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Wie man ein Polizeiproblem verschwinden lässt

Im NSU-2.0-Verfahren sitzt ein »Einzeltäter« auf der Anklagebank – die Betroffenen fordern Aufklärung über Verstrickungen der Polizei

Von Maike Zimmermann

Das Foto zeigt ein Rekrutierungs-Event der hessischen Polizei vor einem Gebäude. Im Hintergrund hängt ein gigantisches Plakat von mindestens fünf Metern Höhe und drei Metern Breite. Auf dem Plakat posieren Polizist*innen und auch ein Polizeihund. Alle sehen sehr glücklich aus. Vor dem Plakat steht ein Polizei-Auto mit offenen Türen. Im Vordergrund des Bildes sind mehrere Bierbank-Garnituren zu sehen. Sie sollen wohl zum Verweilen einladen.
Die Frankfurter Polizei, wie Innenminister Peter Beuth sie gerne sehen will. Foto: 7C0 / Flickr , CC BY-ND 2.0

Während sich das Landgericht Frankfurt am Main mit dem Fall des extrem rechten Bundeswehrsoldaten Franco A. befasst, hat im Februar nur einige Meter weiter in einem Nebengebäude der Prozess gegen den mutmaßlichen Verfasser zahlreicher Drohschreiben mit der Unterschrift NSU 2.0 begonnen. So unterschiedlich beide Fälle sind, so haben sie eines gemeinsam: Von offizieller Seite handelt es sich um Einzeltäter. Denn es darf nicht sein, was nicht sein soll – kein rechtes Netzwerk in der Bundeswehr, keine Verstrickungen der Polizei in den NSU 2.0.

Die 124-seitige Anklageschrift der Staatsanwaltschaft konzentriert sich auf den 54-jährigen Alexander M. Ihm wird vorgeworfen, zwischen dem 2. August 2018 und dem 5. Mai 2021 in 116 Fällen mittels Drohschreiben mehrere Personen – die Mehrzahl davon Frauen – beleidigt, mit Mord bedroht, das Andenken Verstorbener verunglimpft und verfassungswidrige Kennzeichen verwendet zu haben. Hinzu kommen Bombendrohungen an Behörden und Institutionen und der Besitz sowie die Verbreitung von kinder- und jugendpornografischem Material. Fragen zur Verstrickung hessischer und anderer bundesdeutscher Polizeikräfte lässt die Staatsanwaltschaft mehr oder weniger außen vor.

Offenbar ganz zur Freude des hessischen Innenministers Peter Beuth (CDU), der schon im Oktober letzten Jahres zu verkünden wusste: »Hessische Polizistinnen und Polizisten waren zu keinem Zeitpunkt Absender oder Tatbeteiligte der NSU-2.0-Drohmails-Serie.« Wie er das herausgefunden haben will, blieb allerdings sein Geheimnis. Als es dann im Mai 2021 zur Festnahme von Alexander M. kam, sagte der Minister: »Wenn sich der Verdacht bewahrheitet, können Dutzende unschuldige Opfer sowie die gesamte hessische Polizei aufatmen.«

Der NSU-2.0-Prozess

hat am 16. Februar 2022 vor dem Landgericht Frankfurt am Main begonnen, die Verhandlungstage sind bislang bis Ende April terminiert. Alexander M. muss sich wegen zahlreicher strafbarer Delikte verantworten. Laut Anklage versandte er von August 2018 bis März 2021 per Mail, Fax oder SMS insgesamt 116 Drohschreiben. Die hessische Linksfraktion veröffentlicht Berichte zu jeden Prozesstag auf linksfraktion-hessen.de/rechtsterror/nsu-20/, NSU-Watch verfolgt das Geschehen unter anderem auf Twitter @nsuwatch.

Nun wird also gegen einen »Einzeltäter« verhandelt. Tatsächlich wurde ein Großteil der Drohschreiben von der selben Email-Adresse verschickt – auch wenn das natürlich nicht automatisch bedeutet, dass es sich um eine einzelne Tatperson handelt. Im Gegenteil: Vieles deutet darauf hin, dass es Verbindungen zwischen verschiedenen Schreiben gegeben hat, die seit 2018 unter Namen wie »National Sozialistische Offensive«, »Wehrmacht«, »Staatsstreichorchester«, »SS-Obersturmbannführer«, »Wolfszeit 2.0« oder eben »NSU 2.0« versendet wurden. Allerdings steht bereits nach dem fünften Verhandlungstag gegen Alexander M. zu befürchten, dass der derzeitige Prozess die Art dieser Verbindungen keineswegs vollständig aufklären wird.

