Festival des Irrationalismus
Nach der Demonstration in Leipzig: Wie ist die »Querdenken«-Bewegung einzuschätzen?
Von Marcel Hartwig
Leipzig am 7. November 2020. Gegen Abend ist die Stimmung rund um den Hauptbahnhof gekippt. Eine Gruppe von mehreren hundert Hooligans, Neonazis und rechten Kampfsportlern hat Absperrungen der Polizei durchbrochen, und macht denen, die zuvor Teilnehmende der »Querdenken« Kundgebung auf dem Augustus Platz in der Innenstadt waren, den Weg frei, sich auf dem Innenstadtring als Demonstration zu formieren. Gesänge werden laut: »Oh wie ist das schön«, ist ebenso zu hören wie der aggressive Ruf: »Straße frei!« Es fliegen Flaschen, Steine und Böller auf die Polizei, die sich schrittweise zurückzieht, und schließlich die Innenstadt Leipzigs für eine nicht genehmigte Demonstration der Anhängerschaft von »Querdenken« freigibt.
Zuvor hatten sich Zehntausende auf dem Augustus Platz zu einer Kundgebung versammelt: ohne Abstand und Masken. Wer an diesem Tag im Umfeld der Kundgebung eine Maske trug wurde angepöbelt oder körperlich bedrängt. Journalist*innen werden bedroht und geschlagen. Am folgenden Sonntag pilgerten »Querdenken«-Anhänger*innen zum Völkerschlachtdenkmal vor den Toren Leipzigs, wo sich die Versammlung in gänzlicher Abwesenheit der Polizei zu einem Festival des Irrationalismus entwickelte.
In den Tagen danach sprach die Polizei entgegen gut dokumentierter Fakten von einem weitgehend friedlichen Verlauf. In der Innenpolitik des Freistaates Sachsen begann eine Debatte um die behördliche Ignoranz gegenüber rechten politischen Akteur*innen. Politische Konsequenzen und Rücktritte wurden ohne Erfolg gefordert.
Schon Wochen vorher hatte die in Baden-Württemberg ansässige Initiative »Querdenken« für ihre Demonstration in Leipzig geworben. Busse wurden angemietet, über Messengerdienste kursierten Aufrufe zu Fahrgemeinschaften, außerdem die Ankündigung, die Veranstaltung in Leipzig werde eine weiterer Schritt auf dem Weg zu einer Bewegung gegen die »Corona-Diktatur« sein. Das Bild, welches sich auf dem Augustus Platz bot, war das einer Anhängerschaft, die von schwäbischen Tüftlern mit ausgeprägter Impfskepsis über esoterische Hippies und völkische Siedler bis zu militanten Neonazis und Hooligans reichte. Dass die Zahl der Teilnehmer*innen in Leipzig nicht auf wenige Hundert beschränkt bleiben würde, war in den Wochen zuvor auf den diversen Kanälen sozialer Netzwerke im Umfeld von »Querdenken« durchaus erkennbar.
Von Pegida zu »Querdenken«?
Auf den ersten Blick haben Pegida und »Querdenken« nichts miteinander zu tun. Während erstere Bewegung ihren Schwerpunkt im Osten hatte, und nie wirklich im Westen ankam, ist die Mobilisierung für »Querdenken« im (Süd-)Westen deutlich stärker, als in Ostdeutschland. Doch es war Pegida und die darauf folgende beschleunigte Entgrenzung rechter Einstellungs- und Verhaltensmuster von denen »Querdenken« nun profitiert: In der bürgerlichen Mitte ist eine rechte Deutung gegenwärtiger gesellschaftlicher Widersprüche weitgehend enttabuisiert; Entsolidarisierung und Ausgrenzungsdiskurse verbinden sich mit rechter Demokratiefeindschaft zu einer aggressiven Stimmung, in der die Durchsetzung rechter Politik mit Gewalt nicht mehr ausgeschlossen ist. Die sich in Messengerkanälen vollziehende Radikalisierung eines Teils der Anhängerschaft von »Querdenken« scheint nach dem gleichen Muster wie bei Pegida und den Demonstrationen in Chemnitz: Es finden sich Aussagen wie »Protest allein ist wirkungslos«.
Eine häufig verwendete Formel, hier formiere sich eine Querfront aus zuvor als unvereinbar geltenden Strömungen von rechts und links, passt ins Schema der Extremismustheorie.
Nach den ersten großen Kundgebungen in Bad Cannstatt bei Stuttgart im Frühjahr dieses Jahres konnte »Querdenken« im August einen Mobilisierungserfolg in Berlin verzeichnen. Das breite Echo, auf die symbolische Besetzung der Treppen des Reichstagsgebäudes durch mit Reichsflaggen ausgestattete Teilnehmer*innen löste eine Debatte um die politische Einschätzung von »Querdenken« aus. Eine häufig verwendete Formel war, dort formiere sich eine Querfront aus zuvor als unvereinbar geltenden politischen Strömungen von rechts und links. Diese Deutung passt ins Schema der Extremismustheorie und ihrer Annahme, Extremisten von links und rechts glichen ihre Positionen in Bezug auf das Handeln des Staates in der Corona-Krise einander an. In der Folge fanden sich jedoch keine empirischen Belege dafür, dass sich linke Akteur*innen in nennenswertem Umfang am »Querdenken«-Protest in Berlin beteiligt hätten. Im Gegenteil: Linke Gruppen hatten frühzeitig das rechte Ideologiegemisch der inzwischen in der Versenkung verschwundenen Gruppe Widerstand 2020 kritisiert.
