Organisierte Unsicherheit
Den Geflüchteten auf den griechischen Ägäis-Inseln fehlt es am Nötigsten, und sie leiden unter einer zunehmend antimigrantischen Stimmung in der Bevölkerung
Von Salinia Stroux und Chrisa Wilkens
Azadi-Azadi!« forderten Hunderte afghanische Flüchtlinge Anfang Februar an zwei protestreichen Tagen auf den Straßen von Mytilini, der Hauptstad der Insel Lesbos. Das Wort bedeutet auf Dari/Farsi »Freiheit«. Die Forderung der Protestierenden: die Insel endlich verlassen zu dürfen. Seit dem Inkrafttreten des heftig kritisierten EU-Türkei-Abkommens im März 2016 können nur noch Personen, die besonders verletzlichen Gruppen angehören oder Verwandte in anderen EU-Ländern haben, aufs Festland weiterreisen. Alle anderen sind über die gesamte Dauer ihres Asylverfahrens auf der Insel gefangen. Kriegen sie Asyl, dürfen sie weiterziehen. Wird ihr Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt, droht ihnen die Abschiebung in die Türkei.
Mehr als 42.000 Schutzsuchende befinden sich derzeit auf den Ägäis-Inseln und harren unter zum Teil lebensgefährlichen Bedingungen aus. Im April 2019 lag die Zahl noch bei 14.000. Nun herrscht vielerorts Chaos. Allein im Hotspot von Moria (Lesbos), der ursprünglich für 2.840 Menschen ausgelegt war, drängen sich aktuell etwa 19.500 Geflüchtete auf engstem Raum. Die Aufnahmelager in Moria und Vathy (Samos) wuchern über ihre Areale hinweg und entwickeln sich übergangslos zu informellen Slumsiedlungen, die sich über Hügel und Olivenhaine erstrecken.
Unter den Geflüchteten sind viele minderjährige Unbegleitete und Kinder, die unter widrigsten Bedingungen, ohne Rechtshilfe und in ständiger Angst vor Abschiebung leben. Nicht nur der psychische Druck auf die Menschen ist enorm, auch körperlich geraten viele an ihre Grenzen. Die Mehrheit lebt in Sommerzelten und improvisierten Unterkünften. Aufgrund starker Regenfälle und der winterlichen Kälte schlafen Tausende Menschen in dem EU-finanzierten Lager in überfluteten Zelten auf nassen Decken.
Explosive Stimmung
Die Inselbewohner*innen fühlen sich mit der Krise alleingelassen, und der griechische Staat tut mit seiner repressiven Politik und den antimigrantischen Diskursen sein Übriges, die Stimmung gegen die Geflüchteten anzuheizen. Während die Flüchtlingshilfe kriminalisiert wird, wird der rechten Szene – zum ersten Mal nach vier Jahren linksgerichteter Regierung – derzeit viel Spielraum gelassen.
Dies führt zu einer explosiven Situation: Die Menschen in den Hotspots protestieren gegen die Bedingungen ihrer Unterbringung und die repressive Abschottungs- und Asylpolitik der EU, deren Leidtragende sie sind. Die Lokalbevölkerung spaltet sich von Antifaschist*innen bis hin zur Bürgerwehr. Die Polizei hat diese Bürgerwehrbildung bislang toleriert. So konnten einige Einwohner*innen aus Moria bei den Demonstrationen Anfang Februar die zwei Durchgänge vom Dorf zum Hotspot blockieren und Autos kontrollieren, die durch das Dorf fahren wollten. Mitglieder von NGOs wurden von einzelnen rechten Inselbewohner*innen attackiert, kleine Gruppen organisierter Rechtsextremer jagten Geflüchtete mit Schlagstöcken aus dem Dorf. Lokale Soligruppen und Autonome organisierten in derselben Nacht einen Protestmarsch durch die Stadt.
Aufgrund der explosiven Lage forderte der örtliche Präfekt, den Notstand zu verhängen. Die Regierung in Athen lehnte dies ab. Der Regierungssprecher deutete stattdessen an, die Proteste seien von den Nichtregierungsorganisationen angestiftet worden. Schon ein paar Stunden nach den Vorfällen beschloss das Parlament in Athen, dass die in der Flüchtlingsarbeit tätigen NGOs künftig schärfer kontrolliert werden sollen.
