Herausforderung in Fernost
Die Nato gibt sich eine neue Strategie – sie beinhaltet die Rückkehr zu großen Streitkräften und eine Entgrenzung des Sicherheitsbegriffs
Von Axel Gehring
Ende Juni hat die Nato ein neues strategisches Konzept verabschiedet. Die russische Invasion der Ukraine hat in diesem tiefe Spuren hinterlassen: Die Russische Föderation habe, so heißt es, »gegen die Normen und Grundsätze verstoßen, die zu einer stabilen und vorhersehbaren europäischen Sicherheitsordnung beigetragen haben.« Eine Attacke gegen die Souveränität und territoriale Integrität der Nato-Alliierten könne nicht ausgeschlossen werden. Zwar hatte die Nato auch in ihrem Vorgänger-Konzept aus dem Jahr 2010 die Verteidigung der Allianz als ihr Kernziel definiert, aber eingeräumt, dass ein direkter Angriff auf das Bündnis sehr unwahrscheinlich sei.
In der neuen Strategie werden nun drei Kernziele formuliert: Abschreckung und Verteidigung, Krisenprävention und -management sowie kooperative Sicherheit. Das Bündnis betont, dass es Abschreckung und Verteidigung als Rückgrat des Nato-Verteidigungsfalls nach Artikel 5 stärken werde. Konkret bedeutet das eine Rückkehr der großen, hochtechnisierten Streitkräfte, die primär dafür geschaffen sind, Konflikte mit anderen großen, hochtechnisierten Streitkräften austragen und gewinnen zu können. Die Fähigkeit zum »Krisenmangement« à la Somalia, Balkan, Afghanistan oder Mali bleibt dabei erhalten; sie erfordert ohnehin kleinere und leichtere Einheiten, die seit jeher Bestandteil großer Streitkräfte sind.
Die Nato bekundet derweil, offen für alle europäischen Demokratien zu bleiben, die die Verpflichtungen der Mitgliedschaft tragen und zur gemeinsamen Sicherheit des Bündnisses beitragen. Letzteres ist ein verklausulierter Hinweis darauf, dass für die im Krieg befindliche Ukraine eine Aufnahme nicht auf der Agenda steht. Zugleich betont die Nato aber, dass Drittparteien keinen Einfluss auf Beitrittsentscheidungen haben.
Das strategische Konzept betrachtet die Sicherheit beitretender Staaten als verbunden mit der eigenen Sicherheit. Obgleich die Verteidigung des Bündnisgebietes Kernaufgabe bleibt, wird Sicherheit zunehmend nicht nur geografisch entgrenzt. Auch Cyberattacken können nun den kollektiven Bündnisfall nach Artikel 5 auslösen. Die intensivierte globale Staatenkonkurrenz, die zurzeit im Grunde nur problematische Akteur*innen kennt, lässt die Schwelle zum großen Krieg tendenziell immer weiter sinken.
Verhältnis zur Abrüstung
Das Verhältnis zu Fragen der (Ab-)Rüstung ist ambivalent. Im Konzept wird betont, dass »strategische Stabilität« durch »effektive Abschreckung und Verteidigung« erreicht werde und ein ernsthafter und gegenseitiger politischer Dialog weiterhin essenziell für »unsere Sicherheit« sei. Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nicht-Proliferation sollen dazu beitragen. Vor allem die Nicht-Proliferation lässt erkennen, dass Abrüstung im Prinzip durchaus angestrebt wird, aber unter der Bedingung, dass der rüstungstechnologische Abstand zu konkurrierenden Akteuer*innen gewahrt bleiben soll.
Die prinzipielle Offenheit für Abrüstung durchkreuzt also nicht die reale Praxis der Aufrüstung im Zuge der intensivierten globalen Großmächtekonkurrenz. Dies wird auch deutlich in den Ausführungen zur Nuklearrüstung. Rüstungskontrolle ist dort im Wesentlichen reduziert auf den Nichtverbreitungsvertrag, der die Weitergabe von Waffen und Know-how an Staaten verhindern soll, die noch nicht die Fähigkeit zur Nuklearrüstung erlangt haben. Neue Initiativen oder die bereits zu Zeiten des Kalten Krieges geschlossenen Kontroll- und Abrüstungsvereinbarungen zwischen den USA und Russland neu zu beleben, finden sich nicht.
Auch Cyberattacken können nun den kollektiven Bündnisfall nach Artikel 5 auslösen.
Trotz der imperialen und nationalromantischen Dimension der russischen Ukraine-Invasion sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass außer dem New START-Vertrag kein signifikanter Vertrag zur nuklearen Begrenzung zwischen den USA und Russland mehr besteht. Insbesondere die letzten republikanischen US-Regierungen haben hier eine unrühmliche Rolle gespielt. Seit kurzem setzt Russland zudem durch die Verweigerung von Inspektionen den START-Vertrag nicht mehr voll um.
Sorge um Partnerschaft zwischen China und Russland
Anders als 2010 wird China im neuen Konzept erwähnt – und zwar als eine Herausforderung für »unsere Interessen, Sicherheit und Werte«. China grenzt zwar nicht an Nato-Bündnisgebiet, doch gilt das Land als »systemischer Konkurrent«, der eine Herausforderung für die euroatlantische Sicherheit darstelle. »Die VR China setzt ein breites Spektrum politischer, wirtschaftlicher und militärischer Instrumente ein, um ihre globale Präsenz und Projektionsmacht zu vergrößern, während sie ihre Strategie, Absichten und ihren militärischen Aufbau im Dunkeln lässt.« Zudem nutze die Volksrepublik wirtschaftliche Hebel, um strategische Abhängigkeiten zu schaffen und ihren Einfluss zu vergrößern. Und die Nato sorgt sich, dass China und Russland ihre strategische Partnerschaft vertiefen.
