Die Vogelgrippe geht um
Während über das Coronavirus trotz neuer ansteckender Varianten kaum noch berichtet wird, häufen sich die Meldungen über ein neues globales Gesundheitsrisiko
Von Eva Gelinsky
Ist New York auf eine Vogelgrippe-Pandemie vorbereitet, fragte Ende Juni die New York Times. Ähnlich ein Titel des Spiegel Ende Juli: Führt die Vogelgrippe zur nächsten Pandemie? Der Auslöser dieser Berichte: Das seit vielen Jahren bekannte Vogelgrippe-Virus der Variante H5N1 kursiert zunehmend auch unter Säugetieren wie Katzen und Milchkühen. Immer wieder stecken sich Menschen bei den erkrankten Tieren an.
Als »besorgniserregend« wurden zuletzt Studienergebnisse der Cornell University in den USA eingestuft, die belegen, dass das Virus inzwischen auch von Säugetier zu Säugetier übertragen werden kann. Auch wenn die Gefahr einer Mensch-zu-Mensch-Übertragung von Virolog*innen derzeit noch als »eher gering« eingeschätzt wird, nehmen die Warnungen zu: In einer aktualisierten Liste der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird das Risiko von H5N1 (und weiteren Varianten) in der Kategorie »Public Health Emergencies of International Concern (PHEICs)« als »hoch« eingestuft, und auch die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) schlägt Alarm: Die Virusvariante H5N1 sei global so weit verbreitet wie niemals zuvor. Sie fordert die Mitgliedstaaten der UN daher zu »unverzüglichen und koordinierten Präventivmaßnahmen« auf. Es brauche »umfassende Systeme zur Überwachung«, »Kapazitäten für Schnelldiagnostik und Bioinformatik« und einen raschen Austausch von Virusdaten.
Anfang Mai hat die EU-Kommission mit Celldemic und Incellipan zwei Impfstoffe der Pharmafirma CSL Seqirus zugelassen, die gegen H5N1 schützen können. Aus Sorge vor steigenden Fallzahlen hat Finnland als erstes Land weltweit damit begonnen, Arbeitende auf Geflügelfarmen, Tierärzt*innen sowie Forschende gegen die Vogelgrippe zu impfen. In Deutschland führt das Friedrich-Loeffler-Institut (FLI) derzeit eine Infektionsstudie zur Empfänglichkeit von Milchkühen durch. Das FLI untersuchte vorsorglich bereits rund 1.400 Rinderserumproben aus von Geflügelpest besonders betroffenen Regionen in Deutschland auf Antikörper und etwa 350 Tankmilchproben aus verschiedenen Regionen mittels PCR auf das Virusgenom, mit jeweils negativem Ergebnis.
Von Wasservögeln zu Geflügel und wieder zurück
Sogenannte aviäre Influenzaviren, Grippeviren, die normalerweise nur in Vögeln vorkommen, kursieren in niedrig pathogener Form seit Jahrhunderten in Wasservögeln wie Enten, Wildgänsen oder Möwen. Diese Influenzaviren vermehren sich nicht nur im Atem-, sondern auch im Darmtrakt der Tiere, sie werden also mit dem Vogelkot ausgeschieden und verbreiten sich über das Wasser. »Niedrig pathogen« bedeutet, dass sich Wirt und Virus miteinander »arrangiert« haben; auch wenn die Wasservögel eine hohe Virenlast aufweisen, zeigen sie nicht unbedingt Krankheitssymptome. Wenn solche niedrig pathogenen Viren in neue Wirte gelangen, kann es zu Mutationen kommen. Dies geschah Mitte der 1990er Jahre, als eine Influenza-Variante mit der Bezeichnung H5N1 Gänse in einem landwirtschaftlichen Betrieb in der südchinesischen Provinz Guangdong infizierte. Diese Variante entwickelte sich rasch zu einer Form, die sowohl hoch ansteckend als auch tödlich für Geflügel ist. Als diese nun hoch pathogene Variante anschließend wieder Wildvögel infizierte, begann sie sich weltweit auszubreiten. (1)
Finnland hat bereits begonnen, Menschen zu impfen.
Das seit Herbst 2021 auch in Europa dominante, hochpathogene aviäre Influenzavirus des Subtyps H5N1(»Klade 2.3.4.4b«) ist quasi der Ur-Ur-Enkel des Virus aus Guangdong. Dieses Virus hat inzwischen unzählige Geflügelbetriebe und Seevogelkolonien heimgesucht. Ist das Virus erst einmal irgendwo eingeschleppt worden, wütet es unter den empfänglichen Vogelarten. Allein in Chile und Peru verendeten innerhalb weniger Monate mindestens eine halbe Million Seevögel. Inzwischen ist das Vogelgrippevirus fast rund um den Globus verbreitet, auch das sensible Ökosystem der Antarktis hat es erreicht. Ein Mitarbeiter des Friedrich-Löffler-Instituts wurde jüngst mit den Worten zitiert: »Was wir jetzt sehen, hat geradezu historische Ausmaße«.
In Europa tritt das Virus in vielen Küstenländern wie etwa Deutschland, Dänemark oder Großbritannien längst nicht mehr nur saisonal mit den Zugvögeln auf, sondern über das ganze Jahr hindurch. Die schiere Anzahl infizierter Wildvögel und Geflügel hat dazu geführt, dass Spillover-Infektionen bei wilden Fleischfressern und Meeressäugern aufgetreten sind, darunter Füchse, Braunbären, Delfine, Otter und Seehunde.
