Zurück zum ableistischen Alltag
Ein Jahr nach den Morden im Potsdamer Thusnelda-von-Saldern-Haus lassen Veränderungen in Heimsystem und Gesundheitspolitik auf sich warten
Von Frédéric Valin
Am 28. April 2021 wurden im Potsdamer Thusnelda-von-Saldern-Haus vier Bewohner*innen getötet. Die Namen der Opfer sind Martina W., Christian S., Lucille H. und Andreas K. In der öffentlichen Diskussion, die der Gewalttat folgte, wurde schnell versucht, die Tat als einen bedauerlichen Einzelfall darzustellen, der von einer psychisch stark belasteten Person ausging. Die Täterin wurde zu 15 Jahren Haft verurteilt. Matthias Fichtmüller, Diakon der Einrichtung, sagte damals, es irritiere ihn, »dass die Geschehnisse in seiner Einrichtung nun den Anlass für eine allgemeine Debatte über den Umgang mit Menschen mit Behinderung bieten sollen.«
Dass ableistische, also behindertenfeindliche, Gewalt in Heimen fast immer als bedauerlicher Einzelfall dargestellt wird, stützt seinen Standpunkt. Noch, muss man sagen, denn die Berichte über solche Gewalt mehren sich. In Bad Oeynhausen wird aktuell gegen 145 Angestellte ermittelt, die Bewohner*innen misshandelt haben sollen. In der Dorfgemeinschaft Tennetal in Baden-Württemberg sollen mindestens acht Bewohnerinnen jahrelang durch einen Betreuer sexuell missbraucht worden sein.
Es ließen sich einige weitere Beispiele aufzählen, trotzdem unterblieb bisher die Diskussion über strukturelle Aspekte. Gewalt gilt als Problem, das nicht von Einrichtungen ausgeht oder von ihnen begünstigt wird, sondern als etwas, das die Struktur Wohneinrichtung durch gute Präventionsmaßnahmen selbst verhindern kann. Das im Juni 2021 eingeführte Teilhabestärkungsgesetz verpflichtet deswegen auch ebenjene Einrichtungen, »geeignete Maßnahmen zum Gewaltschutz von Menschen mit Behinderung zu treffen«. Das beinhaltet insbesondere die Entwicklung eines geeigneten Gewaltschutzkonzeptes. Wie wirksam solche Konzepte sind, wenn – wie in Potsdam oder im Tennetal – teils über Jahre niemandem etwas auffiel, oder wie in Bad Oeynhausen sich sogar ganze Personengruppen zusammentun, um Bewohner*innen zu quälen und zu misshandeln, bleibt unklar.
Geringfügige Verbesserungen
In einem Forschungsbericht für das Ministerium für Arbeit und Soziales hat ein Team der Universität Nürnberg-Erlangen verschiedene Aspekte des Gewaltschutzes für Menschen mit Behinderung zusammengetragen. Eine positive Entwicklung sei eine verstärkte Sensibilität innerhalb der Einrichtungen beim Thema Gewaltschutz, was sich in einem Ausbau der Unterstützungsstrukturen wie zum Beispiel bei Ansprechpartner*innen niederschlage. Auch der Anteil sensibilisierter Fachkräfte sei gestiegen, es würden obendrein auch sinnvolle Leitlinien und Regelungsapparate entworfen.
Menschen mit Behinderung sind zwei- bis viermal häufiger Opfer von Gewalt.
Auf der anderen Seite stehen die Faktoren, die Gewalt begünstigen: zuvorderst der Personalmangel, aber auch die mangelnde Partizipation der Bewohner*innen, die »unzureichende Achtung der Privat- und Intimsphäre, (…) eine nur marginale Kooperation und Vernetzung mit externen Unterstützungsstrukturen, eine zum Teil schwache Position von Selbstvertretungsstrukturen, und ihre oft unzureichende Unterstützung durch Fachpersonal und Leitung«. Überhaupt klingt der Bericht ganz so, als wären fast alle Fortschritte eine geringfügige Verbesserung einer Schieflage, die schon lange existiert.