Auch lokale Solidaritätsgruppen, die seit Jahren versuchen, Geflüchteten zu helfen, geraten immer mehr ins Visier des Staates. Sie leiden zudem unter der angespannten Stimmung unter den Inselbewohner*innen.
Trotz dieser Zuspitzung versucht die konservative Regierung von Kyriakos Mitsotakis, die seit vergangenem Juli im Amt ist, den EU-Türkei-Deal um jeden Preis umzusetzen. Wie schon die Vorgängerregierung setzt sie dafür nicht nur auf Grenzschutz, sondern ganz offensichtlich auch auf die Abschreckung durch die katastrophalen Aufnahmebedingungen. Während eines Besuchs auf der Insel Samos im Dezember sagte der Vizepräsident Panagiotis Pikrammenos: »Das Land sollte aufhören, attraktiv für Einwanderer zu sein«.
Unter dieser Politik leiden auch die Bewohner*innen der Inseln Lesbos, Samos und Chios. Ein zentrales Problem ist die Überlastung des öffentlichen Gesundheitssektors: Stellenkürzungen stehen im Kontrast zu einem massiv erhöhten Versorgungsbedarf durch die zusätzliche Zahl von Menschen. Im vergangenen Januar traten die Inselbewohner*innen in einen Generalstreik. Tausende forderten die sofortige Verlegung der Schutzsuchenden in andere Landesteile – ein Anliegen, das von den Rechten schnell vereinnahmt werden konnte.
Neues Asylgesetz
Die Regierung weiß diese Stimmung nicht nur weiter anzuheizen, sondern gezielt zu nutzen. Unter anderem kündigte sie an, das Budget des Verteidigungsministeriums für den Grenzschutz zu erhöhen, stellte Hunderte neuer Polizist*innen ein, warb für schwimmende Zäune und Investitionen in den NATO-Zaun an der Landgrenze zur Türkei und intensivierte die Kontrollen von NGOs und Aktivist*innen der Flüchtlingsarbeit. So wird in Griechenland Schritt für Schritt an einer Infrastruktur gearbeitet, die Geflüchtete nicht nur »draußen hält«, sondern auch »wieder rausbefördert«.
Eine rechtliche Grundlage dafür bildet das neue Asylgesetz, das im Januar 2020 in Kraft getreten ist. Das komplizierte Gesetz ist stark an das deutsche Asylrecht angelehnt. Asylverfahren sollen künftig schneller über die Bühne gehen, Fristen werden gekürzt, und der Staat erhält künftig mehr Möglichkeiten, Asylgesuche abzulehnen. Verfahrensgarantien, so kritisieren Menschenrechtanwält*innen, gibt es im Rahmen der gesetzlichen Neuregelung kaum.
Um Geflüchtete während des gesamten Verfahrens zu kontrollieren und eine erhöhte Zahl von Abschiebungen schneller durchführen zu können, sollen auf den Inseln nun abgeriegelte Aufnahmezentren entstehen, für jeweils etwa 5.000 Personen. Die ankommenden Menschen sollen diese Lager dann nicht mehr unkontrolliert verlassen können. Die ersten 25 Tage nach ihrer Ankunft bleiben die Geflüchteten inhaftiert, und ihre Asylanträge – einschließlich Widerspruchsverfahren – müssen innerhalb von 28 Tagen überprüft werden. Wie die Menschen unter diesen Bedingungen über ihre Rechte und das Verfahren ausreichend informiert und bei ihren Asylgesuchen unterstützt werden sollen, bleibt fraglich.
Viele der Geflüchteten, die seit Monaten oder gar Jahren auf den Inseln ausharren, befürchten zudem, dass ihre Verfahren nun noch länger dauern, da die Anträge der neuen Asylsuchenden prioritär bearbeitet werden – mit dem Ziel, deren Abschiebung voranzutreiben. Seit Anfang des Jahres wurden innerhalb eines Monats 84 Personen in die Türkei zurückgeschickt. Im gesamten Jahr 2019 waren es 391 Personen. Das Ziel der rechtskonservativen Regierung von Kyriakos Mitsotakis ist es nun, die Zahl der »Rückführungen« innerhalb von drei Monaten auf 200 pro Woche zu erhöhen. Bis Ende dieses Jahres sollen nach Regierungsangaben im Idealfall 10.000 Personen in die Türkei zurückgeschickt werden. Zuständig dafür ist künftig eine »Rückkehrbehörde«, die noch im Februar unter dem Dach des Migrationsministeriums eingerichtet werden soll.
