»Die Wissenschaft ist zu konservativ«
Ingenieurin und Ökonomin Yamina Saheb über die Kritik am jüngsten Bericht des Weltklimarats, an dem sie selbst mitgewirkt hat
Interview: Tatjana Söding
Der im März veröffentlichte Abschlussbericht des Weltklimarat (IPCC) zeichnet ein düsteres Bild von der Zukunft: Der Klimawandel schreitet schneller voran und seine Folgen sind noch verheerender als bisher angenommen. Schon zwischen 2030 und 2035 könnte der globale Temperaturanstieg die 1,5-Grad-Marke erreichen. Die IPCC-Berichte gelten als klimawissenschaftliches Maß aller Dinge. Doch es gibt auch Kritik an ihnen: Sie seien konservativ, wachstumsunkritisch und auf Erhalt des Status quo ausgerichtet. Darüber spricht Yamina Saheb, Mitautorin der IPCC-Berichte, im Interview.
Frau Saheb, Sie haben an dem sechsten Sachstandsbericht über den Klimawandel mitgewirkt, den der Weltklimarat Anfang März veröffentlichte. Sieben Jahre zuvor bildete der fünfte Sachstandsbericht die wissenschaftliche Grundlage für das Pariser Abkommen und das 1,5-Grad-Ziel. Was sind die wichtigsten Kontinuitäten und Veränderungen, die sich im Vergleich beider Berichte abzeichnen?
Yamina Saheb: Der aktuelle Bericht liefert noch deutlichere wissenschaftliche Beweise, dass menschliche Aktivitäten – wie etwa das Verbrennen von fossilen Brennstoffen, mono-agrarische Landnutzung und die Konsum- und Produktionsmuster im Globalen Norden – die Erderwärmung ausgelöst haben. Es sollte im Jahr 2023 also keine Diskussion mehr darüber geben. Zu den wichtigsten Ergebnissen gehört die Tatsache, dass die Emissionen – besonders aus fossilen Brennstoffen – zwischen 2010 und 2020 um etwa 1,3 Prozent pro Jahr weiter angestiegen sind. Das bedeutet: Wir machen beim Klimaschutz etwas falsch. Neu an dem Report ist auch, dass wir uns zum ersten Mal in einem ganzen Kapitel mit der Nachfrageseite der Energiewende beschäftigen.
Was genau steht in diesem Kapitel?
Ein großer Gewinn ist, dass wir das Konzept der Suffizienz in einem Unterkapitel zum Gebäudesektor einbringen konnten. (1) Lokale Behörden sind einer der Hauptakteure, die die richtigen Weichen stellen müssen, um es ihren Bürger*innen zu erlauben, weniger Energie- und CO2-intensive Produkte und Dienstleistungen nachzufragen. Bevor wir Suffizienz als Maßstab für nachhaltige Politik eingeführt haben, lag der Fokus stets auf der Veränderung des Verhaltens von Einzelpersonen. Aber dieser Ansatz stützt eine kapitalistische und individualistische Logik, die maßgeblich zur Klimakrise geführt hat. Stetig steigende Emissionen und globale Ungleichheit sind das beste Beispiel, dass dieser Ansatz hauptsächlich Misserfolge verbucht. Im Kapitel über urbane Räume zeigen wir nun, dass das Verhalten und die Veränderungen von Einzelpersonen von politischen Maßnahmen abhängig sind, die nachhaltige alltägliche Praktiken entweder ermöglichen oder erschweren. Ein Beispiel: In Paris wurde Fahrradfahren erst dann üblich, nachdem Fahrradwege gebaut waren, es autofreie Viertel und Leihmöglichkeiten gab.
Yamina Saheb
ist Ingenieurin und Ökonomin. Sie arbeitet vor allem auf EU-Ebene zur Energie- und Klimapolitik. Sie ist die Koordinatorin des 9. Kapitels des IPCC-Berichts über Eindämmungsmöglichkeiten des Klimawandels und hat auch an anderen Kapiteln des Berichts mitgearbeitet. Sie lebt in Paris und lehrt an der Science Po.
Nach welchen Kriterien lässt sich Suffizienz-orientierte Politik messen?