In Berlin wie in Leipzig wurde ein Milieu sichtbar, deren gemeinsamer Nenner zunächst die Leugnung und Relativierung des medizinischen Ausmaßes der Pandemie und deren Folgen ist. Daraus findet sich die Annahme abgeleitet, die Eliten inszenierten diese als »Corona-Diktatur«, um im Zuge dessen autoritäre Maßnahmen durchzusetzen. Hiermit sind je nach weltanschaulicher Selbstverortung der Sprecher*innen sodann antisemitische, verschwörungsideologische und offen rechtsextreme Deutungen verbunden. Diverse Fraktionen der Reichsbürgerszene warben in Berlin und Leipzig ebenso für sich wie Vertreter*innen diverser alternativmedizinischer Richtungen und Heiler*innen, das NPD-Magazin Deutsche Stimme und die Jungen Nationalen.
Bilder und historische Protestkulissen
Dass die öffentliche Wahrnehmung von Protest wesentlich davon abhängt, wie es seinen Akteur*innen gelingt, die knappe Ressource mediale Aufmerksamkeit gerade im Internet an sich zu binden, gilt auch für »Querdenken«. Lokale und regionale Aktionen mögen ihren Teilnehmer*innen eine situative Erfahrung der Selbstwirksamkeit verschaffen; auf die großen Bühne der Politik schafft es eine Serie von Demonstration in Baden-Württemberg deshalb noch nicht.
Dies ändert sich, wenn sich Massenprotest in einer historisch und symbolisch aufgeladenen Kulisse in Szene zu setzen vermag. Da die Politik des Protests immer über Bilder vermittelt ist, ist es nicht egal, ob Protest auf einem leeren Parkplatz oder vor dem Reichstagsgebäude stattfindet. So gesehen war der Augustus Platz in Leipzig gut gewählt. Denn die Kundgebung und die anschließend von Neonazis gegen die Polizei auf dem Leipziger Innenstadtring durchgesetzte Demonstration bewegte sich exakt in der ikonischen Bildkulisse des Herbst 1989 in Leipzig am Ende der DDR. In den Reihen von »Querdenken« wird ständig auf das Jahr 1989 in der DDR Bezug genommen. Zu gern sehen sich die Akteur*innen in der Rolle einer vom Staat unterdrückten und verfolgten Bürgerrechtsbewegung, die ihren Protest artikuliert. Wenn es »Querdenken« gelänge, sich nach außen als legitimer Erbe des Umbruchs in der DDR zu inszenieren, wäre dies mehr als nur ein geschichtspolitischer Coup. Ob Schriftsteller wie Uwe Tellkamp, die AfD oder Pegida: Sie alle bemühen die Parallele zum Untergang der DDR, was ihrem Handeln historisch-moralische Autorität verleihen soll.
Zahlreiche rechte Youtuber sorgten mit ihren Livestreams von den Demonstrationen in Berlin und Leipzig zudem für eine rechtsalternativ-mediale Präsenz, deren Reichweite mit der etablierter Medienformate durchaus verglichen werden kann. Die im Stream vermittelten Eindrücke und Ansichten tragen dazu bei, die Inhalte der »Querdenken« Bewegung über das Protestereignis hinaus zu popularisieren.
Rechte Akteure in Leipzig
In Leipzig trat die AfD als Partei, anders als noch in Berlin, nicht öffentlich wahrnehmbar in Erscheinung. Wohl auch, weil man in der AfD ahnte, dass NPD, Die Rechte und militante Neonazis den Tag in Leipzig auch als Bühne nutzen würden. Die dokumentierte Anwesenheit von Vertreter*innen der AfD gibt jedoch einen Hinweis darauf, dass man in der Partei das Format »Querdenken« genau beobachtet und abwägt, ob und wann eine öffentliche Stellungnahme zu Gunsten von »Querdenken« und vergleichbaren Protestformen angezeigt ist. Die Partei hofft, politisch von den ökonomischen Folgen des Lockdowns zu profitieren, ist sich aber in der Bewertung der Pandemie uneins.
Ebenfalls in Leipzig anwesend war der neurechte Verleger Götz Kubitschek, der das rechte Netzwerk rund um Projekte wie »Ein Prozent« orchestriert. Auch er dürfte in Leipzig sondiert haben, ob eine aktive Rolle für ihn und sein politisches Umfeld in Frage kommt. Noch nach der Berliner »Querdenken«-Demonstration hatte Kubitschek in einem Vlog-Beitrag verkündet, das neurechte Milieu könne nicht sinnvoll und erfolgreich im Fahrwasser von »Querdenken« surfen, da deren Agenda zu abwegig sei. Bei Pegida war Kubitschek in deren Entstehungsphase rasch als Berater, dann als Redner eingestiegen und bestimmte so die Ausrichtung eine gewisse Zeit wesentlich mit.
Weniger zögerlich ist da das rechte Compact Magazin. Das Krawallblatt unter den am Kiosk verfügbaren rechten Printmedien begleitet »Querdenken« von Beginn an mehr als nur wohlwollend. Unter dem Titel »Tage der Freiheit« produzierte Compact nach der Demonstration in Berlin ein reich bebildertes Sonderheft, in dem »Querdenken« als Freiheitsbewegung überhöht wurde. Das »Querdenken« für unterschiedliche Fraktionen der extremen Rechten von Interesse ist und Anknüpfungspunkte bietet, ist offenkundig. Entscheidend ist, wer in der kommenden Zeit inhaltlich den Takt vorzugeben vermag.
Bislang hat die AfD in den Umfragen von der Corona-Krise nicht profitiert. Da im nächsten Jahr jedoch nicht nur eine Bundestagswahl, sondern zahlreiche Landtagswahlen vor der Tür stehen, sucht die Partei nach Wegen, die ökonomischen Verlier*innen der Corona-Krise an sich zu binden.