Nach dem »Putsch«
Die Ereignisse von Erfurt zeigen: Die Linke muss sich stärker als bisher der Frage von Macht widmen - der eigenen und der Macht der anderen
Von Paul Wellsow
Die Wahl von Thomas Kemmerich (FDP) am 5. Februar 2020 zum Thüringer Ministerpräsidenten war ein politischer Dammbruch von historischer Dimension. Erstmals kam ein Ministerpräsident mit den Stimmen der teils faschistischen AfD an die Macht. Inzwischen ist klar, dass die Entscheidung kein Zufall war. Auch wenn vorab keine formalen Verhandlungen zwischen AfD, CDU und FDP geführt wurden, hat es offenbar Absprachen gegeben. In den drei Fraktionen war das mögliche Szenario vorab bekannt, die Folgen wurden in Kauf genommen.
Bodo Ramelow hatte sich zur Wahl gestellt, obwohl er keine eigene Mehrheit mehr im Parlament hatte. Bei der Landtagswahl am 27. Oktober 2019 wurde Die Linke in Thüringen mit 31 Prozent (+2,8) zwar erstmals stärkste Kraft und erreichte ihr bisher bestes Ergebnis bundesweit in einem Land, doch die Koalitionspartner SPD und Grüne hatten Stimmen verloren. Die bis dahin knappe Mehrheit von einer Stimme für Rot-Rot-Grün im Landtag wurde verfehlt. Für eine eigene Mehrheit fehlen vier Stimmen. Dennoch einigten sich die drei Parteien auf einen neuen Koalitionsvertrag »Gemeinsam neue Wege gehen. Thüringen demokratisch, sozial und ökologisch gestalten«, der am Tag vor der Wahl des Ministerpräsidenten der Öffentlichkeit vorgestellt worden war, um mit einer Minderheitsregierung die Arbeit fortzusetzen. Ramelows Beliebtheitswerte im Freistaat liegen bei etwa 70 Prozent und reichen weit über Parteigrenzen hinaus. Das starke Ergebnis der Linkspartei, die öffentliche Unterstützung für das Kabinett Ramelow und seine Person wurden in Politik, Medien und Gesellschaft breit als Regierungsauftrag verstanden.
Fast alle dachten, die Brandmauer würde halten
Rot-Rot-Grün war klar, dass ihrer Minderheitsregierung eine Opposition von rechts gegenübersteht, die das Potenzial einer rechten parlamentarischen Mehrheit in Sachfragen haben kann. So wollen beispielsweise AfD, CDU und FDP das Paritätsgesetz abschaffen, mit dem die Listen der Parteien bei Landtagswahlen künftig quotiert sein müssen. Klar war, dass es für explizit linke Politik und das Aufstellen des nächsten Landeshaushaltes für 2021 schwer werden würde, Mehrheiten zu finden. Bekannt ist auch, dass es kommunal bereits zu Kooperationen zwischen AfD und CDU kam, die Abgrenzung zwischen den beiden Parteien auch im Landtag nicht eindeutig war und immer wieder auch ideologische und strategische Bande erkennbar wurden. So sitzt beispielsweise mit Karl-Eckhard Hahn (Deutsche Gildenschaft) seit vielen Jahren ein rechter Vordenker an zentralen Positionen in der Thüringer CDU. In einem Artikel, wenige Tage vor der Ministerpräsidentenwahl veröffentlicht, stellte er »Überlegungen zur Entscheidungsfindung im 7. Thüringer Landtag« an und kam im Kern zu dem Ergebnis, dass die mögliche Wahl eines FDP-Kandidaten mit Stimmen der AfD zu akzeptieren wäre. Dennoch glaubte niemand im politischen Thüringen, dass CDU und FDP fast geschlossen mit der AfD Kemmerich wählen würden. Die Brandmauern nach rechts würden halten, dachten fast alle.
Doch es kam anders. In den ersten beiden Wahlgängen am 5. Februar kandidierten Ramelow und für die AfD der parteilose Bürgermeister Christoph Kindervater. Für die Wahl wären in diesen Gängen 46 Stimmen notwendig gewesen, Ramelow erhielt 43 und im zweiten Wahlgang 44 Stimmen. Im dritten Wahlgang schließlich gilt in Thüringen ein anderes Verfahren: Gewählt wird nun, wer am meisten Stimmen erhält. Für diesen Wahlgang kündigte die FDP die Kandidatur von Kemmerich an, nachdem der in den ersten Gängen nicht angetreten war. Kindervater erhielt keine Stimmen mehr, Ramelow 44 und Kemmerich 45.
