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Identitätspolitik

Moria ist das Ende der europäischen Idee? Moria ist die Idee

Von Jan Ole Arps

Ein brennender Braum und ein in Flammen stehendes Gebäude vor nächtlicher Kulisse
Mutmaßlich Bewohner*innen haben das Abschreckungslager Moria in der Nacht vom 8. auf den 9. September in Brand gesetzt – ein Akt der Notwehr. Foto: Screenshot Franziska Grillmeier / Twitter

Das Abschreckungslager Moria auf der Insel Lesbos ist Geschichte. Ein Feuer, mutmaßlich von Bewohner*innen gelegt, um ihre Evakuierung zu erzwingen, nachdem das Coronavirus das Lager erreichte, hat weite Teile von Moria zerstört. Was aus den Menschen wird, die dort unter menschenverachtenden Bedingungen leben mussten, ist offen. Europäische Politiker*innen haben aber klar gemacht, dass sie um jeden Preis verhindern werden, dass diese Menschen in Sicherheit gelangen. Sie weiter auf der Insel festzuhalten, hat oberste Priorität.

Warum kämpfen Politiker*innen aller europäischen Länder mit einer solchen Verbissenheit dagegen an, dass 12.000 Menschen in Not geholfen wird? Was wäre so schlimm daran, wenn diese Menschen das Elend, in das sie gezwungen wurden, hinter sich lassen könnten?

Die Antwort ist: Es geht nicht um die 12.000 Menschen, nicht um sie persönlich. Moria war und ist ein Monument der Abschreckung und der europäischen Selbstvergewisserung. Ein Ort, der für die europäische Identität eine mindestens so wichtige Rolle spielt wie die gemeinsame Währung oder die EU-Flagge. Moria ist die Versinnbildlichung der Grenze um den europäischen Kontinent, eine Demonstration, dass europäische Leben wertvoller sind als die jener Menschen außerhalb der europäischen Mauern.

Moria spielt für die europäische Identität eine mindestens so wichtige Rolle wie die gemeinsame Währung oder die EU-Flagge.

Die europäische Idee basiert auf der Behauptung, dass Krieg, Hunger und Elend nichts mehr sind, was »wir in Europa«, sondern was Menschen außerhalb Europas erleiden. In Moria und an vergleichbaren Orten werden die Bilder produziert, die für diese Behauptung gebraucht werden, die Menschen auf der Flucht als Bedrohung und als von Müll umgebene Elende zeichnen, als Andere, als Nicht-Europäer*innen, letztlich als Nicht-Menschen. Es ist kein Zufall, dass Bewohner*innen der Abschreckungslager immer wieder entgeistert darauf hinweisen, dass sie doch auch Menschen seien. Es ist die Menschlichkeit, die ihnen an und durch diese Orte genommen wird. Das ist der Zweck.

Als die EU-Außengrenzen vor fünf Jahren ins Wanken gerieten, weil hunderttausende Menschen auf der Flucht vor Krieg und Vertreibung sich auf den Weg nach Europa machten, wurde Moria noch wichtiger. Moria ist »2015 darf sich nicht wiederholen«. Eine Garantie, dass die Trennung in drinnen und draußen noch gilt – dass »wir« und »sie« nicht die gleiche Sorte Menschen sind.

Diese Behauptung ist eine Grundlage kapitalistischer Herrschaft in Zeiten wachsender ökonomischer und ökologischer Krisen. Orte wie Moria produzieren den Konsens der Beherrschten in Europa: Sie sorgen dafür, dass die Grenze zwischen innen und außen jene zwischen unten und oben überlagert. Daher ist es der größte Unsinn, in Moria »die europäische Idee« oder die »europäischen Werte« vor die Hunde gehen zu sehen. Moria ist die europäische Idee – ein Alptraum.

Es ist somit nicht nur ein Gebot der Menschlichkeit, für die Schließung von Moria und das Ende aller Lager und Grenzen einzutreten; es ist die Bedingung dafür, dass die Menschen, die an unterschiedlichen Orten und unter unterschiedlichen Bedingungen ausgebeutet werden, als Klasse zusammen kämpfen können.

Jan Ole Arps

ist Redakteur bei ak.