Osten, Westen, Nato
Der Konflikt um die Ukraine droht zu eskalieren – doch warum gerade jetzt?
Von Paul Simon
Acht Stunden verhandelten am 10. Januar in Genf Dutzende Diplomaten der USA und Russlands. In den Tagen darauf folgten Verhandlungen mit der Nato in Brüssel und bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Wien. Russland hatte zuvor klare Forderungen veröffentlicht: Es verlangt bindende Zusagen über das Ende der Nato-Osterweiterung, den Rückzug von Nato-Truppen aus osteuropäischen Ländern wie Polen oder den Baltikumstaaten, ein Ende von Nato-Manövern in Ukraine, Kaukasus und Zentralasien, und die Begrenzung von Kurz- und Mittelstreckenraketen in Europa.
Sergei Rjabkow, der die Verhandlungen in Genf für Russland leitete, wurde bei der anschließenden Pressekonferenz sehr deutlich: »Wir unterstreichen, dass es absolut notwendig ist, dass wir sicherstellen, dass die Ukraine niemals, niemals Mitglied der Nato wird.« Er fuhr fort: »Wir haben das lose Gerede, die halben Versprechen und Fehlinterpretation von Verhandlungen hinter verschlossenen Türen satt. Wir vertrauen der anderen Seite nicht, wir brauchen stahlharte, wasserfeste, kugelfeste, rechtlich bindende Garantien.«
Genau diese will die Nato jedoch nicht geben. Im Jahr 2008 hatte sie sich, unter anderem auf Druck der deutschen Regierung, zwar dagegen entschieden, offiziell den Beitrittsprozess der beiden ehemaligen Sowjetrepubliken Ukraine und Georgien zu beginnen. Doch stattdessen gab sie bei ihrem Kongress in Bukarest die Erklärung ab, dass beide Staaten »der Nato beitreten werden«. Das gilt bis heute: 13 Jahre später sind beide Staaten zwar weit entfernt, auch nur den Beitrittsprozess zu beginnen, nicht zuletzt, weil auf ihren Gebieten seitdem Kriege stattgefunden haben, bei denen russische Truppen auf der Seite pro-russischer Separatisten intervenierten. Dennoch wollen vor allem die USA auf keinen Fall von der prinzipiellen Bereitschaft abrücken, die Ukraine in die Nato aufzunehmen. Bei den Verhandlungen mit Russland scheint die US-Regierung vielmehr auf Zeit zu spielen und Fragen wie die Rüstungskontrolle zu priorisieren, an denen sie selbst ein Interesse hat.
USA konzentrieren sich auf China
Seit November warnt die US-Regierung, dass Russland über 100.000 kampfbereite Soldaten an die ukrainische Grenze verlegt habe. Das wäre zwar sicher nicht genug, um auch nur Teile der Ukraine zu besetzen, doch obwohl die ukrainische Armee seit 2014 stark aufgerüstet hat, ist die russische Armee ihr nach wie vor deutlich überlegen – allein schon gegen die russische Luftwaffe könnte die Ukraine sich kaum verteidigen. Russische Politiker bis hin zu Präsident Wladimir Putin sprachen in den vergangenen Monaten immer wieder kaum verklausulierte Drohungen aus, denen zufolge Russland zu einer »militärisch-technischen« Antwort gezwungen sein könnte, sollte der Westen seine »aggressive Linie« weiterverfolgen, wie Putin es ausdrückte. Russland will damit Druck bei den Verhandlungen machen. Die USA erklärten ihrerseits im Dezember noch einmal explizit, dass sie auf keinen Fall eigene Truppen in die Ukraine schicken würden, selbst wenn Russland diese angreifen sollte. Stattdessen drohen sie mit massiven Sanktionen für den Fall eines russischen Angriffs und ließen sich auf die von Russland eingeforderten Verhandlungen ein, »um die Temperatur an der Ostfront zu senken«, wie es US-Präsident Biden ausdrückte.
Die Konstellation ist nicht neu: Spätestens seit 2007 warnte die russische Regierung den Westen immer wieder, dass sie die Osterweiterung der Nato und prowestliche politische Kräfte in bestimmten Nachbarländern als Angriff auf die eigene Macht und Sicherheit ansieht. Nach dem Maidan-Umsturz 2014, bei dem in der Ukraine eine pro-westliche Regierung an die Macht kam, folgten auf diese Warnungen Taten: Russland annektierte die Krim, unterstützte bewaffnete Separatisten in der Ostukraine und intervenierte schließlich mit eigenen Truppen, und schuf zwei separatistische Enklaven im permanenten Kriegszustand auf ukrainischem Staatsgebiet.
Warum aber verschärft Russland ausgerechnet jetzt derart die Rhetorik und stellt Forderungen, die auf ein Zurückweichen der Nato aus Osteuropa hinauslaufen würden? Ein Grund ist vermutlich der Machtwechsel in den USA vor einem Jahr. Wie sein Vorgänger Trump will Joe Biden die Kräfte der USA auf China konzentrieren, das anders als Russland auch wirtschaftlich und technologisch ein ebenbürtiger Rivale der US-Weltmacht sein könnte. Auch deshalb führte Biden etwa den Abzug von US-Truppen aus Afghanistan zu Ende. Nachdem Russland bereits im April Truppen vor der ukrainischen Grenze gesammelt hatte, begann Biden erste Verhandlungen mit Putin und sagte, er strebe eine »stabile, vorhersehbare Beziehung« mit Russland an, was womöglich Hoffnungen weckte, er wolle Russland entgegenkommen.
