Exportschlager Repression
Gegen die Geopolitik von Deutschland und EU formiert sich transnationaler Protest
Von Kochob Mihretaab und Mihir Sharma
Am 21. Mai organisierte Afrique Europe Interact (AEI) in Berlin zusammen mit Aktivist*innen der algerischen Hirakbewegung, Women in Exile, Alarmphone Sahara, Seebrücke und weiteren Initiativen drei Kundgebungen vor den Botschaften Nigers, Algeriens und Tunesiens im Rahmen des »transnationalen Aktionstags für Bewegungsfreiheit und gegen Abschiebungen«. In der Kritik standen sowohl die EU-geförderte Etablierung der Außengrenzen in Afrika als auch die damit verbundenen Kollaborationen afrikanischer Staaten mit der EU. Parallel fanden transnationale Aktionen in Agadez in Niger, Sokodé in Togo, Kindia in Guinea und Bamako in Mali statt, um auf die aktuelle Lage der Migrationspolitik aufmerksam zu machen. Hauptaugenmerk der Protestierenden war vor allem die gewaltsame Abschiebepraxis zwischen den Sahara- und Sahelstaaten.
In ihren Briefen an die jeweiligen Botschaften forderten die Aktivist*innen einen sofortigen Stopp der EU-Abschiebungspolitik in vermeintliche Herkunftsländer, ein Ende der Abschiebungspolitik innerhalb der Transitstaaten sowie ein Ende der Erpressung »rücknahmeunwilliger« Staaten und die Aufhebung des wirtschaftlichen und politischen Drucks der EU-Staaten auf die Länder des Globalen Südens.
Festung Europa in der Subsahara
Niger bildet seit den 1990er Jahren eines der bedeutsamsten Transitländer für die Migrationsroute von West- und Zentralafrika nach Europa über Libyen. Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) haben allein im Jahr 2016 292.000 Migrant*innen Niger auf ihrer Reise nach Libyen durchquert. Auf Drängen der Europäischen Union verabschiedete die nigrische Regierung 2015 ein Gesetz, das das Schleusen kriminalisierte und die Verhinderung von illegalen Ein- und Ausreisen zum Ziel hatte. Dieser Wandel in der nigrischen Migrationspolitik beinhaltete einen Ausbau der dazugehörigen Infrastruktur, der von der EU und den USA gefördert wurde. Dabei wurden unter anderem die Grenzmanagementtechnologie ausgebaut: zum Beispiel der Einsatz biometrischer Bildidentifikation und gemeinsame Ermittlungsteams spanischer und nigrischer Polizeikräfte.
Neben der Finanzierung migrationspolitischer Kontrollinstrumente durch die EU im Rahmen der Entwicklungshilfe hat Deutschland 2018 eine Militärbasis in Niger errichtet. Welche Rolle das Land für die deutsche und europäische Grenzpolitik spielt, fasste die damalige deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen im Jahr 2018 bei ihrem Besuch so zusammen: »Ihr Land ist uns ein wertvoller, zuverlässiger und entschlossener Partner im Kampf gegen den Terrorismus, gegen die organisierte Kriminalität und illegale Migration in der Region.« Parallel ließ sie dem Transitstaat 100 Militärfahrzeuge zukommen.
Das Gesetz unterscheidet nicht zwischen Migrant*innen, Schlepper*innen, Freiwilligen und Organisationen.
Chehou Azizou, Alarmphone Sahara
Für Aktivist*innen des Alarmphone Sahara (APS) in Agadez bereiten das Gesetze in Niger und die Abkommen zwischen der EU, Algerien und Niger Probleme. »Das Gesetz unterscheidet vor allem nicht zwischen Migrant*innen, Schlepper*innen, Freiwilligen und Organisationen, die den Migrant*innen Schutz oder Rettungshilfe anbieten«, sagt Chehou Azizou aus dem Hauptbüro der Organisation in Agadez. Alarmphone Sahara versucht vor allem, Menschen in Niger, Mali, Marokko, Burkina Faso vor den Gefahren entlang der Fluchtrouten zu warnen, ihre Erfahrungen zu dokumentieren sowie ihnen Schutz und lebensrettende Hilfe in der Wüstenregion anzubieten. Gleichzeitig macht die Organisation auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam. Azizou betont, dass eine transnationale Vernetzungsstruktur nötig war, um gegen die Migrationspolitik agieren zu können. Alarmphone und AEI koordinieren ihre Aktivitäten und tauschen Informationen in zahlreichen Büros in Nord- und Westafrika sowie in Deutschland und Österreich aus.
