Wende im NSU-2.0-Prozess
Die Nebenklagevertreterin Antonia von der Behrens über Ermittlungslücken und wie die Einzeltäterthese womöglich widerlegt werden kann
Interview: Carina Book
Seit Februar sitzt im NSU-2.0-Verfahren der vermeintliche »Einzeltäter« Alexander M. auf der Anklagebank des Landgerichts Frankfurt am Main. Ihm wird unter anderem vorgeworfen, zwischen dem 2. August 2018 und dem 5. Mai 2021 in 83 Fällen Drohschreiben mit strafbarem Inhalt und unterschrieben mit »NSU 2.0« verschickt zu haben. Betroffen waren vor allem Menschen, die sich öffentlich gegen Rassismus und Antisemitismus positioniert haben. Fragen zur Verstrickung hessischer oder anderer Polizeikräfte ließ die Staatsanwaltschaft Frankfurt in ihrer Anklage außen vor. Die Nebenklageanwältin Antonia von der Behrens schildert, warum sie bald doch Thema im Verfahren werden könnten.
Der Prozess gegen Alexander M. läuft seit dem 16. Februar 2022. Wo steht das Verfahren inzwischen?
Antonia von der Behrens: In der ersten Phase wurden zunächst viele der Geschädigten gehört. Diese haben sehr deutlich gemacht, welche erhebliche Drohwirkung von den Schreiben ausgegangen ist: Zum einen, weil in diesen häufig persönliche und nicht frei recherchierbare Daten enthalten waren. Zum anderen wegen ihrer sehr gewalttätigen Sprache, die eine Mischung aus behördensprachlichen Elementen, nationalsozialistischer Sprache und Beleidigungen ist. Viele berichteten, eine Scheu gehabt zu haben, sich an die Polizei zu wenden.
Was war der Grund hierfür?
Am 2. August 2018 um 15:41 Uhr hatte meine Mandantin Seda Başay-Yıldız das erste mit »NSU 2.0« unterzeichnete Drohfax erhalten. Dort waren die nicht öffentlich recherchierbare Meldeadresse und der auch nicht öffentlich bekannte Name ihrer Tochter genannt, zu deren Tötung aufgerufen wurde. Eineinhalb Stunden vor dem Versenden dieses Drohfaxes waren unter anderem genau diese Daten auf dem ersten Frankfurter Polizeirevier von einem Polizeicomputer abgerufen worden. Dieser Umstand wurde recht schnell öffentlich bekannt. So stand früh im Raum, dass zumindest Beamt*innen des ersten Reviers in irgendeiner Form in diese Drohbriefserie involviert sind. Dadurch hat sich die Drohwirkung für viele Geschädigte erhöht. Darüber hinaus haben Geschädigte bei ihren Aussagen auch auf Ermittlungslücken hingewiesen.
Antonia von der Behrens
arbeitet seit 2003 als Rechtsanwältin in Berlin. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Migrations- und Strafrecht. Sie trat in München im NSU-Prozess als Nebenklageanwältin auf und übernahm die Verteidigung des Hauptangeklagten im TKP/ML-Verfahren. Im NSU-2.0-Verfahren ist sie die Nebenklagevertreterin von Seda Başay-Yıldız.
Inwiefern?
Viele Geschädigte sind im Ermittlungsverfahren überhaupt nicht vernommen worden. Jan Böhmermann, der ebenfalls Drohschreiben erhalten hat, ist so ein Beispiel: Er hat vor Gericht ausgesagt, dass es aufgrund der Beschaffenheit der persönlichen Daten, die von ihm und anderen in den Schreiben verwandt wurden, sehr nahe lag, dass diese nicht alle von einer Einzelperson hätten gesammelt werden können. Vielmehr vermutete Böhmermann, dass es sich um eine Art Crowdsourcing handeln müsse, an der auch Polizeibeamte beteiligt gewesen sein könnten. Doch das konnte er den Ermittler*innen nicht mitteilen, weil diese ihn gar nicht erst befragt haben. Böhmermann hat auch die fehlenden Analysefähigkeiten der Ermittelnden beklagt.
Ist das ein berechtigter Vorwurf?