Drohbrieffluten und sensible Daten

Was wir jedoch erfahren und erfahren werden, ist das Ausmaß der Bedrohung durch diese Schreiben und die damit zusammenhängenden Umstände, was sie ausgelöst haben und welches zutiefst menschenverachtende Weltbild aus ihnen spricht. Der überwiegende Teil der Schreiben richtet sich an Frauen, Linke und Menschen mit Migrationsgeschichte. Es sind Seda Başay-Yıldız, Idil Baydar, Mehmet Daimagüler, Janine Wissler, Martina Renner und noch viele andere, die per Fax, Brief oder Email bedroht wurden. Rassismus und Misogynie ziehen sich wie ein roter Faden durch diese Schreiben, gepaart mit Gewaltfantasien und NS-Verherrlichung.

Rassismus und Misogynie ziehen sich wie ein roter Faden durch diese Schreiben.

Schon zu Beginn des Prozesses wurde deutlich, dass rechte und rassistische Drohschreiben in ihrer Vielzahl und Brutalität für viele Menschen in erschreckender Weise keine Ausnahme darstellen. Der Betroffene Mehmet Daimagüler sprach am ersten Prozesstag von »sicher 1.500« Drohschreiben in den letzten zwölf Jahren. Und auch Seda Başay-Yıldız berichtet allein für die Zeit der ersten Schreiben im Jahr 2018 von Hunderten rassistischen und sexistischen Mord- und Gewaltandrohungen. Beide waren unter anderem Nebenklagevertreter*innen im Münchener NSU-Prozess und stehen für ihr Engagement immer wieder im Licht der Öffentlichkeit.

Die Brisanz an diesem NSU-2.0-Prozess liegt daher nicht darin, dass Menschen in ihrem Leben bedroht wurden – das ist bittere deutsche Normalität. Aber in den Drohschreiben tauchten immer wieder sensible Daten auf, Informationen zu Angehörigen, nicht-veröffentlichte und sogar gesperrte Kontaktdaten. Und es ist genau dieser Umstand, so wurde im Laufe der ersten fünf Prozesstage deutlich, der auf der einen Seite das Vertrauen in die Polizei so tief erschüttert und der auf der anderen Seite das Ausmaß der Bedrohung entsetzlich steigert. »Wir wussten nicht, welche Daten er noch hat«, sagte Seda Başay-Yıldız vor Gericht, »wir hatten alle Angst.« Und es ist nicht nur die Angst, dass den Drohungen Taten folgen könnten. Hinzu kommt die Angst, dass die privaten Daten weitergegeben werden könnten. Im Fall von Seda Başay-Yıldız waren sie nach der Androhung der Veröffentlichung tatsächlich kurzzeitig im sogenannten Darknet abrufbar.

Laut Staatsanwaltschaft habe sich der Angeklagte als Polizist ausgegeben und sich die Informationen so per Telefon bei verschiedenen Polizeidienststellen erschlichen. Wenn das tatsächlich wahr sein sollte, wäre das mehr als peinlich für die deutsche Polizei. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass diese Informationen entweder direkt aus Dienststellen oder aus dem Darknet kamen. Schließlich hat es Personenabfragen zu Betroffenen der Schreiben von Dienstcomputern verschiedener Polizeistellen in Frankfurt, Wiesbaden, Berlin und Hamburg gegeben. Der Angeklagte könnte die Personen, die die Informationen geliefert haben, gekannt haben – denkbar wäre aber auch, dass er sie nicht kannte und die Daten in entsprechenden Foren erhalten hat. In solchen Darknet-Foren ist sich offenbar ausgetauscht worden: über Personen, die bedroht werden sollten, über Informationen, über Vorgehensweisen.

Inwieweit sich »Wehrmacht«, »Staatsstreichorchester«, »SS-Obersturmbannführer« und die anderen persönlich gekannt haben, ist unklar – aber für einen Netzwerkcharakter auch gar nicht zwingend notwendig. Es gibt jedoch verschiedene Hinweise darauf, dass sich zumindest André M. und Alexander M. gekannt haben. André M. wurde im Dezember letzten Jahres wegen des Verfassens der Drohschreiben der »Nationalsozialistischen Offensive« zu vier Jahren Haft verurteilt. Auch wenn nicht bekannt ist, wie eng die Verbindungen zwischen beiden gewesen ist, gibt es eindeutige Bezüge aufeinander: Im April 2020 verschickt NSU 2.0 eine Bombendrohung zum Prozessauftakt von André M. mit der Öffentlichkeit nicht ohne Weiteres bekannten Details.

Nebenklägerin Martina Renner hält es auf Nachfrage für ausgeschlossen, dass Polizist*innen nicht in die illegale Beschaffung sensibler personenbezogener Daten eingebunden waren. Zu sehen, dass die Behörden hier offenbar nicht gewillt sind, weitere Täter*innen zu ermitteln, so Renner, bedeute für die Betroffenen nach wie vor eine große Belastung. »Als Nebenklägerin erwarte ich, dass diese emotionale Drucksituation für die Betroffenen bei der Urteilsfindung eine Rolle spielen wird. Außerdem erwarte ich, dass die Staatsanwaltschaft neuen Ermittlungsansätzen nachgehen wird.« Bisher ist davon jedoch wenig zu erkennen.

