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Geister von 1885

In Ostkongo eskaliert ein alter Konflikt, dessen Ursachen bislang unbearbeitet bleiben

Von Paul Dziedzic

Bild einer Straße. Am Ende der Straße ist ein Wellblechzaun. Davor ein Schild mit einem Pfeil in Richtung Demokratische Republik Kongo
Immer wieder zwischen Normalität und Ausnahmesituation. Die Grenze zwischen Ruanda und der Demokratischen Republik Congo. Francisco Anzola /Flickr , CC BY 2.0

Am Grenzposten zwischen Goma und Gisenyi hat sich in den 125 Jahren seiner Existenz schon so einiges abgespielt. Er teilt entzwei, was von weiter Höhe aussieht wie eine einzige Küstenstadt am nördlichen Ende des Kivu Sees. Diese Zugänge, die von Europäern konzipiert wurden, bevor sie dort überhaupt Fuß fassten, überqueren täglich Händler*innen, Bäuer*innen, Arbeiter*innen und Angestellte, Bürokrat*innen und Staatsleute. Doch über diese Grenze sind über die Jahrzehnte auch Millionen von Menschen geflüchtet.

Ende Januar wurde Goma, die Hauptstadt der Provinz Nord-Kivu auf der kongolesischen Seite, vom Bündnis Alliance Fleuve Congo (AFC) eingenommen. Die prominenteste Gruppe in dieser oppositionellen Allianz ist die Rebellengruppe M23. Laut UN-Beobachter*innen wird sie von rund 4.000 ruandischen Soldaten unterstützt, die ihre offiziellen Abzeichen abgenommen und über die Grenze marschiert sein sollen. Auch Waffen, Logistik, Training und Unterstützung durch Führungsoffiziere sollen die Rebellen von Ruanda erhalten haben. Weder die UN-Friedenstruppe von Monusco noch die Soldat*innen der Entwicklungsgemeinschaft des südlichen Afrika (SADC) konnten M23 bisher aufhalten. Bei der Einnahme Gomas starben 3.000 Menschen (Stand 13. Februar), Hunderttausende sind auf der Flucht. Es gibt Berichte über massive Menschenrechtsverletzungen gegen die Zivilbevölkerung, Hilfsorganisationen warnen vor einem Zusammenbruch der humanitären Hilfe. Mitte Februar nahm die Rebellenallianz auch Bukavu, die Hauptstadt der Provinz Süd-Kivu, ein. Damit kontrolliert die sie den gesamten Grenzverlauf zwischen Ruanda und der DR Kongo.

Noch vor ein paar Jahren gab es Hoffnung auf eine Annäherung zwischen Kinshasa und Kigali, als mit Félix Tshisekedi 2019 zum ersten Mal ein kongolesischer Präsident den Grenzübergang in Goma überquerte. Empfangen wurde er von seinem ruandischen Amtskollegen Paul Kagame. Heute aber herrscht wieder Krieg – die diplomatischen Vertretungen sind geschlossen, der Ton zwischen Kigali und Kinshasa ist rau. Die Ostafrikanische Gemeinschaft EAC und die SADC versuchen, die Situation zu deeskalieren – bisher ohne Erfolg.

Schwere gegenseitige Vorwürfe

Im Osten Kongos eskaliert dabei erneut ein lange gewachsener Konflikt, nicht nur wegen der komplexen Gemengelage mit vielen lokalen, regionalen und internationalen Akteuren oder der Unterstützung Ruandas für die Rebellengruppe, sondern auch, weil die Politik in Kinshasa die grundlegenden Ursachen nicht lösen möchte oder kann.

