Mit Scheren posieren
Die konservativ-rechtspopulistische Regierung Petteri Orpos zerlegt den finnischen Sozialstaat
Von Robert Stark
Im März dieses Jahres machte ein Foto auf Instagram die Runde, das für wochenlangen Zündstoff in Finnland sorgte: Finanzministerin und Parteivorsitzende der rechtspopulistischen Wahren Finnen (Perussuomalaiset-PS), Riikka Purra, sitzt an ihrem Schreibtisch, umringt von Parteifreund*innen. Alle lächeln in die Kamera, Purra hält mit der rechten Hand eine riesige Schere in die Höhe. Die Nachricht war eindeutig: Jetzt wird massiv gekürzt. Das zufriedene Grinsen angesichts einer der massivsten Kürzungsprogramme der finnischen Geschichte hatte selbst bis in Teile der bürgerlichen Mitte für Entsetzen gesorgt.
Im April 2023 kam die rechteste Regierung Finnlands seit den 1930er Jahren an die Macht. Die Koalition aus konservativer Sammlungspartei (Kokoomus-KOK), rechtspopulistischen Wahren Finnen, der Partei der schwedischsprachigen Minderheit (RKP) und den Christdemokrat*innen hat es gleich in den ersten Monaten zu internationaler Bekanntheit gebracht. Erst machten alte Posts im Internet der neuen PS-Ministerinnen die Runde: Purra hatte in rechtsextremen Foren davon fantasiert Bettler*innen anzuspucken, ihre Posts trotzten vor Gewaltverherrlichung und Rassismus. Die Ex-Polizistin und heutige PS-Innenministerin Mari Rantanen teilte die rassistische Verschwöungstheorie vom Austausch der Bevölkerung und ihr Wahlkampfslogan 2023 lautete: »Wir dürfen nicht so blauäugig sein, dass wir irgendwann nicht mehr blauäugig sind.« Mit öffentlichen, halbgaren Entschuldigungen hatte KOK-Ministerpräsident Petteri Orpo die Affäre schnell beendet.
Der PS-Politiker Vilhelm Junnila hatte allerdings mit der Nähe zu Neonazis, dem Prahlen mit seinem Wahllistenplatz 88 und dem Teilen von Ku-Klux-Klan-Memes den Bogen überspannt: Nach nur elf Tagen als Minister musste er zurücktreten. Besonders für die liberale RKP waren die Ausfälle der Koalitionspartner schwer erträglich. Im Sommer 2023 wurde besonders sie in den landesweiten Protesten gegen die Regierungskoalition kritisiert. Orpo gelang es allerdings, seine Koalition zusammenzuhalten und mit einem umfassenden Austeritätsprogramm zu beginnen.
Kassen leeren
Seitdem ist Purras Kürzungsschere im Dauereinsatz: Bis zu neun Milliarden Euro sollen in dieser Legislaturperiode eingespart werden, angesichts eines jährlichen Staatshaushalts von knapp 87 Milliarden ein ambitioniertes Vorhaben. In diesem Jahr wurden bereits Arbeitslosengeld, Wohngeld, Entwicklungshilfe und Hilfen für Geflüchtete zusammengekürzt. Möglichkeiten zur Erwachsenenbildung wurden komplett gestrichen und die Mehrwertsteuer auf 25,5 Prozent erhöht. Hintergrund ist, dass Finnlands Staatsschulden im Vergleich zum restlichen Euroraum stark angestiegen waren. Die erhöhten Leitzinsen führten bei einer Gesellschaft, die nur zu 28 Prozent zur Miete wohnt, zu starken Einbußen. Die vielen Hausbesitzer*innen mussten immer höhere Tilgungsraten abzahlen. Privater Konsum und Bauvorhaben sind stark eingebrochen.
Zudem hat sich die geschlossene Ostgrenze zu Russland ebenfalls negativ auf die finnische Wirtschaft ausgewirkt. Nach einer Analyse der finnischen Zentralbank exportierten 2019 noch über 2.000 finnische Unternehmen nach Russland, momentan sind es noch knapp 100. Besonders ostfinnische Regionen leiden zudem unter den ausbleibenden Tourist*innen, teilweise ist die Arbeitslosenquote dort auf über 16 Prozent gestiegen.
Das Kabinett Orpo-Purra hat auf die multiplen Krisen vor allem eine Antwort: Umverteilung von unten nach oben. Während im öffentlichen Gesundheitssektor der Rotstift angesetzt wird, gibt es Steuergeschenke für Besserverdienende: Sogar eine Aussetzung der Erbschaftssteuer für zwei Jahre ist im Gespräch. Die Reduzierung der Staatsschuldenquote bleibt das vornehmliche Ziel der Koalition, ideologische Unterschiede der Parteien fallen angesichts dieses Zieles unter den Tisch. Der politische Referent des Linksbündnisses (Vasemmistoliitto) Henrik Jaakkola zeigt sich gegenüber ak angesichts des Durchhaltevermögens der Regierung verwundert: »Es ist überraschend, dass die Regierungskoalition immer noch gehalten hat. Wir haben die idealistischen Widersprüche zwischen den Parteien überschätzt und die materiellen Interessen unterschätzt. Diese Koalition hat klare materiell-bürgerliche Ziele und der Drang eine bürgerlich-konservative Hegemonie aufrechtzuerhalten, hält sie zusammen.«
Gezähmte Gewerkschaften
Widerstand gegen die Regierung Orpo hatte sich schon mehrfach geregt: Im Sommer 2023 kam es landesweit zu Demonstrationen gegen den Rassismus der Wahren Finnen. Im Herbst desselben Jahres besetzten Studierende in ganz Finnland Universitätsgebäude. In Helsinki beteiligten sich auch Oberschüler*innen und besetzten einige Gymnasien. Die größten Student*innenproteste der letzten Jahrzehnte konnten die Kürzungen von Studienbeihilfe und Wohngeld aber nicht aufhalten.