Als Nebenklägerin erwarte ich, dass diese emotionale Drucksituation für die Betroffenen bei der Urteilsfindung eine Rolle spielen wird. Außerdem erwarte ich, dass die Staatsanwaltschaft neuen Ermittlungsansätzen nachgehen wird.

Martina Renner

In den ersten fünf Prozesstagen wurden die Aussagen des Rechtsanwalts Mehmet Daimagüler, der Rechtsanwältin Seda Başay-Yɪldɪz, der Linken-Politikerin Martina Renner, einer taz-Journalistin, des Schulleiters Ludger B., der Linken-Politikerin Janine Wissler und der Vizepräsidentin des Itzehoer Landgerichts gehört. Es wurden diverse furchtbare Drohbriefe verlesen, die selbstverständlich Angst produzieren – und es werden vermutlich noch sehr viele mehr verlesen werden. Aber zugleich wurde immer wieder klar: Keine*r der Betroffenen lässt sich dadurch einschüchtern – ob Anwalt oder Anwältin, Politikerin oder die Schüler*innen der Walter-Lübcke-Schule, die unter anderem eine Bombendrohung erhalten hatte. Sehr eindeutig formulieren einige der Betroffenen in einer gemeinsamen Erklärung, was die Anklage von Alexander M. für sie bedeutet: »Für uns ist es ein Skandal, dass die Ermittlungen gegen einen vermeintlichen Einzeltäter geführt wurden. Seit der Festnahme des nunmehr am Landgericht Frankfurt Angeklagten im Mai 2021 wird der Versuch unternommen, den sogenannten NSU 2.0-Komplex als endgültig aufgeklärt zu präsentieren.«

Ein Expertenstab macht noch keine Aufklärung

Auch der Angeklagte selbst widerspricht der Einzeltäterthese – wohl aber vor allem deswegen, weil er sich dadurch einen Vorteil erhofft. Auch vor Gericht beleidigt er anwesende Frauen, fällt ihnen immer wieder ins Wort. Es ist wichtig, seine Rolle beim NSU 2.0 aufzudecken. Aber es bleibt eben doch mehr als schal. Denn zentral wäre die Aufklärung der Vorgänge bei der Polizei. Doch da, sagen Innenminister und Staatsanwaltschaft, sei ja alles so weit in bester Ordnung. Spätestens seitdem aufgrund des Polizeiskandals rund um die rechtsextremen Chatgruppen ein Expertenstab eingerichtet wurde. Genau, ein Expertenstab – ohne Sternchen. Acht Männer, die Stefan, Hans, Volker oder Andreas heißen und allesamt zur hessischen Polizei gehören, inklusive dem Integritätsbeauftragten Harald Schneider, dessen Stelle nach dem Bekanntwerden der Vorgänge bei der hessischen Polizei eigens eingerichtet wurde.

Ende August letzten Jahres verkündete Innenminister Beuth, es sei nach »tiefgehender Analyse (…) unumgänglich« gewesen, das SEK Frankfurt aufzulösen. Die diesbezüglichen strafrechtlichen Ermittlungen hätten sich zunächst gegen 18 aktive SEK-Beamte gerichtet. In zwei dieser Fälle sollte es dann eine »intensive Prüfung hinsichtlich der künftigen Verwendung in der hessischen Polizei geben«. Wie und wo sie nun »verwendet« werden, ist unklar. Übrigens handelt es sich hier um genau das SEK, das auch nach den rassistischen Mordanschlägen in Hanau eingesetzt wurde. Genauer: Es waren dort 13 dieser 18 hessischen SEK-Beamten im Einsatz.

Auch die Diensträume des SEK Frankfurts hatte sich der Expertenstab genauer angesehen: »Sie zeugten von einer Selbst-Glorifizierung der eigenen Einheit und einem übersteigerten Elite-Verständnis. Die Kombination mit eigens aufgestellten zweifelhaften Leitsätzen, unzähligen Patronenhülsen, Totenköpfen und anderen doppeldeutigen Symbolen wie dem Lambda-Buchstaben ist in der Summe eine nicht mehr tolerable Grenzüberschreitung für eine polizeiliche Einheit«, erklärte Polizeipräsident Stefan Müller. Der Expertenstab sah zudem Fehler in der »Führungskräfteentwicklung« und in »gruppendynamischen Prozessen« und kam zu dem Schluss, dass Fehlentwicklungen zu spät erkannt worden seien. Dass Innenminister Beuth eine Tatbeteiligung von hessischen Polizist*innen an den NSU-2.0-Drohmails kategorisch ausschließt, mutet allein schon vor diesem Hintergrund seltsam an.

Maike Zimmermann

ist Redakteurin bei ak.