Die Regierung in Kinshasa bekämpft derzeit mehrere Aufstände, unter anderem der IS-nahen Gruppe Allied Democratic Forces (ADF) und des losen Antiregierungsbündnisses CODECO. Die größte Sorge bereitet ihr jedoch der Vormarsch der AFC und ihrem wichtigsten Mitglied M23. Entstanden ist M23 im Jahr 2012, weil viele Kämpfer einer Vorgängerorganisation unzufrieden mit der schleppenden Umsetzung einer Vereinbarung zwischen ihnen und der Regierung in Kinshasa waren. Diese war am 23. März 2009 geschlossen worden, daher der Name der Gruppe. Die Vereinbarung sah unter anderem die Integration der Kämpfer in die kongolesische Armee und den Schutz ruandischsprachiger Gemeinschaften vor den Tätern des Genozids an den Tutsi in Ruanda 1994 vor, die als Forces Démocratiques de Libération du Rwanda (FDLR) weiterhin im Kongo aktiv sind.

Das Verhältnis zwischen den ruandischprachigen Gemeinschaften und der Regierung in Kinshasa sowie anderen Gemeinschaften im Osten Kongos ist immer schon konfliktträchtig gewesen. Insbesondere die Frage nach der Zugehörigkeit der ruandischsprachigen Gruppen und ihrer Loyalität zur kongolesischen Nation zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte. Das führt zu Widersprüchen, gerade weil der Kongo explizit ein multinationaler Staat ist. Zugleich ist die Forderung, die ruandischsprachigen Gemeinschaften auszuweisen und auszugrenzen ein Klassiker in der kongolesischen Politik. Die Zentralregierung hat zu wenig getan, um die Konflikte im Osten anzupacken. Es fehlen weiterhin Mechanismen, um den unterschiedlichen Gemeinschaften gleichberechtigte Teilhabe zu garantieren, beispielsweise beim Zugang zu Land, politischer Teilhabe oder Sicherheit.

Die Frage nach der Zugehörigkeit der ruandischsprachigen Gruppen in der DR Kongo zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte.

Die kongolesische Regierung weigert sich bisher (Stand 13. Februar), direkt mit M23 zu verhandeln, weil sie in ihr nur einen Vertreter des benachbarten Ruanda sieht. Kigali wird verdächtigt, expansionistische Pläne zu hegen und wertvolle kongolesische Rohstoffe wie Gold und Coltan, das für elektronische Geräte gebraucht wird, auszubeuten. So soll das Nachbarland die im Osten Kongos unter menschenunwürdigsten Bedingungen abgeschürften und dann illegal ins Nachbarland geschmuggelten Erze als ruandisch deklarieren und selbst exportieren. Die Rebellengruppen finanzieren sich durch die Einführung von Wegzöllen oder beteiligen sich direkt an der Ausbeutung von Rohstoffen. Laut UN-Expert*innen soll der Schmuggel allerdings ebenso über Burundi, Uganda und Tansania stattfinden.

Die ruandische Regierung wiederum wirft der DR Kongo vor, die FDLR, deren hochrangige Mitglieder am Genozid gegen die Tutsi 1994 beteiligt waren, gewähren zu lassen und zum Teil mit ihr zu kollaborieren. Eine solche Zusammenarbeit soll es laut UN-Beobachter*innen tatsächlich gegeben haben. Auch wenn Ruanda die Unterstützung von M23 nicht offen zugibt, so teilt sie offen deren Ziel, die FDLR zu bekämpfen. Generell heißt es aus Kigali, dass die ständigen Konflikte im Osten Kongos eine Sicherheitsgefahr für Ruanda darstellten.

In den letzten Jahrzehnten schalteten sich immer wieder regionale Organisationen und Mediatoren ein, um die Situation im Osten Kongos zu befrieden. Im Nairobi-Prozess von 2022 verpflichtete sich die kongolesische Regierung, Maßnahmen zur Befriedung von Konflikten im Osten des Landes zu ergreifen und die Provinzen zu demilitarisieren. Der im gleichen Jahr vereinbarte Luanda-Prozess soll den Umgang mit den Nachbarländern, insbesondere Ruanda regeln. Es beinhaltet die Bekämpfung der FDLR, dafür aber sollte sich Ruanda nicht direkt im Kongo einmischen.