Wenn man dieses Verfahren betrachtet, ja. Die ermittelnde Polizei war weitgehend im analogen Denken verhaftet und hat letztlich wenig Ahnung, wie man digital ermittelt oder wie solche Täter funktionieren. Die Ermittlungen wurden von Beginn an sehr stark verengt geführt. Der Drohschreiber konnte faktisch selbst diktieren, was ermittelt wird: Wenn »NSU 2.0« unter einem Drohschreiben stand, wurde das vom Sonderermittler in die Ermittlungen einbezogen. Drohbriefe, die zwar eine ähnliche Diktion hatten, aber anders unterzeichnet waren, wurden einfach ausgeklammert und in andere Ermittlungsverfahren geschoben. Es wurde nicht nach Zusammenhängen gesucht – es gab nicht einmal eine Ermittlungshypothese, dass der oder die Täter Kontakt zu einem im Darknet verknüpften Netzwerk hatten oder deren Teil sind. Entsprechend wurde auch immer nur nach einem Einzeltäter gesucht. Mögliche Verbindungen zu anderen Drohserien wurden ebenfalls nicht ermittelt.
Schließlich war es eine Linguistin vom BKA, die den entscheidenden Hinweis geliefert hat, indem sie die Drohbriefe nach sprachlichen Charakteristika analysiert und anschließend per Google-Suche im normalen Internet, nicht im Darknet, eingab und bei einem Kommentator bei PI-News wiederfand. Diese Erkenntnis führte dann schließlich zu Alexander M.
Im Prozess hat es kürzlich eine spannende Wendung gegeben: Von der Nebenklage wurde ein Antrag gestellt, der darauf abzielt, dass Alexander M. zumindest als Täter für das erste Drohschreiben ausscheide. Es hieß, es werde insofern ein Teilfreispruch angestrebt. Wie kam das zustande?
Das Ziel von Seda Başay-Yıldız als Nebenklägerin ist tatsächlich, dass Alexander M. für das allererste Drohfax vom 2. August 2018 freigesprochen wird. Es gibt kein überzeugendes Indiz, das auf den Angeklagten als Urheber hinweist. Es gibt aber sehr viele Hinweise darauf, dass dieses erste Drohschreiben von dem Polizeibeamten Johannes S. verschickt wurde, der auf dem ersten Polizeirevier in Frankfurt eingesetzt war. Es gibt Indizien dafür, dass er für den Datenabruf verantwortlich war, das erste Drohfax versendet hat und schließlich die von dem Polizeicomputer abgerufenen persönlichen Daten von Seda Başay-Yıldız und ihrer Familie ins Darknet gestellt haben könnte. Dort hätte der Verfasser der übrigen Drohschreiben, also mutmaßlich Alexander M., diese Daten erhalten können. Kurz nachdem öffentlich über das erste Drohfax und dessen Inhalt berichtet worden war, hat nach unserer Auffassung Alexander M. die Drohserie am 19. Dezember 2018 fortgesetzt. Dazu hat er sich die Emailadresse tuerkensau@yandex.com eingerichtet, von der die übrigen 82 in der Anklage erwähnten Drohfaxe und E-Mails versandt wurden.
Das Ziel von Seda Başay-Yıldız als Nebenklägerin ist tatsächlich, dass Alexander M. für das allererste Drohfax vom 2. August 2018 freigesprochen wird.
Der Sonderermittler hat nach der Festnahme von Alexander M. in den Raum gestellt, dieser hätte sich möglicherweise in einem Anruf beim ersten Polizeirevier als Polizeibeamter oder Staatsanwalt ausgegeben und so Daten von einer oder einem gutgläubigen Polizeibeamten oder Beamtin abfragen lassen. Ist das realistisch?
Nein, aber so lautete die öffentlich verbreitete These, der wir lange nichts entgegensetzen konnten, weil uns Akteneinsicht verweigert wurde. Nachdem wir diese hatten war klar: Diese These ist zumindest bei dem Datenabruf am 2. August 2018 praktisch auszuschließen. Die Abfragestruktur war nämlich sehr ungewöhnlich. Es ist nicht nur abgefragt worden, wo meine Mandantin gemeldet war, sondern es wurden fünf Minuten lang Informationen zu Seda Başay-Yıldız und ihrer Familie anhand von 17 verschiedenen Suchbegriffen in drei Datenbanken abgerufen. Egal, wie wenig Wert auf Datenschutz bei der hessischen Polizei gelegt wird, solch eine Abfrage macht keiner auf Zuruf für eine ihm nicht bekannte Person. Johannes S. hingegen aber hatte Gelegenheit zu dieser Abfrage.
Wurde gegen Johannes S. ermittelt?