Die Definition beruht auf vier Säulen. Die erste setzt auf den Hebel politische Maßnahmen und alltägliche Praktiken. Die zweite befasst sich mit der Vermeidung der Nachfrage nach natürlichen Ressourcen. Drittens zielt Suffizienzpolitik darauf ab, ein Gutes Leben für alle zu ermöglichen. Da diese Terminologie politischen Entscheidungsträger*innen fremd ist, haben wir uns auf die Umschreibung »Wohlstand für Alle« geeinigt. Die vierte Säule schränkt Suffizienz darin ein, diesen Wohlstand innerhalb der planetaren Grenzen zu ermöglichen. Neu daran ist, dass sich das Konzept der planetaren Grenzen nicht mehr wie bisher nur auf die nationalen Emissionen konzentriert, sondern die kumulativen Emissionen von Produktions-, Transport und Verbrauchsprozessen betrachtet – und sich auch um den Schutz von Ökosystemen bemüht. Das Konzept der planetaren Grenzen in den Bericht hinein zu verhandeln, war nicht leicht, weil es die jahrelange Vorgehensweise des IPCC, sich auf die Emissionen im Nutzungsprozess zu beschränken, grundsätzlich infrage stellt.
Wieso konnte die Suffizienz in keine anderen Unterkapitel eingebracht werden?
Das liegt an der IPCC-internen Aufteilung in Autor*innen und koordinierende Hauptautor*innen. Zwar haben wir innerhalb des Bauausschusses die Relevanz des Suffizienzbegriffes weitreichend diskutiert – unsere koordinierenden Hauptautor*innen haben die Neuerungen unserer Herangehensweise aber womöglich nicht weitergetragen. Tatsächlich ist uns nicht bekannt, wie das Präsidium darüber entscheidet, wer als koordinierender oder beitragender Autor tätig wird: entlang ideologischer Linien, Expertise oder etwa der Zahl der Veröffentlichungen?
Das aktuelle Wirtschaftswachstum und Ungleichheiten werden fortgeführt und wissenschaftlich legitimiert.
Kritische Stimmen werfen dem IPCC vor, zu konservativ zu sein. Stimmen Sie dieser Einschätzung zu?
Ja, das tue ich. Für mich betrifft diese Kritik auch nicht nur den IPCC, sondern die Wissenschaft im Allgemeinen. Seit der Gründung des IPCC im Jahr 1988 wird mit den gleichen Methoden gearbeitet. Die Szenarien, die im aktuellen Bericht präsentiert wurden, sind beispielsweise lediglich eine Erweiterung der Vorhersagen für 2015 auf das Ende des Jahrhunderts. Es ist aber unmöglich zu prognostizieren, wie sich Energiepreise oder der Ausbau der erneuerbaren Energien bis 2100 entwickeln. Ganz zu schweigen von sozialen Dynamiken. Außerdem setzen alle IAM-Modelle – das ist das gängigste Modell, um Szenarien zu entwickeln – ein konstantes Wirtschaftswachstum voraus. Ein umfassender Suffizienzbegriff würde dem widersprechen. Es kann doch nicht nur darum gehen, Lieferketten zu dekarbonisieren und negative Emissionen durch Carbon Capture and Storage-Technologien zu erzielen. Wir müssen eine Umgestaltung der Gesellschaft und eine damit einhergehende Reduktion der Nachfrage nach natürlichen Ressourcen in den Blick nehmen!
Alternative Wirtschaftssysteme, wie sie etwa von Vertreter*innen der Degrowth-Bewegung vorgeschlagen werden, finden auch im öffentlichen Diskurs oder der universitären Lehre wenig Aufmerksamkeit.
Der IPCC forscht nicht selbst, sondern bietet eine Zusammenfassung der gängigen wissenschaftlichen Literatur zu Klimawandel und Klimaschutzpolitiken. In der Datenbank, die uns Autor*innen zur Verfügung gestellt wird, finden sich jedoch hauptsächlich englischsprachige Artikel, die in sogenannten peer-reviewed Fachzeitschriften erschienen sind. Meiner Auffassung nach fokussiert sich der Großteil der wissenschaftlichen Literatur, der sich mit verschiedenen Praktiken des Klimaschutzes befasst, darauf, nach technologischen Lösungen für sozio-ökonomische Krisen zu suchen. So fließt der Löwenanteil der öffentlichen und privaten Forschungsgelder in Projekte, die auf den Erhalt des kapitalistischen Status quo ausgerichtet sind. In unseren Datenbanken gibt es daher mehr Literatur zu den Klimaschutzpotenzialen von Technologien als zu den Möglichkeiten gesellschaftlichen Wandels.
Aus globaler Sicht gibt es extreme Unterschiede zwischen Wirtschaftswachstum – und somit auch dem Emissionsausstoß – zwischen Ländern des Globalen Nordens und Südens. Wenn die IAM-Modelle das heutige Wirtschaftswachstum in die Zukunft fortschreiben, führen sie somit nicht auch (neo-)koloniale Praktiken weiter?