Die Stimmen der Geflüchteten werden in diesem Prozess nicht gehört. »Für die Regierung dieses Landes haben unsere Leben und unsere persönliche Gesundheit keinen Wert. Wir können unter den Bedingungen hier sterben oder uns im Lager gegenseitig töten – es ist ihnen egal«, sagt ein 33-jähriger Mann aus dem Kongo, der im Moria Hotspot lebt.
Auf Plakaten, die protestierende Lagerbewohner*innen Anfang Februar auf Lesbos in den Händen hielten, stand: »Moria Hölle, Moria SOS« und »Entschuldigung Einwohner von Lesbos«. Manche Geflüchtete verteilten sogar Blumen an Passant*innen – ein Versuch, die angespannte Stimmung zu mildern. Der Staat reagierte mit Tränengas und Knüppelhieben durch die Bereitschaftspolizei. Auch Kinder wurden dabei verletzt.
Kein funktionierendes Asylsystem
Eine Strategie für den Aufbau eines funktionierenden Aufnahmesystems mit gesicherten Mindeststandards, das die Situation von Geflüchteten und Inselbewohner*innen dauerhaft verbessern könnte, gibt es bis dato nicht. Trotz Versprechungen der Regierung im Herbst 2019, zumindest die Transfers von den Inseln Richtung Festland zu beschleunigen, hat sich bisher nur wenig getan. Auf dem Festland befinden sind derzeit mehr als 71.000 Schutzsuchende. Immer mehr Menschen werden in größeren Lagern weitab der urbanen Zentren untergebracht. Auch hier werden die Aufnahmekapazitäten deutlich überschritten.
»Wir werden hier abgestellt, geparkt. Wir kriegen nur das Nötigste zum Überleben. Gerade soviel, dass wir nicht sterben, dass wir nicht revoltieren. Täglich kommt es hier zu Vorfällen, aber keiner kriegt etwas mit draußen: ein Selbstmordversuch, ein Protest, Gewalt zwischen Einwohner*innen… Gerade mal zwei Organisationen arbeiten hier im Lager unter Aufsicht des Staates. Sie können und wollen nur das Minimum leisten: Termine für uns organisieren, die Verteilung in die Container koordinieren, eine kaputte Tür reparieren, Kopfschmerztabletten verteilen. Und mein Interview wegen meines Asylantrages ist erst 2022«, klagt ein afghanischer Familienvater in einem Lager außerhalb Athens. »Wer hier nicht psychisch krank wird oder anfängt, Drogen zu nehmen, der hat einen sehr starken Charakter oder guten Halt durch seine Familie.«
Für Tausende Menschen wird sich diese Situation in absehbarer Zeit kaum ändern. Anfang Dezember waren noch 83.683 Asylanträge in erster Instanz anhängig, weitere 57.335 in zweiter Instanz. Das Asylsystem in Griechenland ist gnadenlos überlastet.
Europa ist nicht sicher
Trotz der schwierigen Lebensbedingungen und der stark angespannten Stimmung zwischen verschiedenen Gruppen von Geflüchteten in den überfüllten Ägäis-Hotspots, gibt es auch Solidarität in diesen neuen Slums Europas.
Das spiegelt sich etwa in der Geschichte von Khalid und seinem Mitbewohner aus Syrien wider, die zusammen eine Baracke außerhalb des Hotspots von Samos in Vathy gebaut haben. »Wir haben uns ein paar Mal unterhalten. Anfangs war er überrascht, dass ein Afrikaner arabisch spricht. Dann haben wir uns entschieden, für den Bau der Baracke zu kooperieren«, erklärt Khalid. Jetzt sind sie Freunde im Leid.
Dass dies Europa sein soll, kann in Moria und den anderen Hotspots keiner so recht glauben. Nicht wenige zweifeln an ihrer Entscheidung, in Griechenland Schutz zu suchen, denn in Sicherheit sind sie hier nicht. Im Zeitraum September 2019 bis Januar 2020 gab es allein in Moria sieben bestätigte Todesfälle. »Vorne der Abgrund und hinten die Strömung«, sagt ein griechisches Sprichwort. Nach ihrem gefährlichen Weg nach Europa landen die Menschen erneut in einer Situation totaler Unsicherheit.