Russlands droht fast seinen gesamten Einfluss in Osteuropa zu verlieren.
Doch auch die Entwicklungen in der Ukraine könnten Russland zum Handeln drängen. Der von Russland bis heute geführte Krieg, der über eine Million Menschen zur Flucht zwang und über 13.000 Todesopfer forderte, trug dazu bei, dass sich die Ukraine mehr denn je Richtung Westen orientierte, von diesem finanziell wie politisch abhängig wurde und innenpolitisch Kräfte weiter erstarkten, die vor allem auf nationale Eigenständigkeit (gemeint ist: gegenüber Russland) und eine klare Westbindung setzen. Selbst die ukrainische Bevölkerung, die noch 2007 nur zu 20 Prozent einen Nato-Beitritt unterstützte, tut das heute fast zur Hälfte – wohl auch aus Verzweiflung darüber, dass nach acht Jahren Krieg eine friedliche Koexistenz mit Russland offenbar keine Option mehr darstellt.
Mit Wolodymyr Selenskij wurde zwar 2019 ein Präsident gewählt, der versprach, »alles zu tun, um Frieden zu erreichen«, doch als neue Verhandlungen mit Russland ohne Ergebnis blieben, schwenkte auch er auf den Kurs seines Vorgängers Petro Poroshenko um, der sich dafür eingesetzt hatte, die Ziele EU- und Nato-Mitgliedschaft in der ukrainischen Verfassung zu verankern. Seit über einem Jahr drängt die ukrainische Regierung immer vehementer auf den Beginn der Nato-Beitrittsprozesse, auf Waffenlieferungen und auf das Ende der Gaspipeline Nordstream 2, und greift vor allem Deutschland für dessen Verweigerungshaltung in all diesen Punkten an.
Auch innenpolitisch verhärtete sich Selenskijs Kurs. Anfang 2021 ging er gegen die allgemein als prorussisch bezeichnete Oppositionspartei des Oligarchen Wiktor Medwetschuk vor, die vor allem im Osten des Landes gewählt wird und sich als einzige politische Kraft für die Umsetzung des Minsker-Abkommens nach russischen Bedingungen einsetzte. Im Februar wurden drei der Partei nahestehende Fernsehsender per Dekret geschlossen, im März Medwetschuk selbst wegen Hochverrats angeklagt und unter Hausarrest gestellt. (Der prowestliche Oppositionsführer Petro Poroschenko wurde im Dezember ebenfalls wegen Hochverrats angeklagt.)
Nie umgesetztes Friedensabkommen
Russland hatte 2015 nach Siegen über die ukrainische Armee mit dem Minsker Abkommen ausgehandelt, dass die separatistischen Gebiete im Rahmen einer großzügigen Autonomie in die Ukraine zurückkehren würden. Doch dieser Teilsieg Russlands verwandelte sich in den folgenden Jahren in eine Niederlage: Das Abkommen wurde nie umgesetzt; viele in der Ukraine, wie auch deren westliche Unterstützer*innen, bevorzugten den Status quo eines fast eingefrorenen Krieges statt auf die russischen Forderungen einzugehen.
Zwar fordert Russland bis heute die Umsetzung des Abkommens, doch hat es längst selbst Schritte unternommen, die die Abtrennung der separatistischen Gebiete zementieren: Hunderttausende der dort noch verbliebenen ukrainischen Bürger*innen – eine sehr große Zahl ist vor Krieg, Armut und der Brutalität der in den sogenannten Volkrepubliken herrschenden Militärdiktaturen geflüchtet – haben mittlerweile die russische Staatsbürgerschaft, und auch die wirtschaftliche Integration mit Russland wird ausgebaut.
Russland hat zwar seit 2014 erfolgreich die Ukraine destabilisiert, aber auch jeglichen politischen Einfluss auf sie verloren. Es muss mit ansehen wie die Ukraine weiter auf Aufnahme in die Nato drängt, an Nato-Manövern teilnimmt, und Militärhilfe und gewisse Waffensysteme vor allem aus den USA und Großbritannien erhält. Das zumindest, dies hat Russland in den vergangenen Monaten klargemacht, soll aufhören.
Russlands aggressives Auftreten in den derzeitigen Verhandlungen, flankiert mit kaum verhüllten Kriegsdrohungen, ist wohl auch eine Reaktion darauf, dass es mit der Ukraine fast seinen gesamten ehemaligen Einfluss in Osteuropa endgültig zu verlieren droht. Die USA machen ihrerseits keine Anstalten, den russischen Forderungen nachzugeben. Die Leidtragenden sind vor allem die Ukrainer*innen, die kaum noch hoffen können, dass der in ihrem Land geführte Krieg in naher Zukunft beendet werden könnte.