lodern – genau so viel Zeit war 2005 zwischen dem Feueralarm und dem Eintreffen der Feuerwehr in der Zelle vergangen. Zuvor, und das ist wohl das Entscheidende, übergoss Peck die Matratze mit 2,5 Litern Benzin. »Wir wissen nicht, welcher Brandbeschleuniger beim realen Brand verwendet wurde, und wir können die genaue Menge nicht bestimmen«, sagte Peck. Klar sei aber, dass solcher zum Einsatz gekommen sein muss. »Das bloße Entzünden der Matratze oder der Kleidung würde niemals einen solchen Grad an Verkohlung nach sich ziehen.«
Die Initiative stellte Bilder vom ausgebrannten Zellennachbau neben das – aus bis heute ungeklärten Gründen abgebrochene – Tatortvideo der sachsen-anhaltischen Polizei. Nach Aussage Pecks entspricht der darauf zu erkennende Zustand der Zellwände, der Matratze sowie der Leiche Jallohs weitgehend jenem seiner Simulation: »Ich bin sehr zufrieden mit dem Grad an Übereinstimmung, den wir erzielen konnten.«
Ignorierte Brandgutachten und manipulierte Beweismittel
Die Staatsanwaltschaft hatte während mehrerer Gerichtsverfahren lange auf eine Brandsimulation verzichtet. 2013 beauftragte die Initiative deshalb einen ersten Brandgutachter. Der stellte bereits damals fest: So restlos verkohlt, wie Jallohs Leiche war, muss Brandbeschleuniger verwendet worden sein. Der Dessauer Oberstaatsanwalt Folker Bittmann sprach damals von »sehr ernsten, überraschenden und zum Teil erschreckenden Informationen«. Drei Jahre später, im August 2016, ließ die Staatsanwaltschaft einen Brandversuch am Institut für Brand- und Löschforschung im sächsischen Dippoldiswalde durchführen. Dessen Anordnung wich in einer Reihe von Punkten allerdings von den Bedingungen im Polizeirevier ab.
Bald darauf aber schreibt Bittmann in einem Aktenvermerk, er gehe davon aus, dass Jalloh bereits vor Ausbruch des Feuers »mindestens handlungsunfähig oder sogar schon tot« war. Vermutlich sei er mit Brandbeschleuniger besprüht und angezündet worden. Dies legten sechs Gutachter nahe, die Bittmann konsultierte.
Das Motiv könnte nach Auffassung Bittmanns gewesen sein, dass dem Asylbewerber zuvor zugefügte Verletzungen vertuscht werden sollten. Der Staatsanwalt benennt konkrete Verdächtige aus den Reihen der Dessauer Polizei. Die aber sind bis heute unbehelligt – der Fall wurde Bittmann entzogen, alle Verfahren wurden eingestellt. Die Justiz geht offiziell davon aus, dass Jalloh sich selbst mit einem Feuerzeug anzündete, das bei seiner Durchsuchung übersehen worden war.
»Die Einstellung des Verfahrens ist in keinem Punkt nachvollziehbar«, sagte Nadine Saeed von der Initiative. »Alle Sachverständigen kamen aus wissenschaftlicher Sicht immer zum gleichen Ergebnis: dass ausgeschlossen ist, dass er sich selbst angezündet hat.«
Da gibt es eine eindeutige Spurenlage am angeblich von Jalloh selbst benutzten und angeblich in der Zelle sicher gestellten Feuerzeug. An diesem haftete nicht seine DNA, sondern die von jemand anderem sowie Faserreste, die weder von seiner Kleidung noch von der Matratze in der Zelle stammen. Peck hatte deshalb bereits in einem Gutachten im Jahr 2015 ausgeschlossen, dass dieses Feuerzeug tatsächlich im Brandschutt der Zelle 5 gelegen haben kann. Der vorgeführte Feuerzeugrest wurde auch nicht am Tatort gefunden, sondern erst drei Tage später auf eine Asservatenliste hinzugefügt. »Es handelt sich demnach eindeutig um ein manipuliertes Beweismittel«, schreibt die Initiative.
Das Ergebnis ihres des neuen Brandgutachtens stehe zudem in Einklang mit den Ergebnissen eines unabhängigen radiologischen Gutachtens von Dr. Boris Bodelle aus dem Jahr 2019. Dieses belegt, dass Oury Jalloh vor seinem Tod ein Nasen- bzw. Schädelbruch sowie offensichtlich mehrere Rippenbrüche zugefügt worden waren. Das Ergebnis steht ebenfalls in Einklang mit allen toxikologischen Befunden – dem Fehlen von Noradrenalin im Urin und von Kohlenmonoxid im Herzblut. Diese lassen darauf schließen, dass Jalloh zum Zeitpunkt der Brandlegung entweder bewusstlos oder bereits tot war.