Algerien als Kooperationspartner
Trotz einer Verschlechterung der Menschenrechtslage in Algerien schloss die Bundesregierung im Dezember 2020 eine neue bilaterale Kooperation mit dem Land ab, die es zum privilegierten Empfänger deutscher Entwicklungshilfe machte. Innenpolitisch geht Algerien insbesondere seit den Massenprotesten von 2019 repressiv gegen die Hirakbewegung (arabisch für Aufstand, Rebellion) vor. Die Bewegung ist als Reaktion auf das herrschende Militärregime entstanden und fordert einen kompletten Macht- und Regimewechsel, demokratische Wahlen und die demokratische Miteinbeziehung der Zivilbevölkerung in der politischen Gestaltung des Staates.
Die Exilgruppe von Hirak hat im Zuge der bilateralen Partnerschaft in der Vergangenheit bereits Kundgebungen vor dem Kanzler*innenamt organisiert. »In Algerien herrscht eine Diktatur, und die allgemeinen Menschenrechte werden gar nicht respektiert. Daher verurteilen wir die Partnerschaft mit Algerien«, so ein Aktivist von Hirak Berlin.
Laut einigen Aktivist*innen und Politiker*innen geht es in diesem Abkommen um die Verhinderung von Migration. Als Antwort auf eine Anfrage der Linkspartei bestätigte die Bundesregierung, dass »Algerien … migrationspolitisch als Transitland für westafrikanische Flüchtlinge und Migranten von Bedeutung« sei. »Es ist systematisch gewollt, dass hier in Deutschland das algerische Regime nicht kritisiert wird, und im Gegenzug das algerische Regime mit Deutschland kooperiert und die Migration nach Europa verhindert wird«, so die Aktivist*innen.
Die Bundesregierung koppelt mit ihrer neuen Länderliste der bilateralen Partnerschaft Entwicklungshilfe mit der Bekämpfung von Flucht. »Der Großteil der politischen Parteien in Deutschland, die aktuell die Migrationspolitik bestimmen, betreibt vor allem eine Politik, die diese globalen Ungleichheitsverhältnisse unglaublich befeuert. Dies führt dazu, dass Menschen im Globalen Süden dort gehalten werden, obwohl sie keine guten Lebensperspektiven haben, und das aus einem reinen Privileg der willkürlichen Geburt heraus«, kommentierte Ethnologin Laura Lambert in einem ak-Interview. Auch der Grünen-Politiker Uwe Kekeritz sieht die Partnerschaft Algeriens als verheerendes Signal und ergänzt, anstatt die Kooperation – wie oft behauptet – an Kriterien wie gute Regierungsführung, Korruptionsbekämpfung oder Bedürftigkeit zu koppeln, verfolge man in Deutschland vielmehr geopolitische Interessen. »Statt der Bekämpfung von Armut und Ungleichheit rückt so die Verteidigung der Festung Europa in den Fokus«, so Kekeritz. AEI, Pro Asyl und unzählige Flüchtlingsräte beobachten diese politischen Entwicklungen kritisch und fordern von der Bundesregierung ein Ende dieser Abschottungspraxis – bisher jedoch erfolglos.