Ein Problem der Gewalt gegen Menschen mit Behinderung ist, dass sie häufig unsichtbar bleibt. 2021 wollte die FDP-Fraktion in einer Kleinen Anfrage im Bundestag wissen, wie viele Gewalttaten der Bundesregierung bekannt seien. Die Bundesregierung konnte da aber nicht weiterhelfen: »Eine Auswertung zur Gewalt ist aufgrund der vorliegenden Daten nicht möglich.«
Menschen mit Behinderung sind zwei- bis viermal so häufig Opfer von Gewalt wie der Bevölkerungsdurchschnitt, und die Zahlen verschlimmern sich, je vulnerabler die Gruppen werden: Untersuchungen legen nahe, dass jede zweite Frau mit geistiger Behinderung schon einmal Opfer sexualisierter Gewalt wurde. Gerade in Einrichtungen scheint das Risiko besonders hoch zu sein. Trotzdem bleibt die Berichterstattung spärlich und der Druck auf politische Entscheidungsträger*innen und Verbände entsprechend gering.
Behindertenfeindliches System
Um die Gewalt in Heimen und Unterkünften überhaupt sichtbar zu machen, hat ein Team von Wissenschaftler*innen und Journalist*innen die Dokumentationsplattform »Ableismus tötet« ins Leben gerufen. Bisher wurden 41 Fälle in 37 Einrichtungen untersucht, die bis ins Jahr 2010 zurückgehen. Im Interview mit Zeit Online geht einer der Initiator*innen, Raúl Krauthausen, davon aus, dass sich nach Veröffentlichung der Recherche viele weitere Opfer bei ihnen melden werden.
Jenseits der Situation in den Heimen stellt sich die Frage nach der Gewalt, die von der Mehrheitsgesellschaft ausgeht – insbesondere unter den Bedingungen einer Pandemie, die ein Teil der Bevölkerung und auch Regierungsparteien lieber gestern als morgen für beendet erklären wollen würden. Kürzlich zirkulierte ein Gesetzesentwurf, der die sogenannte Post-Ex-Triage legalisieren sollte. Ärzt*innen hätten dann die Möglichkeit, eine*n bereits beatmete*n Patient*in vom Gerät zu nehmen, um sie durch eine*n neuaufgenommene*n Patient*in mit besserer Heilungsprognose zu ersetzen. Da dieser Vorgang mit hoher Wahrscheinlichkeit den Tod des*der ersten Patient*in bedeuten würde, galt dieses Vorgehen bisher in der juristischen Mehrheitsmeinung als Totschlag. Die Formulierung soll durch das von Marco Buschmann (FDP) geführte Justizministerium in den Entwurf eingefügt worden sein; also ebenjener Partei, die – mit Ausnahme der AfD – wie keine andere gegen Impfpflicht und Schutzmaßnahmen zu Felde zog.
Aktuell landen vor allem zwei Personengruppen auf der Intensivstation: Vorerkrankte und Ungeimpfte, wobei erstere trotz Impfung häufig die schlechteren Prognosen haben. Der FDP-Justizminister scheint es also für politisch opportuner zu halten, Vorerkrankte dem Tod zu überlassen, als eine Impfpflicht einzuführen. Auch wenn Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) inzwischen versichert hat, dass dieser Passus aus dem Gesetzesentwurf gestrichen wird, ist die aus einem Ministerium kommende Verrohung gegenüber Menschen, die Schutz bedürfen, ein Hinweis darauf, was in nächster Zeit auf Menschen mit Behinderung zukommt: Abwehrkämpfe.
Eine progressive Forderung wie die Abschaffung der Heimstrukturen und weitestgehende ambulante, selbstbestimmte Versorgung würde dafür sorgen, dass Menschen mit Behinderung weniger Gewalt erfahren müssen. »Stationäre Einrichtungen sind historisch oft Orte der Unterdrückung gewesen«, sagt Constantin Grosch, einer der Projektleiter von Ableismus tötet. »Unsere Recherchen zeigen, dass das in stationären Wohneinrichtungen nicht anders ist.« Demgegenüber aber steht das Interesse der Verbände und Heimbetreiber*innen, die über die ganze Unterbringungsarchitektur verfügen, und die man zwingen müsste, diese Infrastruktur aufzugeben. Freiwillig aber werden sie das nicht tun, weder die jahrzehntelangen Forderungen von Betroffenengruppen noch die UN-Behindertenrechtskonvention konnten sie bisher dazu bewegen. Genau das ist die Diskussion, die unter anderem Matthias Fichtmüller vermeiden will.
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