Das Frühjahr 2024 brachte wochenlange Streikwellen hervor: Die finnischen Gewerkschaftsverbände nutzten die letzte Chance zu einem politischen Streik gegen die Einschränkung eben dieser Streikrechte. Denn der konservativ-rechtspopulistischen Koalition war klar, dass das Streikrecht ihren Vorhaben im Weg stand, kurzerhand änderten sie es. Wochenlang wurde der Exportsektor lahmgelegt.
Aber der Kampf der Gewerkschaften zahlte sich nicht aus. Zukünftig dürfen politische Streiks (die in Deutschland gänzlich verboten sind) nicht länger als 24 Stunden anhalten. Lauri Finér von der Universität Helsinki analysiert für das Magazin The Progressive Post die Auswirkungen: »Die Regierung implementiert über 20 Reformen, die die Verhandlungsmacht von Arbeitnehmern und Gewerkschaften schwächen werden. Das wird das finnische Arbeitsmarktmodell zerstören, das seit dem Zweiten Weltkrieg bestand und mit dem Regierungen alle wichtigen Reformen mit Vertretern von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite verhandelt haben.«
Zukünftig dürfen politische Streiks nicht länger als 24 Stunden anhalten.
Linke im Aufwind
Für die kommenden Vorhaben Orpos kann daher von den Gewerkschaften nicht mehr viel Widerstand erwartet werden. 2025 sollen Zuzahlungen im Gesundheitssektor steigen, die Unterstützung in der Altenpflege gekürzt werden und Ministerien und Verwaltung über 400 Millionen Euro einsparen. Insbesondere der kriselnde Gesundheitssektor könnte sich dabei als Krux für das rechtskonservative »Gruselkabinett« (Süddeutsche Zeitung) erweisen: Wenn lokale Gesundheitszentren und Kliniken schließen müssen oder zusammengelegt werden und sich die Wartelisten bei Spezialärzt*innen noch weiter erhöhen, könnten die kommenden Kommunalwahlen im Frühjahr ein böses Erwachen für die Koalition bringen.
Politreferent Jaakkola sieht die Wahlen im Frühling als Chance: »Die Sozialdemokratie hat in den Umfragen kräftig zugelegt, obwohl sie im Prinzip nichts dafür getan hat. Auch wir haben in den Europawahlen sehr gut abgeschnitten.« Die finnische Linkspartei hat mit 17,6 Prozent ihr historisch bestes Wahlergebnis bei den Europawahlen eingefahren und stellt nun drei von 15 finnischen Abgeordneten im Europaparlament. »Wenn die Wahren Finnen und die Sammlungspartei bei den Kommunalwahlen stark verlieren, könnte das das Ende für die Koalition sein«, so Jaakkola.
Die Austeritätspolitik der Regierung Orpo macht bisher kaum vor einem Bereich des Sozialstaats halt. Einzig die finnischen Militärs bekommen bisher alle Wünsche erfüllt. Einerseits werden in den nächsten Jahren über zehn Milliarden für 64 der neusten F-35 Kampfjet-Generation von Lockheed Martin lockergemacht. Andererseits wird Finnland das erste Land sein, dass das israelische Kurzstreckenraketenabwehrsystem »David’s Sling« mit einem Bestellvolumen von 316 Millionen Euro importiert. Russlands Agieren in der Ostsee und der Krieg in der Ukraine sind fortlaufend im Blickfeld finnischer Berichterstattung. Bisweilen trägt diese aber absurde Züge: Nach einer Analyse des öffentlich-rechtlichen Senders YLE war Russlands Machthaber Wladimir Putin im letzten Jahr an 333 Tagen auf den Titelseiten der beiden großen Boulevardzeitungen.
Neben der militärischen Aufrüstung und der massiven Kürzungspolitik versuchen die Rechtspopulist*innen ihre eigenen Wähler*innen mit rassistischen oder homophoben Manövern bei der Stange zu halten. In den letzten Umfragen hatte die Partei, die momentan am zweitmeisten Abgeordnete im Parlament hat, bis zu vier Prozent Zustimmung eingebüßt. Zur Europawahl war ein großer Teil der einstigen Wähler*innen nicht erschienen, und PS konnte mit 7,6 Prozent der Stimmen nur einen einzigen Abgeordneten nach Straßburg entsenden.
Im September wurde bekannt, dass sich Finnland im Gegensatz zu den anderen nordischen Ländern nicht an einem Wiederaufbauprogramm in der Ukraine mit geschlechtersensibler Perspektive beteiligen will. Der PS-Minister hatte seinem Haus überraschend eine Unterschrift untersagt, weil in dem Textentwurf der »Alliance for Gender-Responsive and Inclusive Recovery« zu häufig LBGTIQ+ erwähnt worden wären.
Im Oktober wurde zudem durchgesteckt, dass das PS-geführte Innenministerium Kontingentflüchtlinge der UNHCR möglichst nur noch aus christlichen und nicht mehr aus mehrheitlich muslimischen Ländern aufnehmen will. Auch die Finanzierung der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalt YLE soll nach Wünschen der Wahren Finnen massiv zurückgefahren werden. Wie viel Orbanisierung die konservative Sammlungspartei ihren Koalitionären zugestehen wird, bleibt noch offen. Momentan scheint es, als wenn sich Ministerpräsident Orpo mit den zahlreichen Affronts und Skandalen der Wahren Finnen abzufinden scheint, solange sie sein neoliberales Umbauprojekt nicht stören.