Mord als politische Strategie
Der iranische Staat richtet immer mehr Gefangene hin – so soll die Isolation der Bevölkerung vom Rest der Welt wiederhergestellt werden
Von Mina Khani
Hinweis der Redaktion: Der Text enthält Schilderungen drastischer Gewalt.
Gewidmet meiner Freundin Sepideh Farhan, die Mitte Juni tot in ihrer Wohnung in Karaj aufgefunden wurde. Sepideh wurde bei den landesweiten Protesten 2017 festgenommen und musste zwei Jahre im Gefängnis verbringen. Sie hat später davon berichtet, dass sie in der Zeit Folter erlebte und dass ihr manchmal neun Tabletten oder mehr pro Tag verabreicht wurden.
Wie soll man sich die letzten Stunden und Minuten derjenigen Gefangenen vorstellen, die zum Tode verurteilt sind? Der Ablauf ist bekannt. Als erstes wird man in Einzel- oder besser gesagt: Isolationshaft gebracht. Man darf dann allein sein. Man darf an sein ganzes Leben denken. Wenigstens ist man noch in den Gedanken frei. Welche Träume hatte man? Welches Leben hat man sich vorgestellt? Was machen die Familie, die Angehörigen? Wie fühlen sich die Freund*innen? Wann war man zum letzten Mal richtig verliebt? Ist man noch verliebt, wollte man sich wieder verlieben? Wo ist die Liebe des Lebens jetzt? Denken die anderen an dich? Was, wenn du die Hoffnung für eine ganze Bevölkerung oder einen Teil der Bevölkerung bist? Was, wenn deine Hinrichtung nicht nur dein eigenes Leben, sondern das Leben von Millionen Menschen betrifft?
Du wirst in Isolationshaft gebracht. Das bedeutet: Deine letzte Verbindung zum Leben wird dir vor der Hinrichtung genommen. Was denken die Freund*innen, die mit dir in Haft sitzen? Deine Kommunikation ist abgeschnitten. Dein Bezug zur Welt wird gebrochen. Draußen leben Menschen einfach ihr Leben. In Europa hat man das Gefühl, dass viele Menschen so viel Zeit haben, Zeit zum Leben, zum Studieren, zum Reisen, Zeit zum Nachdenken, sogar Zeit dazu, revolutionär zu sein. Bei dir aber zählt jede Sekunde. Du hast nur noch einige Stunden. Hoffentlich konntest du vorher mit deiner Familie sprechen. Hoffentlich konntest du noch einen Brief hinterlassen. Hoffentlich erfährt die Welt davon, wie du behandelt wurdest. Hoffentlich bringt wenigstens deine Erinnerung was. Was für eine Einsamkeit.
Es ist früher Morgen. Gleich wird Azān gesungen, der Aufruf zum Gebet. Azān bedeutet an diesem Tag, dass du gleich nicht mehr da sein wirst. Was passiert in den letzten Sekunden deines Lebens? Du wirst mitgenommen. Deine Beine zittern vielleicht, vielleicht nicht. Die Galgen sind schon vorbereitet. Das Seil wird um deinen Hals gelegt. Der Körper will noch atmen, aber der Stuhl wird weggerissen. Etwas drückt deinen Hals. Du kriegst keine Luft. Dein Körper reagiert aus Reflex. Auch wenn du schon Frieden geschlossen hast. Auch wenn du dich entschieden hast. Dein Körper versucht alles, um am Leben zu bleiben.
Dann bist du weg. Es gibt dich nicht mehr. Man kann es sich noch so sehr wünschen, aber du kommst nicht mehr zurück.
So haben sich in den letzten neun Monaten viele Menschen in Iran gefühlt. So haben sich alle gefühlt, die sich für die Frau-Leben-Freiheit-Bewegung eingesetzt haben. Es ist ein Marathon, das haben viele Iraner*innen vom ersten Tag an gesagt. Aber wie die iranische politische Gefangene Sepideh Qolian in ihrem Brief aus dem Gefängnis an die deutschen Abgeordneten schrieb, die für die Gefangenen politische Patenschaften übernommen haben: Wir sind an einem schwierigen Wendepunkt der Revolution angekommen. »Kurdistan hat sich nach dem Mord an Jîna Mahsa Amini erhoben, Belutschistan hat sich erhoben, Iran hat sich erhoben. Die Menschen waren sich einig. Bis das Regime mit massiven Tötungen, Verhaftungen und Todesurteilen dafür sorgte, die Straßenproteste zurückzudrängen. Das Regime macht keine Rückzieher, sondern treibt seine Politik des systematischen Mordens voran. Wird die eine Hinrichtung nicht vollstreckt, so ist es am nächsten Tag eine andere.«
Der Staat schlägt zurück
Der iranische Staat hat in den ersten fünf Monaten 2023 laut Amnesty International bereits mindestens 282 Menschen hingerichtet. Das sind doppelt so viele wie im letzten Jahr im selben Zeitraum. Unter den Hingerichteten sind mehrere Männer, die für die Teilnahme an den Protesten verurteilt wurden. Der Staat schlägt zurück. »Die Weltöffentlichkeit ist die einzige Waffe, die wir in der Hand haben«, sagte ich noch vor ein paar Monaten, inspiriert von all den Menschen, die mir nach dem staatlichen Mord an Jîna Mahsa Amini letzten September jeden Tag über die Proteste im Iran berichtet haben. Fast alle von ihnen haben einen Satz wiederholt: »Sag es der Welt, sag es der deutschen Öffentlichkeit.«
Der Staat isoliert die Iraner*innen von der Welt, damit er sie ganz unter Kontrolle hat – so wie ein Patriarch möglichst vermeidet, dass die Gewalt, die er in den eigenen vier Wänden ausübt, sichtbar wird.