Ein krankes System
Im April 2024 meldete das US-Landwirtschaftsministerium erstmals, dass der Erreger Milchkühe infiziert hat. Die Infektion von Rindern birgt das Risiko, dass sich das Virus in einem neuen Wirt und einem neuen Reservoir von rund 1,5 Milliarden Tieren weltweit ausbreiten kann. Darüber hinaus gibt es neue Möglichkeiten für einen direkten Kontakt zwischen dem Virus und dem Menschen. Riskant wäre, wenn ein Mensch infiziert wird, der bereits humane Influenzaviren in seinem Körper trägt, mit denen das aviäre Virus reassortieren könnte, sprich die genetischen Informationen zweier Vieren sich neu verteilen oder mischen. Hierbei könnte das neue Virus Teile des Virusgenoms von bereits angepassten Influenzaviren übernehmen und so unmittelbar eine Vermehrungs- und Übertragungskompetenz für die neue Wirtsart (den Menschen) erwerben. Wissenschaftler*innen aus Europa fordern daher nachdrücklich, dass der Ausbruch in den Vereinigten Staaten schnell unter Kontrolle gebracht werden müsse.
Doch gerade das Beispiel USA zeigt, wie wenig Biosicherheitsauflagen in Megabetrieben mit bis zu 1.000 Kühen greifen. Und so kritisierte die Neue Zürcher Zeitung im Mai ungewöhnlich scharf, die zuständigen US-Behörden handelten fahrlässig. Weder sei bekannt, wie ein Ausbruch auf einem landwirtschaftlichen Betrieb wirklich ablaufe; es fehlten alle nötigen Daten, um die Übertragungswege zu rekonstruieren. Noch seien detaillierte epidemiologische Daten vorhanden. Auch zeigten Stichprobenuntersuchungen in der Milch aus verschiedenen Supermärkten, dass der Ausbruch vermutlich viel größer ist und mehr Bundesstaaten betrifft, als derzeit offiziell gemeldet wird. Um einen Überblick über das wahre Ausmaß der Epidemie zu bekommen, müssten zumindest Milchproben aus Tankwagen getestet werden. Doch dies geschieht nicht.
Massentierhaltung – perfekte Brutstätte für Viren
Die industrialisierte Massentierhaltung könnte im aktuellen Fall von H5N1 »2.3.4.4b« also zu einer entscheidenden Zwischenstation werden, denn diese Art der »Tierproduktion« bietet die perfekten Voraussetzungen für die Entwicklung besonders virulenter Krankheitserreger: Die »genetische Monokultur« der Zuchttiere, die Größe der Populationen und die hohe Dichte befördern hohe Übertragungsraten. Die beengten Verhältnisse und die Zucht auf Höchstleistung – möglichst viele Eier, viel Milch oder viel Fleisch in kurzer Zeit – schwächen die Immunreaktion der Tiere. Auch der schnelle Umschlag, der zu jeder industriellen Produktion gehört und der permanent neue anfällige Wirtskörper liefert, befeuert die Evolution von Virulenz. Mit Hilfe von Züchtung und Fütterung wurde beispielsweise die Zeit bis zur Weiterverarbeitung von Hühnern von 60 auf 40 Tage gesenkt, weshalb die Viren gezwungen sind, die Übertragungsschwelle – und die damit einhergehende Virulenz – viel schneller zu erreichen.
Daher werden, wie der politische Epidemiologe und Biologe Rob Wallace betont, auch im Fall von H5N1 weder lukrative neue Medikamente oder aktualisierte Impfstoffe noch mehr Forschung ausreichen, um die Ursachen des Problems in den Griff zu bekommen: »Wenn man ein Virus stoppen will, das eine Milliarde Menschen töten kann, muss man das derzeitige System verändern.« Die Frage, ob die Vogelgrippe das Potenzial habe, eine Pandemie auszulösen, verfehle also den Kern des Problems.
So wichtig es also ist, dass Wissenschaftler*innen nun weltweit vermehrt Virusvarianten genetisch sequenzieren und ihre evolutionäre Dynamik verfolgen – allein die Erfahrungen mit dem Coronavirus sollten gezeigt haben, dass diese Arbeit nicht ausreicht, um die strukturellen Ursachen von zoonotischen Krankheitsausbrüchen zu verstehen. Darüber hinaus machen der staatliche, gesellschaftliche, aber gerade auch der »linke« Umgang (ak 701) mit der weiterhin andauernden Corona-Pandemie schmerzhaft deutlich: Bis auf kleinere Gruppen wie Pandemic Research for the People gibt es kaum Bewegungen, die sich mit Fragen und Aufgaben einer solidarischen Gesundheitsversorgung auseinandersetzen. Dabei zeigen sowohl Covid als auch die aktuelle H5N1-Welle, dass die kapitalistische Zurichtung und Verwüstung der Natur uns in Zukunft noch mehr derartiger »Plagen« bescheren dürfte.
Anmerkung:
1) Details bei Rob Wallace: Wie entstand die Vogelgrippe? Zur politischen Virologie des Agrarweltmarktes, in: ders.: Was Covid-19 mit der ökologischen Krise, dem Raubbau an der Natur und dem Agrobusiness zu tun hat, Köln 2021, Seite 45–84.