Die Behauptung der Politik, der Fall könne heute nicht mehr aufgeklärt werden, sei »falsch«, sagt daher Saeed. Und die Täter seien namentlich bekannt.
Untersuchungsausschuss wurde verhindert
Vor kurzem hatte die neue Koalition aus CDU, SPD und FDP in Magdeburg einen Untersuchungsausschuss zu Oury Jalloh abgelehnt. 2020 wollte die SPD diesen Ausschuss noch, nach der Wahl plötzlich nicht mehr. Nun wird keinen U-Ausschuss geben, denn für einen solchen reichen die Stimmen von Linkspartei und Grünen nicht. Die SPD rechtfertigte ihr Nein mit einem Bericht zweier »Berater«, die vom Landtag in der vergangenen Legislaturperiode bestellt worden waren, um einen U-Ausschuss abzuwenden. Acht Monate hatten Jerzy Montag, lange Bundestagsabgeordneter der Grünen, und Konrad Nötzel, einst Generalstaatsanwalt von München, sich mit dem Fall befasst. Ihren 303 Seiten starken Bericht stellten sie 2020 dem Rechtsausschuss des Landtags von Sachsen-Anhalt vor.
Die wichtigsten Feststellungen lauten: 1. Die Polizei hat im Umgang mit Jalloh vielfach Rechtsbrüche begangen. 2. Die Justiz hat keine Fehler gemacht. 3. Ein Staatsanwalt und die Justizministerin haben das Parlament in dem Fall belogen. »Das gesamte Handeln der Polizei am 7. Januar 2005 sei fehlerbehaftet und rechtswidrig gewesen«, sagte Montag. »Wären diese Fehler unterblieben, dann wäre Oury Jalloh mit allergrößter Wahrscheinlichkeit noch am Leben.« Die beiden listen die Rechtsverstöße detailliert auf: Einer der Dessauer Polizisten hätte schon am Tag des Todes »völlig unglaubhafte« Angaben zu angeblichen Problemen bei der Personalienfeststellung Jallohs gemacht, heißt es in ihrem Bericht. »Objektiv gab es (…) keine Unklarheiten über die Identität von Ouri Jallow.«
Die Beamten hätten »Zwangsmaßnahmen« – sprich: körperliche Gewalt – gegen Jalloh eingesetzt, ohne ihm dies vorher anzudrohen. Sie haben ihm Blut abnehmen lassen, ohne dass ein Richter dies entschieden hätte – ebenfalls rechtswidrig. Sie haben ihn ohne richterliche Entscheidung in Gewahrsam genommen – rechtswidrig. Sie haben ihn auf dem Rücken auf einer Liege fixiert – »ein rechtswidriger und ein unzulässiger Grundrechtseingriff«. Und sie haben Jalloh nicht »fortdauernd beobachtet« – rechtswidrig. »Wären diese Fehler unterblieben, dann wäre Oury Jalloh mit allergrößter Wahrscheinlichkeit noch am Leben.« Doch im entscheidenden Punkt, der Todesursache, übernahmen Montag und Nötzel »die Täterversionen und vernachlässigen den Korpsgeist« in der Polizei, schrieb die Initiative Gedenken an Oury Jalloh. »Entgegen der vorliegenden Beweislage wollen auch sie keine weiteren Ermittlungsansätze erkennen können.«
Das Parlament in Sachsen-Anhalt wird den Fall also nicht wieder aufrollen. Doch die Familie Oury Jallohs fordert auf Grundlage des Brandgutachtens die Wiederaufnahme der Ermittlungen wegen Mordes gegen die bereits namentlich bekannten Polizeibeamten des Reviers. Und beim Bundesverfassungsgericht ist derzeit ein sogenanntes Klageerzwingungsverfahren anhängig. Es richtet sich gegen eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Naumburg. Das hatte im Oktober 2019 entschieden, dass es rechtens sei, dass ein Mordermittlungsverfahren zuvor eingestellt wurde.
Nadine Saeed sagte, die Initiative werde auf Grundlage des neuen Gutachtens von Peck rechtliche Schritte einleiten, unter anderem eine Anzeige wegen »Strafvereitelung im Amt« gegen die für die Einstellung der Mordermittlungen zuständigen Oberstaatsanwälte der Generalstaatsanwaltschaft Naumburg stellen. Zudem appellierte Saeed an den Generalbundesanwalt, den Fall doch noch an sich zu ziehen. Man habe in den vergangenen Jahren gelernt, dass man die Justiz zu nichts zwingen könne – außer dazu, »ihre Lügen immer weiter zu spinnen«, so Saeed.