Was ist das für eine Partei
Die Linke steckt in ernsten Schwierigkeiten – widersprüchliche Positionen und Strategien kannibalisieren sich gegenseitig
Von Matthias Merkur und Alena Schulz
Deutlicher hätte der Absturz der Linkspartei kaum sein können: Ausgehend von 9,2 Prozent bei der letzten Wahl, im Jahr 2017, verlor die Partei beinahe die Hälfte ihrer Stimmen. Dass sie mit 4,9 Prozent überhaupt wieder in Fraktionsstärke in den Bundestag einziehen konnte, verdankt sie allein den drei gewonnenen Direktmandaten von Gesine Lötzsch (Berlin Lichtenberg), Gregor Gysi (Berlin Treptow-Köpenick) und Sören Pellmann (Leipzig II) und der Grundmandatsklausel. Diese Klausel, von der die Vorgängerpartei PDS 1994 schon einmal profitiert hatte, besagt, dass bei drei Direktmandaten auch die Zweitstimmen zählen. Bei einem Direktmandat weniger wäre die Linke mit nur zwei Personen im Parlament vertreten.
Das ganze Ausmaß des verheerenden Ergebnisses – verheerend vor allem, wenn man es an dem Selbstanspruch der Partei misst, Arbeiter*innen, Erwerbslose, junge Menschen aus sozialen Bewegungen, Ostverbundene, alte und neue Linke zu organisieren und parlamentarisch zu vertreten – wird deutlich, wenn man sich die Zahlen etwas genauer anschaut. Die Linke ist flächendeckend eingebrochen, im Westen wie im Osten. In mehr als zwei Dritteln (203) aller Wahlkreise, diese sämtlich im Westen der Republik gelegen, blieb die Partei unter der Fünf-Prozent-Hürde. Auch in den ehemaligen westdeutschen Hochburgen Hamburg (-5,5), Bremen (-5,7) oder dem Saarland (-5,7) verlor sie deutlich. In den fünf Ost-Flächenländern schnitt die Linke zwar besser ab, verlor aber dennoch dramatisch; mit 18,3 Prozent lieferte der Wahlkreis von Gesine Lötzsch in Berlin-Lichtenberg bei den Zweitstimmen das beste Ergebnis.
Insgesamt konnte die Linkspartei 10,1 Prozent der Wähler*innenstimmen in ostdeutschen und 3,8 in westdeutschen Ländern (gegenüber 17,8 und 7,4 bei der Wahl 2017) auf sich vereinen. Ihre schlechtesten Ergebnisse holte sie – mit Ausnahme von Leipzig – in Sachsen, wo die AfD zehn von 16 Direktmandaten gewann. Auch in Thüringen, wo die Partei angeblich so erfolgreich regiert, erhielt sie nur 11,4 Prozent der Zweitstimmen, die AfD wurde dort stärkste Kraft. Die Stimmverluste bei den Linken auf Gewinne der AfD zurückzuführen, wäre jedoch voreilig. Denn verloren hat die Partei überall, im Osten wie im Westen, in den Städten wie auf dem Land, in den einkommensstärksten wie in den einkommensschwächsten Wahlkreisen (wo die FDP mithin schwach, aber dennoch fast durchgehend zulegen konnte).
Wo die linken Stimmen hingewandert sind, wird sich nicht abschließend klären lassen; ein Trend lässt sich aus den bunten Schaubildern zur Wähler*innenwanderung dennoch ablesen. Die Abwanderungsbewegung von Linken-Wähler*innen Richtung AfD war mit grob geschätzten 160.000 Stimmer nicht so schlimm wie bei der vergangenen Wahl: 2017 verlor Die Linke 420.000 Stimmen nach ganz rechts. Von den AfD-Wähler*innen erhielt sie dagegen in dieser Wahl 70.000 Stimmen zurück, 2017 waren es nur 20.000. Dramatischer ist der Anstieg an ehemaligen Linkenwähler*innen, die ihre Stimmen diesmal der SPD gaben: Waren es 2017 noch 270.000, machten in diesem Jahr 820.000 frühere Linke-Wähler*innen ihr Kreuz lieber bei der Sozialdemokratie. Auf Platz zwei derjenigen Parteien, die der Linkspartei Wähler*innen abgewinnen konnten, kommen mit 610.000 Stimmen die Grünen.
Ödnis der Deutungskämpfe
An den reinen Zahlen lässt sich indes wenig ablesen, sie lassen sich so oder so interpretieren; als Enttäuschung ehemaliger Wähler*innen über Parteiinhalte, fehlende Durchsetzungsperspektiven, eine zu starke (oder zu schwache) Anbiederung an Grüne und SPD, als Quittung für den öffentlichen Streit oder für unzureichend erklärtes Stimmverhalten im Bundestag (Stichwort: Afghanistan) – ebenso wie als Versuch der Wähler*innen, das Schlimmste (Armin Laschet) durch »taktisches Wählen« zu verhindern. Alle diese Gründe werden eine Rolle gespielt haben. Die ersten Wortmeldungen aus Reihen der Partei wie auch von der Partei nahestehenden Aktivist*innen drehten sich dennoch – erwartbar – vor allem darum, ob es an »zu wenig« oder »zu viel« Sahra Wagenknecht gelegen habe, an »zu wenig« oder »zu viel« Regierungsbereitschaft, »zu wenig« oder »zu viel« Bewegungsorientierung.