Border Business
Auch wenn Migrant*innen es schaffen, die nigrische Grenze zu überqueren, erwartet sie in Algerien die nächste Hürde. Durch das Abschiebeabkommen zwischen Algerien und Niger kam es in den letzten Jahren wöchentlich zu lebensgefährlichen Massenabschiebungen, die Menschen – unter anderem auch unbegleitete minderjährige Geflüchtete – in Abschiebekonvois nahe der nigrischen Grenze aussetzt und sie dadurch zwingt, die Sahara mehrere Kilometer nach Niger oder Mali zu durchqueren. Offiziell gilt das Abkommen nur für nigrische Staatsbürger*innen. »Sie werden meistens in ›offiziellen‹ Abschiebekonvois direkt bis zum nigrischen Grenzposten gebracht, dort an die nigrische Grenzpolizei übergeben und direkt weiter bis nach Agadez transportiert«, teilte uns AEI mit. Es gibt aber auch zahlreiche inoffizielle Konvois, mit denen in den letzten Jahren tausende Menschen aus anderen Ländern aus Algerien abgeschoben werden. Laut AEI werden sie 15 bis 20 Kilometer vor dem nigrischen Grenzposten rausgeschmissen und müssen sich dann selber durchschlagen. »Das alles führt dazu, dass die Fluchtrouten noch gefährlicher werden für die Migrant*innen, mit schlimmeren Konsequenzen. Sie versuchen, eine tödliche Wüste zu durchqueren, und danach, wenn sie es schaffen, das Mittelmeer«, so Azizou von Alarmphone Sahara.
Neben den Folgen für Asylsuchende gibt es auch Konsequenzen für migrantische Arbeiter*innen, die fast die Hälfte der Bevölkerung vieler Dörfer ausmachen. Die Forscherin Melanie Müller argumentiert in ihrem Bericht für die Stiftung Wissenschaft und Politik, dass »für den westafrikanischen Wirtschaftsraum … Mobilität eine große Bedeutung (hat): Arbeitsmigration im Dienstleistungssektor sowie in der Land- und Viehwirtschaft generiert wichtige Einkommensquellen. Auch wenn die nigrische Regierung zwischen legaler und illegaler Migration unterscheidet, kann die neue Gesetzgebung de facto diese zirkuläre Migration behindern. Nur wenige BürgerInnen der ECOWAS Region besitzen einen Pass, weil sie bislang für den Grenzübertritt nicht darauf angewiesen waren.«
Durch die Kriminalisierung von Migration seitens der nigrischen Regierung ist der Spielraum für Vereine und Aktivist*innen begrenzt.
Trotz der Militarisierung und Aufstockung des Grenzapparates durch die EU und der Abschreckungskampagnen der IOM, die Migrant*innen und Geflüchtete gezielt von Migrationsversuchen abhalten will, gab es in Niger spontane Proteste von Geflüchteten und Migrant*innen, die sich gegen ihre Entrechtung wandten. Durch die Kriminalisierung von Migration seitens der nigrischen Regierung ist jedoch der Spielraum für Vereine und Aktivist*innen, die sich für Bewegungsfreiheit und die Rechte von Migrant*innen und Geflüchteten einsetzen, begrenzt. Umso wichtiger ist die Rolle transnationaler Netzwerke wie AEI, Alarmphone Sahara und Alarmphone Mediterranée geworden, um ein politisches Zeichen gegen die Abschiebepraxis zu setzen und Migrant*innen in ihrem Recht auf Bewegungsfreiheit zu unterstützen.
Die neue Grenzpolitik bleibt sowohl für die nigrischen und algerischen Regierungen als auch für die europäischen Migrationsinteressen profitabel. Dagegen kämpfende Aktivist*innen fordern im Interesse der Menschenrechte eine andere Politik, wie Azizou in Agadez sagt: »Die Anführer*innen der EU-Länder investieren kolossale Summen, um die Migration nach Europa zu verhindern: in Form von Rüstungsexporten, um Grenzkontrollen zu ermöglichen und Polizeikräfte auszubilden und auszurüsten. Aber wir sagen, warum wird dieses Geld nicht in Projekte investiert, die die Probleme der Menschen adressieren, die dazu führen, dass Menschen in Afrika überhaupt gezwungen werden, zu fliehen?«