Der Staat versucht seit Jahren, die Iraner*innen zu isolieren. Die Welt sollte so wenig wie möglich davon wissen, wer sie sind, welche Geschichte sie haben, welche Situationen sie zu bewältigen haben. Der Staat isoliert die Menschen in Iran von der ganzen Welt, damit er sie ganz unter Kontrolle hat. Genauso wie ein Patriarch, der die häusliche Gewalt in den eigenen vier Wänden ausübt und es möglichst vermeidet, dass diese Gewalt sichtbar wird.
Die Isolierung der iranischen Gesellschaft von der Welt im Zuge der Herrschaft der islamischen Republik war als politische Strategie sehr erfolgreich. Vor der Frau-Leben-Freiheit-Bewegung war die iranische Bevölkerung für die meisten Menschen in der Welt ein Rätsel. Die Vereinfachung der Geschichte der Revolution 1979 und der anschließenden Ereignisse durch die westlichen Medien hat nicht zugelassen, dass Menschen in der Welt erfahren, dass das Morden für den iranischen Staat von Anfang an politische Strategie war.
Gebaut auf Gewalt
Khomeini hat kurz nach seiner Ankunft in Iran dazu aufgerufen, die Generäle des Schahs zu ermorden. Sie wurden nur Tage nach der Ankunft Khomeinis im Februar 1979 auf dem Dach der Refah Schule, einer ehemaligen Mädchenschule in Teheran, wo Khomeini sein Hauptquartier eingerichtet hatte, hingerichtet. Danach waren Angehörige der Bahei – eine religiöse Minderheit in Iran –, Linke, Kurd*innen und Araber*innen dran, es folgten die Intellektuellen, die Homosexuellen und so weiter. Im Jahr 1988, kurz vor dem Ende des Iran–Irak-Krieges, massakrierte der iranische Staat mehr als 4.000 politische Gefangene innerhalb nur eines Sommers. Eine ganze Generation politischer Gefangener, die zum Teil ihre Haftstrafen fast hinter sich hatten – eine Generation von politischen Kadern, die eventuell in der Lage gewesen wären, noch einmal gegen den totalitären Staat zu mobilisieren.
Währenddessen verübte der Staat auch Anschläge im Ausland gegen die Opposition. Die Terroranschläge auf kurdische Anführer im Berlin-Mykonos-Fall oder auf den Ex-Premierminister Shapour Bakhtiar in Frankreich und den Sänger Fereydoon Farokhzad in Bonn sind nur einige Beispiel von vielen. Die physische Vernichtung der Menschen, die die Ordnung des Staates durch ihre Identität oder ihr politisches Handeln infrage stellen, ist Teil der Ideologie des Staates, sie ist es von Anfang an gewesen.
Solange der Staat diese Morde vertuschen konnte, hat er sie vertuscht. Jetzt, wo er das nicht mehr kann, versucht er, die Menschen in Iran anders zu isolieren. Ähnlich wie die Isolationshaft der Gefangenen vor der Hinrichtung, dient diese Politik der Isolierung der Iraner*innen vom Rest der Welt dazu, dass sie als politische Subjekte nicht mehr wahrgenommen werden.
»Sie haben sich doch selbst für die Herrschaft der Mullahs entschieden«, ist ein Narrativ, das der iranische Staat in die Welt gesetzt hat. Als Vereinfachung hat es auch ins Weltbild der meisten westlichen Medien gepasst. Erst seit der Frau-Leben-Freiheit-Bewegung hat man angefangen, die iranische Gesellschaft und ihren Wunsch nach Veränderung wahrzunehmen. Genau an diesem Punkt schlägt der Staat nun zurück. Denn ohne die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit ist jede*r einzelne der 20.000 Festgenommenen aus der Bewegung eine Geisel in der Hand der islamischen Republik, die jederzeit hingerichtet werden konnten.