Schon zuvor hatten kommunale Zusammenarbeit, Abstimmungen in Landtagen, gemeinsame Podien und mediales Pingpong-Spiel zwischen den Parteien deutlich werden lassen, dass das Tabu der Kooperation mit der radikalen Rechten seit langem gebrochen ist. Doch die Wahl eines Ministerpräsidenten mit den Stimmen von rechts war mehr, ein Dammbruch eben. Vor dem Hintergrund, dass die Abstimmung mit schmutzigen Mitteln und im Wissen um die Folgen vorbereitet worden war, sprach Ramelow im Interview mit BILD sogar von einem »Putsch von rechtsaußen«.
Sofort nach der Wahl Kemmerichs wurde aus Politik, Gesellschaft und Medien laut widersprochen. Auch konservative Politiker*innen aus der Bundespolitik widersprachen umgehend. Gewerkschaften, Kirchen und Verbände meldeten sich schnell zu Wort und kritisierten die Entscheidung. Zudem gingen noch am Abend des 5. Februars bundesweit Zehntausende Menschen auf die Straßen, um gegen rechts zu demonstrieren. In Erfurt bildeten fast 2.000 Personen aus unterschiedlichsten Teilen der Gesellschaft eine Kette um die Staatskanzlei und riefen: »Bodo ans Fenster!«. Zumindest in Thüringen war das politische Gefühl der Demonstrierenden wohl einhellig: Der legitime Ministerpräsident wurde mit unlauteren Mitteln aus dem Amt vertrieben – die Rechte drängt an die Macht. Ihre Antwort: Wir verteidigen die Demokratie!
Würde es noch einmal gelingen?
Die Ereignisse in den 72 Stunden nach der Wahl machten überdies klar, dass die stille Koalition aus AfD, CDU und FDP zwar möglicherweise einen Plan für die Wahl hatte, aber nicht für den weiteren Weg. Es gelang Kemmerich nicht, Minister*innen zu berufen und Staatssekretär*innen ins Amt zu bringen. Zwar mussten die Hausleitungen von Rot-Rot-Grün sofort die Staatskanzlei und am nächsten Tag die Ministerien räumen, aber die Staatssekretär*innen blieben bis heute (Stand vom 13. Februar) im Amt. Zudem gelang es dem neuen Ministerpräsidenten und den Fraktionen von CDU und FDP nicht, dem Druck ihrer Parteiführungen im Bund sowie den Medien standzuhalten. Einem halben Rücktritt bereits nach gut 24 Stunden unter Druck durch den FDP-Bundesvorsitzenden Christian Lindner folgte am Samstag nach der Wahl die finale Demission. Jedoch bleibt Kemmerich geschäftsführend im Amt bis zur Wahl eines neuen Regierungschefs, so sieht es die Landesverfassung vor, die damit ein Macht-Vakuum verhindern will. Minister*innen kann Kemmerich allerdings nicht mehr ernennen – er ist derzeit Superminister wider Willen und ohne Truppen.
Das Tabu der Kooperation mit der radikalen Rechten ist seit langem gebrochen. Doch die Wahl eines Ministerpräsidenten mit den Stimmen von rechts war mehr, ein Dammbruch eben.
Der Ablauf der Tage nach der Wahl zeigte also auch: Die Rechte war nicht gut genug vorbereitet, während es der Linken und dem demokratischen Teil der Gesellschaft sehr schnell gelang, politischen Druck aufzubauen und zielgerichtet zu agieren. Hier dürften die politischen Besonderheiten Thüringens zum tragen kommen – und vor allem ein ehemaliger Ministerpräsident, der weit über politische Grenzen hinaus anerkannt ist. Politische Stabilität und Sicherheit repräsentierten in dieser heiklen Situation Ramelow und Die Linke – nicht die Hasardeure von AfD, CDU und FDP. Eine Umfrage des MDR wenige Tage nach dem »Putsch« zeigte das deutlich: Die Partei steigerte sich auf 39 Prozent der Stimmen, der beste Wert für die Linkspartei jemals in einer Umfrage auf Landesebene. Die CDU rutsche noch einmal deutlich ab auf nur noch 13 Prozent Zustimmung, und die FPD würde aus dem Landtag fliegen. SPD und Grüne wären leicht gestärkt, während die AfD stabil bei 24 Prozent bliebe. Rot-Rot-Grün hätte so wieder eine Mehrheit.
Rückblickend war es ein Erfolg und ein Zeichen von politischer Stärke, Kemmerich zum Rücktritt gezwungen und den Griff nach der Macht zurückgeschlagen zu haben. Zu fragen ist jedoch: Gelingt das notfalls ein weiteres Mal, oder war dieses Experiment nur ein Zwischenschritt zur weiteren Normalisierung der Rechten? Und würde die eindeutige, schnelle und konsequente Reaktion aus breiten Teilen der Gesellschaft, die sich entschieden gegen Kemmerich und hinter Ramelow stellten, auch in anderen Bundesländern gelingen, in dem das rot-rot-grüne Milieu und die Zivilgesellschaft schwächer und weniger stark in der Gesellschaft verankert sind?