Gleichwohl betont das Konzept eine Offenheit zum »konstruktiven Engagement« mit China. Dieses wird allerdings unter Vorbehalt eigener Sicherheitsinteressen gestellt. Die Nato möchte ihre »Reichweite auf Länder in unserer weiteren Nachbarschaft und auf der ganzen Welt ausweiten und offen bleiben für die Zusammenarbeit mit jedem Land oder jeder Organisation, wenn dies unsere gegenseitige Sicherheit stärken könnte«.
Diese Formulierungen legen nahe, dass der Begriff des Bündnisgebietes als solcher an Bedeutung verloren hat. Insofern stellt das neue Konzept, trotz seiner stärkeren Betonung konventioneller militärischer Auseinandersetzungen zwischen Staaten, keine Rückkehr zur Verteidigungsdoktrin des Kalten Krieges dar. Denn diese beschränkte sich weit stärker auf das Bündnisgebiet. Allerdings grenzte mit den Staaten des Warschauer Vertrages die Militärallianz der damaligen realsozialistischen systemischen Konkurent*innen unmittelbar an das Bündnisgebiet.
Den Dreh- und Angelpunkt, der diesen Widerspruch überbrückt, aber ihn zugleich überhaupt erst ermöglicht hat, bildet das Konzept der »regelbasierten internationalen Ordnung«. Es wurde nicht erst mit dem neuen Nato-Konzept eingeführt, sondern hat sich in liberalen sicherheitspolitischen Diskursen schon vorher als Reaktion auf die Verschiebung der globalen Kräfteverhältnisse hin zu nicht liberaldemokratisch verfassten Staaten wie China herausgebildet. Zudem spielte es eine wichtige Rolle für die liberale Kritik der US-Außenpolitik unter Donald Trump, die ihrerseits jene globalen Institutionen und Regeln angriff, die aus westlicher Hegemonie hervorgegangen waren und diese bis heute stabilisieren. Die regelbasierte Ordnung wird als eine globale verstanden, sie kann nicht allein auf dem Territorium des Bündnisgebietes verteidigt werden.
Systemische Konkurrenz eindimensional gedacht
Nehmen wir diesen wiederholt vorgebrachten Topos der systemischen Konkurrenz ernst, so stoßen wir auf Widersprüche, die nicht primär im strategischen Konzept an sich liegen. Wie wird systemische Konkurrenz eigentlich an gesellschaftliche Verhältnisse in ihrem weiteren Sinne zurückgebunden? Solche Fragen mögen nicht die Aufgabe von Militärpolitik an sich sein, doch tatsächlich umfasst der von der Nato zugrunde gelegte weite Sicherheitsbegriff namentlich auch Fragen von Good Governance, Klimawandel, Human Security sowie Geschlechtergleichheit als eine »Reflektion unserer Werte«. Anders gesagt, militärische Verteidigungsfähigkeit beruht auf Dingen, die jenseits des unmittelbar Militärischen liegen – nämlich auf Ideen und Praxen, die liberaldemokratisch verfasste kapitalistische Staaten heute als ihre Daseinsberechtigung beanspruchen.
Die realsozialistischen Staaten verloren den Kalten Krieg aufgrund ihrer erlahmenden gesellschaftlichen Produktivität und einer unzulänglichen Fähigkeit, weiter hegemoniepolitisch für die damalige Systemauseinandersetzung zu mobilisieren. In den (metropolitanen) westlichen Staaten ging der Kalte Krieg dagegen mit einer Phase der gesellschaftlich-ökonomischen Reform mittels vertiefter, aber subalterner, Integration der Lohnarbeitenden einher. Der Kalte Krieg war in diesem Sinne auch eine Auseinandersetzung zwischen der hegemonialen westlichen Sozialdemokratien und den in sich fragilen Realsozialismen gewesen. In den hochproduktiven westlichen Metropolen hatten die hohen Rüstungsausgaben keineswegs einen Verlust an Wohlfahrt bedeutet. Vielmehr hatten sie eine Möglichkeit dargestellt, überakkumuliertes Kapital in staatlichen Konsum zu lenken. Der wirtschaftliche Nachkriegsboom konnte so verlängert, die Wohlfahrtsstaaten mittelbar stabilisiert und technische Innovationen forciert werden. Ironischerweise gewann die Neoliberalisierung erst so richtig an Schwung, als sich die Unterlegenheit der realsozialistischen Staaten in der Systemkonkurrenz abzeichnete.
Ein kriselnder Rohstoffexporteur mit einem Bruttoinlandsprodukt wie etwa dem Italiens stellt heute keine systemische Herausforderung dar. Russlands Invasion der Ukraine macht ihn zu einer militärischen Herausforderung, die trotz allen Wendungen des Krieges – mittel- und langfristig – auf überlegenes westliches Militär- und Wirtschaftspotenzial trifft.
Doch der eigentliche systemische Konkurrent China trifft auf westliche Staaten, deren gesellschaftliche Stabilität und ökonomische Produktivität durch Jahrzehnte neoliberaler Reformen von innen geschwächt wurden. Darüber, ob Neoliberalismus mit seiner wachsenden Fragilität einer systemischen Konkurrenz mit anders verfassten dynamischen Kapitalismen langfristig standhalten kann, lesen wir im strategischen Konzept nichts. Der Aufstieg nicht-westlicher Staaten ist aber auch das Ergebnis Jahrzehnte zurückliegender profitorientierter Standortentscheidungen, die sich nun in verschärfter geopolitischer Konkurrenz materialisieren.