Absolut. Bei der Entwicklung der IAM-Modelle gibt es keinerlei Bemühungen, eine Angleichung der Lebensstandards zwischen dem Globalen Norden und Süden zu erreichen. Durch die Fortschreibung des aktuellen Wirtschaftswachstums werden Ungleichheiten fortgeschrieben und wissenschaftlich legitimiert. Zur Veranschaulichung ein Beispiel aus dem Gebäudesektor: Aktuell liegt die durchschnittliche Wohnfläche von Nordamerikaner*innen bei 60 Quadratmetern pro Kopf, in afrikanischen Ländern bei fünf bis zehn Quadratmetern. Die IAM-Modelle, die diese historisch ungleiche Entwicklung bis ins Jahr 2100 extrapolieren, rechnen in ihren Emissionsszenarien für das Jahr 2050 mit einer durchschnittlichen Wohnfläche von 65 Quadratmetern pro Nordamerikaner*in und lediglich zehn Quadratmetern pro Afrikaner*in. Das hat nichts mit einer sozial-gerechten Klimapolitik zu tun. Auch hier gilt es, die Kritik nicht nur auf den Weltklimarat, sondern auf die Wissenschaftsgemeinschaft zu richten. Der IPCC erstellt keine eigenen Szenarien, sondern nimmt Einreichungen an. Aus diesem Pool kommen nur jene Einreichungen in die engere Betrachtung, die mit dem Pariser Abkommen kompatibel sind. Dabei wird allerdings nur auf den Temperaturanstieg von 1,5 bis maximal 2 Grad abgestellt und nicht auf andere Faktoren des Abkommens wie soziale und globale Gerechtigkeit.
Der Löwenanteil der staatlichen und privaten Finanzierung für Forschungsprojekte geht etwa an jene, die auf die Konservierung des kapitalistischen Status quos ausgerichtet sind.
Gibt es denn Szenarien, die diese Faktoren berücksichtigen?
Kaum. Beispielsweise gibt es etwa das Szenario »Providing decent living with minimum energy: A global scenario«, das rund um Julia Steinberger an der Universität Leeds erarbeitet wurde. Hier wird sowohl auf globale Gerechtigkeit als auch auf suffizienz-orientierte Politik gesetzt. Das Modell hat es aber nicht in die IPCC-Datenbank geschafft: Kritischen Forschungsansätzen fehlt es oft an finanziellen Ressourcen und Arbeitskraft, um ihre Daten so aufzuarbeiten, dass der IPCC sie akzeptiert.
Was könnte also getan werden, um die Arbeitsweise des IPCC zu revolutionieren?
Für die Zusammensetzung der Forschenden, die Auswahl der wissenschaftlichen Literatur und die Art ihrer Zusammenfassung und Darstellung sind neue Kriterien erforderlich. In Zukunft sollten wir nur noch Modelle verwenden, die auf eine Konvergenz des Zugangs zu Basisdienstleistungen zwischen dem Globalen Norden und Süden abzielen. Zweitens brauchen wir ein vielfältigeres Team von Forschenden: Hier geht es um Fragen der Repräsentation und der fachlichen Expertise. Ich habe den Eindruck, dass es unter den IPPC-Forscher*innen eine Dominanz von neoliberalen Ökonom*innen und Ingenieur*innen gibt. Dadurch werden ideologische Fehlannahmen perpetuiert und blinde Flecken der Forschung bleiben im Dunkeln. Wenn zum Beispiel die Klimabewegung darauf drängen würde, dass den IPCC-Berichten global gerechtere wissenschaftliche Methoden zugrunde gelegt werden, könnte sich wirklich etwas ändern.
Gibt es unter den IPCC-Forschenden Bestrebungen in diese Richtung?
Wenige. Denn häufig sind die koordinierenden Autor*innen selbst IAM-Modellier*innen. Ein positives Beispiel, an dem wir uns orientieren könnten, ist der Weltbiodiversitätsrat, ein Pendant zum Weltklimarat. Dieser Rat entwickelt seine eigenen Szenarien und muss sich nicht auf »Black Boxes« verlassen.
Anmerkung:
1) Unter Suffizienz wird das Bemühen verstanden, die Nachfrage nach natürlichen Rohstoffen zu vermeiden und gleichzeitig das menschliche Wohlergehen aller innerhalb der planetarischen Grenzen zu fördern.