All diese Fragen sind auf ihre Art einfallslos – die Durchsetzungsperspektive etwa wird in der Linkspartei allzu oft eins-zu-eins übersetzt mit Regierungsbereitschaft, doch die in der Wahl von Weiter-so-Scholz aufschimmernde lethargische Hoffnungs- und Anspruchslosigkeit gegenüber institutionalisierter Politik sollte ein Hinweis darauf sein, dass dies zu kurz gedacht ist. Oder anders formuliert: Natürlich sagt eine übergroße Mehrheit der Linken-Wähler*innen, dass die Linke regieren solle; wie groß die damit verbundenen Hoffnungen auf konkrete Verbesserungen sind, steht auf einem anderen Blatt.
Besonders öde aber ist die Wagenknecht-Debatte: Die äußerst bekannte Linkspartei-Politikerin vertritt ohne Zweifel Positionen, die bewusst nach rechts offen sind, sie scheut seit Jahren innerparteiliche Debatten und ist nicht eben dafür bekannt, streikende Belegschaften tatkräftig zu unterstützen oder sich vor Ort die Sorgen von Hartz-IV-Beziehenden anzuhören. Doch erscheint es tragisch kurzsichtig, wenn (ehrliche) Linke in der Partei glauben, ohne »Sahra« wären die Probleme der Partei gelöst. Die Linke ist auch unabhängig von Wagenknecht tief gespalten, nicht nur in zwei, sondern in sehr viele Strömungen und Einzelpositionen, Erwartungen, Hoffnungen und Strategievorstellungen. Es ist nie gelungen, das noch unter den Ex-Vorsitzenden Bernd Riexinger und Katja Kipping ausgegebene Ziel zu erreichen, Partei »der Vielen« zu werden. Dafür ist sie Partei der vielen, teils unvereinbaren und inzwischen offenbar auch unversöhnlichen Lager, die sich gegenseitig kannibalisieren, weil keines glaubwürdig erscheint und die ganze Partei hinter sich wissen könnte. Zumindest das Problem der Kannibalisierung hat der Parteivorstand selbst erkannt. In seinem Beschluss vom 3. Oktober 2021 ist von »widersprüchlicher Kommunikation in Schlüsselfragen unserer Zeit« die Rede. Die Ko-Parteivorsitzende Janine Wissler sprach davon, dass man »nicht vielfältig, sondern vielstimmig« aufgetreten sei.
Dass die Linkspartei mehrere Parteien in einer ist, ist kein neuer Zustand. Mehrfach in ihrer noch gar nicht so langen Geschichte drohte eine Spaltung – immer wieder konnte diese abgewendet werden. Inzwischen muss man sich aber fragen, wie lange das noch trägt: Dass sich die unterschiedlichen Flügel gegenseitig blockieren und eher in den Rücken fallen, als sich diesen zu stärken, resultiert ja wesentlich auch daraus, dass Differenzen nie wirklich geklärt, sondern eher ausgesessen wurden. Dadurch wissen wir heute vielleicht weniger denn je, was Die Linke eigentlich für eine Partei sein soll.
Es rettet euch kein höherer Wähler
Das berührt wiederum das Problem mit der Debatte um Wagenknechts Schuld oder Unschuld an dem Wahlergebnis: Wer sie zum Mittelpunkt der Linkspartei-Krise macht, verkennt, wie indifferent auch der Rest der Partei sich darstellt. Beispielsweise ist es irritierend, dass Wagenknechts Rassismus ständig (in der Sache zurecht) aus den Reihen der Partei angeprangert wird, fast nie aber Kritik daran zu hören ist, dass die Berliner oder Thüringer Landesregierungen (letztere unter Führung der Linkspartei) abschieben – beide haben sogar bis vor wenigen Monaten noch Menschen nach Afghanistan abgeschoben. Auch als sich in Bremen die mitregierende Linkspartei mit ihrer Gesundheitssenatorin zu Beginn des Jahres dazu bekannte, den Stellenabbau an kommunalen Kliniken mitzutragen (im Wahlkampf wurde noch mit mehr Personal geworben), gab es dazu nur ganz wenige kritische Äußerungen aus der Partei. Wer etwa als Parteilinke*r glaubt, ohne den Wagenknecht-Flügel, aber problemlos mit Ramelow und seinen Leuten eine emanzipatorische Partei aufbauen zu können, sitzt doch einer auffälligen Doppelmoral auf – und bleibt eine Antwort darauf, für welche konkreten Inhalte und Forderungen eine Post-Wagenknecht-Linkspartei denn stünde, weiterhin schuldig.