Die politische und gesellschaftliche Linke muss die Vorgänge genau analysieren, um sich auf ähnliche Szenarien in der Zukunft – möglicherweise schon bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt 2021 – vorzubereiten. Da hilft es, den Fall Thüringen taktisch als Erfolg zu werten, ohne die Gefahren und unterschiedlichen Voraussetzungen in anderen Bundesländern zu vergessen. Die Wahl von Kemmerich hat klargemacht: Die AfD ist zu einem entscheidenden Player der parlamentarischen und institutionellen Politik geworden. Der reale Griff nach der Macht ist Teil ihres Plans und ihrer Vorhaben, sie meint das ernst. Nicht umsonst hatte sich Höcke vor wenigen Wochen im Thüringer Landtag bemüht, politische Schnittmengen von AfD, CDU und FDP herauszuarbeiten.
Zeitfenster für Linke
Wie es nach dem Rücktritt Kemmerichs weitergeht, ist offen und kann sich noch täglich ändern, auch wenn sich ein wahrscheinliches Szenario herauskristallisiert. Rot-Rot-Grün wird das Vorhaben einer Minderheitsregierung weiter verfolgen. Ramelow könnte sich noch Ende Februar einer erneuten Wahl im Landtag stellen. Um die dafür nötigen vier Stimmen aus der CDU oder FDP zu erhalten, werden derzeit Gespräche geführt, unter anderem mit einer vierköpfigen Verhandlungsgruppe der CDU. Für die Linkspartei ist klar, dass Ramelow nur dann in eine Wahl geht, wenn es eine rot-rot-grüne Mehrheit plus Stimmen aus CDU oder FDP geben wird. Stimmen der AfD dürfen nicht ausschlaggebend sein. Wenn dann eine handlungsfähige Regierung gebildet sein wird, können geregelt Neuwahlen angegangen werden. Dafür ist die Selbstauflösung des Landtags mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit nötig, die es bisher nicht gibt. Vor allem die CDU lehnt das – mit Blick auf die Umfragen – kategorisch ab. Auch andere formale Fragen, unter anderem eine anhängige Klage gegen das neue Parité-Wahlgesetz – sprechen gegen sofortige Neuwahlen.
Die Linke – sowohl die Partei als auch linke Bewegungen und Initiativen -, aber auch SPD und Grüne, sollten das derzeitige Zeitfenster der Aufmerksamkeit und der Chancen nutzen. Die Analyse des Gegners ist notwendig – und das Stärken der Defensivkräfte gegen die Rechte, also der Antifaschismus. Zugleich darf der Blick auf die Gefahren und die künftige Abwehr aber den Blick auf den Erfolg nicht verstellen – und auf die Möglichkeiten, die sich bieten. CDU und FDP sind als potenzielle Kräfte gegen den Rechtsruck desavouiert, auch wenn das Ringen um mögliche Bündnispartner*innen gegen rechts auch in diesen Parteien und Milieus nicht aufgegeben werden sollte.
Zudem ist die Zeit der alten Volksparteien, wie wir sie aus der Bundesrepublik kennen, vorbei. Es gilt, die eigenen Rollen angesichts der gesellschaftlichen und politischen Verschiebungen neu zu bestimmen, zu verstehen und anzunehmen. Auf CDU und FDP ist kein Verlass, es müssen also die eigenen handlungsfähigen Kräfte sein, die eine Brandmauer gegen rechts und für eine progressive Entwicklung der Gesellschaft ermöglichen. Die Linke muss sich stärker als bisher in ihren Analysen und in ihrer Praxis der Frage von Macht widmen – der eigenen, und der Macht der anderen. Und sie muss Fragen von konkreter Veränderung der Gesellschaft stärker in den Fokus rücken.
Die Vorgänge in Thüringen haben bewiesen: Die andere politische Seite kennt auch in der Bundesrepublik keine Skrupel, selbst vorsichtige Versuche einer anderen und linken Politik im Bündnis mit der radikalen Rechten zu stoppen. Gegen rechts, das heißt heute in den ostdeutschen Bundesländern vor allem auch das Stärken und Unterstützen von Linken, von Demokrat*innen, von antifaschistischen und antirassistischen Strukturen vor Ort – gerade in kleinen Orten und Städten. Wenn wir zudem unsicher sind, ob ein Griff nach der Macht von rechts auch beim nächsten Mal oder in einem anderen Bundesland noch einmal zurückgeschlagen werden kann, dann stellt sich jetzt die Aufgabe, sich ins politische Handgemenge zu begeben und eine linke Antwort zu formulieren. Die kann nur sein, für Mehrheiten links der »Mitte« nicht nur zu werben, sondern sie zu realisieren – auf allen Ebenen. Auch im Bund.