Ja, sehr gründlich sogar, aber erst nach Mai 2019, nachdem die Ermittlungen Verdachtsmomente gegen ihn ans Tageslicht gebracht hatten. Er ist danach observiert und abgehört worden. Da war jedoch alles unauffällig. Allerdings wusste S. früh, dass der Datenabruf von dem Polizeicomputer ihres Reviers bekannt war und dass strafrechtliche Ermittlungen liefen. Er konnte sich also darauf einstellen, überwacht zu werden, weshalb wir auch nicht glauben, dass er etwas mit dem Verschicken der späteren Schreiben zu tun hat. Allerdings reicht nach unserer Auffassung – die im Gegensatz zu der der Staatsanwaltschaft steht – schon das bisher Ermittelte für eine Anklage gegen ihn aus. Nur ein Beispiel hierfür: S. hat kurz nach der Tat sein iPad verkauft, also mutmaßlich ein Beweismittel beiseitegeschafft. Ein sichergestelltes Backup dieses iPads zeigt jedoch, dass dort zwei verschiedene Tor-Browser installiert waren. Das ist deshalb interessant, weil das Drohfax vom 2. August 2018 von einem mobilen Gerät über einen digitalen Anbieter mit einem Tor-Browser verschickt worden ist. Der Angeklagte Alexander M. verfügte nach dem bisherigen Stand der Ermittlungen wahrscheinlich aber nicht über solch ein Gerät.
Was weiß man noch über Johannes S.?
Er war Mitglied in einer neonazistischen Chat-Gruppe, in die mehrere Beamte des ersten Reviers involviert waren. Die Inhalte, die S. dort geteilt hat, sind von unvorstellbarem Rassismus, Antisemitismus und Menschenverachtung geprägt. Als Rechtsanwältin hat Seda Başay-Yıldız nicht nur Nebenkläger*innen im NSU-Prozess vertreten, sondern auch mehrere Personen, die von den Behörden als islamistische Gefährder eingestuft waren und abgeschoben werden sollten. Sie hatte erreicht, dass die Stadt Bochum zur Zahlung eines Zwangsgeldes von 10.000 Euro verurteilt worden war, weil sie rechtswidrig den Gefährder Sami A. abgeschoben und nicht zurückgeholt hatte. Dies wurde im Sommer 2018 zum Anlass für eine rechte Online-Hetzkampagne gegen sie genommen. Auch für viele Beamt*innnen im ersten Polizeirevier war meine Mandantin ein rotes Tuch und passte perfekt in das Feindbild von Johannes S. Der Verdacht liegt nahe, dass sich ein Polizeibeamter auf dem Höhepunkt dieser Hetzkampagne dachte: »Ich mache mal Nägel mit Köpfen.«
Der Fall ist auch deshalb besonders komplex, weil es nach dem 2. August 2018 zu einem weiteren Datenleak in Bezug auf Seda Başay-Yıldız gekommen ist…
Ja, meine Mandantin war kurz vor dem Erhalt des ersten Drohschreibens umgezogen und hatte sich noch nicht umgemeldet. Deshalb fand sich auch in dem ersten Drohschreiben »nur« die alte Meldeadresse. Was natürlich, bei aller Sorge über dieses Drohschreiben, meine Mandantin auch etwas erleichterte. Die neue Adresse wurde dann zusammen mit der Anmeldung mit einer Auskunftssperre im Melderegister belegt. Daher wissen wir, dass es keinen Datenabruf in Bezug auf diese Adresse gab. Jedoch erhielt der Verfasser der Drohschreiben – also mutmaßlich Alexander M. – auch diese Adresse und schickte Seda Başay-Yıldız Anfang 2020 Drohschreiben, in denen die neue Adresse enthalten war. Der Höhepunkt der Bedrohung war, dass am ersten Jahrestag des Attentats von Hanau auf einer Webseite im Internet die Adresse zusammen mit einem Mordaufruf veröffentlicht wurde. Jeder konnte das abrufen. Niemand wusste, ob nicht tatsächlich jemand eine Waffe in die Hand nimmt und diesen Mordaufruf in die Tat umsetzt. Bis heute ist unklar, wie diese Adresse bekannt wurde.
Wie geht der Prozess nun weiter?
Als nächstes werden weitere Ermittlungsbeamte gehört werden. Ab Ende April werden dann die Polizeibeamt*innen des ersten Reviers vernommen, die am Tag der Verschickung des ersten Drohfaxes Dienst hatten. Auch Johannes S. und seine Kollegin, unter deren Kennung die Abfrage gemacht wurde, sind als Zeug*innen geladen. Diese Vernehmungen werden sehr wichtig, weil sie die Erzählung des hessischen Innenministers Peter Beuth und des Sonderermittlers weiter ins Wanken bringen könnten. Sie haben sich allzu sehr gefreut, dass sie einen Einzeltäter präsentieren und die hessische Polizei als entlastet darstellen konnten. Das grenzte schon an Irreführung, und wir hoffen, dass das auch im Prozess so herausgearbeitet werden wird.