Anfang Februar trafen sich EAC und SADC im tansanischen Daressalam und bekräftigten die Forderungen aus den bereits existierenden Prozessen. Außerdem forderten sie einen sofortigen Waffenstillstand, die Aufnahme von Gesprächen zwischen der kongolesischen Regierung und M23 sowie die Bekämpfung der FDLR und ein Vorgehen gegen Hassrede, die sich gegen die ruandischsprachigen Gemeinschaften in der DR Kongo richtet. Im Gegenzug müssten sich uneingeladene ausländische Kräfte zurückziehen, womit besonders Ruanda gemeint ist.

Die regionalen Organisationen und die Afrikanische Union haben zwar Expertise in Diplomatie, allerdings mangelt es ihnen an einer effektiven Hebelwirkung, um die Einhaltung von Vereinbarungen konsequent durchzusetzen. EU und USA fordern ebenfalls einen Waffenstillstand sowie den »Respekt für die Souveränität« der DR Kongo. Erstere hatte vor genau einem Jahr die »Vereinbarung über Wertschöpfungsketten für nachhaltige Rohstoffe« mit Ruanda unterzeichnet. Darin sollte Ruanda zum europäischen Zulieferer von Gold und Coltan werden. Das deutsche Bundesentwicklungsministerium hat nach der Einnahme Gomas Konsultationen mit Ruanda abgebrochen, Belgien setzt sich für EU-Sanktionen ein.

Drei mögliche Szenarien

Es gibt derzeit mehrere Szenarien für die östlichen Provinzen. Die AFC, zu der M23 gehört und die angeführt wird von Corneille Nangaa, einem Rivalen des kongolesischen Präsidenten Félix Tshisekedi, ersetzt gerade die lokale Verwaltung und hat somit die quasi-staatliche Kontrolle über öffentliche Aufgaben übernommen und sich Zugang zu Steuer- und anderen Einnahmen verschafft. Das könnte auf eine längere Besetzung der Provinzen hinauslaufen. Oder aber es kommt zu Verhandlungen zwischen Kinshasa und AFC/M23, die in einem Power-Sharing-Deal enden, wie das schon 2009 der Fall war. Ein drittes Szenario wäre, dass sich EU und USA doch entscheiden, den Druck auf Kigali zu erhöhen.

So oder so: Auf lange Sicht bleibt ein strukturelles Problem in der DR Kongo bestehen. Solange Gemeinschaften gegeneinander ausgespielt werden, ist das Potenzial für Gewaltkonflikte hoch. Außerdem wäre es wohl nur eine Frage der Zeit, bis M23 zurückkehrt oder eine Nachfolgeorganisation entsteht. Dieses Problem nicht von Grund auf anzugehen kann nicht im Sinne der vielen Familien und Gemeinschaften sein, die Angehörige verloren haben und flüchten mussten.

Die ruandische Zeitung New Times berichtete dieser Tage, der Grenzverkehr in Goma sei wieder aufgenommen worden. Die einzige Hoffnung bleibt eine panafrikanische, nicht nur wegen der gemeinsamen Erfahrung des Kolonialismus, sondern auch weil dessen Folgen allein durch die Kollaboration der Länder und Gemeinschaften bewältigt werden können. Bis dahin scheint es noch ein langer Weg zu sein, aber gerade aus Sicht sozialer Bewegungen innerhalb wie auch außerhalb des Kontinents sollte eine kritische Betrachtung über das Wesen der Nation gängiger werden. Nur so lassen sich die Geister von 1885, als nicht nur die heutige DR Kongo und das heutige Ruanda auf der Berliner Kongo-Konferenz unter den Kolonialmächten verteilt wurden, vertreiben.

Paul Dziedzic

ist Redakteur bei ak.