Wer glaubt, ohne den Wagenknecht-Flügel problemlos eine emanzipatorische Partei aufbauen zu können, sitzt doch einer auffälligen Doppelmoral auf.
Die derzeitig existierenden Vorstellungen davon lassen sich so zusammenfassen: eine sozialere SPD, eine grünere Grünen-Partei, eine eher klassische Arbeiter*innenpartei, eine Bewegungspartei, eine Partei der »verbindenden Klassenpolitik« und »der Vielen« (was auch immer das heißen mag), eine eher nationalistische linkpopulistische Bewegung à la Jean Luc Mélenchons La France insoumise, oder aber eine »demokratisch-sozialistische Partei« (Horst Kahrs). Diesbezüglich zeigt sich im oben erwähnten Beschluss des Parteivorstandes eine gewisse – vielleicht dem Wunsch, Einheit zu demonstrieren, geschuldete – Naivität: Nach der Feststellung, die Kommunikation in zentralen Fragen unserer Zeit sei widersprüchlich gewesen, heißt es dort nämlich: »Ein Neuanfang muss daher darauf abzielen, hier eine bessere Abstimmung zwischen Partei und Fraktion sowie innerhalb der Bundestagsfraktion sicherzustellen.«
Ist also alles nur ein großes Missverständnis? Geht es lediglich um eine bessere Streitkultur und ums mehr miteinander reden? Nein, wir dürfen davon ausgehen, dass die widersprüchlich kommunizierten Positionen und Strategien tatsächlich einander widersprechen. Und natürlich kann und muss eine linke Partei in gewissem Maße Widersprüche auch aushalten können – wenn diese aber zur Lähmung führen, ist zumindest die Zeit gekommen, mehr zu tun, als an eine bessere Abstimmung zwischen Fraktion und Partei zu appellieren. Denn bestenfalls ließen sich auf diesem Wege konträre Positionen in ein Kompromissgleichgewicht bringen. Das demonstriert aber eher den Willen, die verbleibenden Wähler*innen und damit die parlamentarischen Machtoptionen nicht zu verlieren, als die Bereitschaft, sich der Frage zu stellen, was eine linke Partei heute, wo gesellschaftliche Verteilungs- und Hegemoniekämpfe an vielen Orten im Gange sind, zu deren Gelingen beitragen und wie sie über reine Unterstützung solcher Kämpfe hinausgehen könnte.
Progressive Kräfte, seien es die im Verbund mit der Klimabewegung streikenden Industriearbeiter*innen bei Bosch in München, die Gorillas-Beschäftigten oder die Aktivist*innen von DW Enteignen, scheinen jedenfalls weniger denn je irgendeine Hoffnung in ein linkes Parteiprojekt zu legen. Und sie warten nicht auf dessen Neuformierung, um ihre Rechte einzufordern.
Im Beschluss der Parteiführung vom 3. Oktober steht übrigens auch, die Partei suche jetzt »das Gespräch innerhalb der Partei und mit Bündnispartner*innen, als auch mit Akteur*innen aus Zivilgesellschaft, NGOs und Gewerkschaften«. Zudem wolle man bei Wähler*innen »nachhören«: »Wir möchten nicht nur fragen, ›Warum habt ihr uns gewählt?‹, sondern auch ›Warum habt ihr uns nicht (mehr) gewählt?‹«. Letzteres ist einerseits eine gute Idee, weil es – anders als die aus allen möglichen Richtungen der Partei (und teils auch der ihr nahestehenden sozialen Bewegungen) geäußerten Mutmaßungen über die Hauptgründe des Abschmierens in der Wähler*innengunst – tatsächliche empirische Erkenntnisse liefern könnte.
Andererseits ist sehr gut vorstellbar, dass die Ergebnisse ähnlich vielfältig ausfallen wie die Stimmen und Strömungen in der Partei. Und außerdem: Was wäre denn eigentlich die Konsequenz, wenn eine Wähler*innenbefragung ein eindeutiges Bild lieferte? Würden beispielsweise die Bewegungsorientierten in der Partei das von ihnen verfolgte Parteiprojekt aufgeben, wenn sich herausstellte, die (Ex)Wähler*innen wollen Wagenknecht und/ oder Regierungen wie in Thüringen? Und andersherum: Wird das Wagenknecht-Lager oder der Ramelow-Flügel klein beigeben, wenn die (Ex)Wähler*innen ihnen kein gutes Zeugnis ausstellten? Hier sollten sich vielleicht alle erst einmal ehrlich machen, bevor allzu viel Verantwortung auf die Partei-Anhänger*innen (bzw. die Ehemaligen) abgeschoben wird: Davor, sich mit der Frage, was das für eine Partei sein soll, zu beschäftigen, können auch die (Ex)Wähler*innen Die Linke nicht bewahren.