Sheinbaum setzt auf Scheinlösungen
Im Zollkonflikt mit den USA konnte sich Mexikos Präsidentin als kompetente Verhandlerin präsentieren, den Betroffenen von Gewalt und Armut hilft sie nicht
Von Anne Haas

Meme-Weltmeister Mexiko« hat dieser Tage in den sozialen Medien mal wieder einen neuen Trend gesetzt: Kurzvideos mit Tipps, wie sich Menschen auf US-amerikanischem Boden vor der Migrations- und Abschiebebehörde ICE verstecken können, indem sie sich beispielsweise als zugedröhnter »Gringo« oder nervige »Karen« verkleiden. Ein zynischer Blick auf den rauen Alltag tausender von Deportation bedrohter Migrant*innen. Die Schattenseiten der brutalen Kehrtwenden in der Migrationspolitik, bekommen indes auch die USA zu spüren: Hier zeugen leere Produktionsstätten, Baustellen und Gewächshäuser davon, wie sehr gerade die Südstaaten wirtschaftlich auf Einwanderung angewiesen sind. Und auch Mexikos Ökonomie gerät in Bedrängnis angesichts der angekündigten Einfuhrzölle von 25 Prozent auf mexikanische Produkte – trotz des 2018 unter US-Präsident Trump erneuerten gemeinsamen Freihandelsabkommens Nafta, jetzt T-MEC. Trump begründet diese »Strafzölle« damit, dass Mexiko nicht genug gegen den Drogenhandel in Richtung USA getan habe.
Claudia Sheinbaum, die im Juni 2024 mit knapp 60 Prozent Zustimmung gewählt und im Oktober das Amt als Mexikos erste Präsidentin antrat, konterte und verhandelte: Warum bekämpfen die USA den Drogenhandel und den Fentanyl-Konsum innerhalb ihres Staatsgebietes nicht selbst? Claudia, wie sie von vielen Mexikaner*innen freundschaftlich genannt wird, verfügt als Regierungschefin über bequeme Mehrheiten in Senat und Abgeordnetenhaus. Ihre Partei Morena (Movimiento Regeneración Nacional) stellte mit Andrés Manuel López Obrador schon in der vorherigen Legislatur den Präsidenten. Zurücklehnen kann sich Sheinbaum angesichts der außen- und innenpolitischen Spannungen allerdings nicht. Zwar konnte sie Anfang Februar, nach direkten Verhandlungen mit Trump, einen einmonatigen Aufschub der Zölle bekannt geben, nicht allerdings ohne Gegenleistungen zu erbringen. Sheinbaum sagte eine Aufrüstung der Grenze auf mexikanischer Seite mit 10.000 Soldat*innen zu.
Den großen Playern die Stirn bieten
Im politischen Kräftemessen werden wiederholt die Rechte von Migrant*innen und die der mexikanischen Wirtschaft gegeneinander aufgewogen. So sollen die Soldat*innen zwar offiziell nur den Drogenfluss stoppen, de facto dienen sie jedoch auch der Migrationsabwehr. Zudem stellte sich die gefeierte Einigung nach nur einer Woche als fragil heraus: So belegte Trump in der Nacht zum 11. Februar alle Einfuhren auf Stahl und Aluminium mit 25 Prozent Zöllen, auch solche aus Mexiko. Sheinbaum rang Trump allerdings noch ein weiteres Eingeständnis ab, das ihr innenpolitisch viel Lob einbrachte: Der Export von US-Waffen gen Mexiko soll künftig stärker kontrolliert werden. Ob und wie diese längst überfällige Einigung tatsächlich umgesetzt wird, bleibt abzuwarten. Dennoch wird die 63-Jährige für ihr Verhandlungsgeschick gefeiert. Mit Claudia, so denken viele, habe das Land endlich eine Präsidentin, die den großen Playern die Stirn bieten könne.
Dass Sheinbaum derart populär ist, ist dennoch keineswegs selbstverständlich. Die studierte Physikerin kam nach dem blutigsten Wahlkampf, den Mexiko je erlebt hat, ins Amt. Trotz einiger spektakulärer Festnahmen in den Reihen der großen Kartelle ist die Zahl der Tötungsdelikte 2024 im Vergleich zum Vorjahr erneut um 2,6 Prozent auf knapp 43.200 gestiegen. Sheinbaum spricht zwar von einem Rückgang – doch der basiert auf geschönten Dezember-Zahlen, wie das unabhängige Onlinemagazin Animal Político darlegt. Seit Regierungsantritt wurden allein vier Journalist*innen ermordet, über 122.000 Menschen gelten weiterhin als verschwunden.
Jede Regierung, die etwas anderes vorschlug als Militarisierung und Gegengewalt, schien als die bessere Alternative.
Dennoch scheint es, als atme die mexikanische Bevölkerung unter der zweiten Regierung der als links geltenden Bewegungspartei Morena erleichtert auf. »Um das zu verstehen, muss man sehen, wo wir herkommen«, erklärt Víctor Hugo López Rodríguez gegenüber ak. Er ist Generalsekretär des Red TdT, ein nationales Netzwerk von 87 Menschenrechtsorganisationen. »Wir haben ein gutes Jahrzehnt einer generalisierten Gewalt hinter uns, die nicht mehr auszuhalten ist.« Angesichts dessen schien den Menschen jede Regierung, die etwas anderes vorschlug als Militarisierung und Gegengewalt, als die bessere Alternative. Zudem habe sich Morena erfolgreich »die Narrative der Zivilgesellschaft angeeignet«, sagt López. So habe sie 2025 beispielsweise das »Jahr der indigenen Frau« ausgerufen, ohne dass damit jedoch konkrete Maßnahmen zur Stärkung von deren Interessen verbunden wären.
Hilfen mit Nebenwirkungen
Ein anderes Beispiel ist der Regierungsdiskurs um die »Construcción de Paz« (Friedensförderung), die von Omar García Harfuch, Minister für innere Sicherheit und enger Verbündeter von Sheinbaum, aktuell in den Bundesstaaten Chiapas, Sinaloa und Quintana Roo vorgestellt wird. Der Begriff stammt aus der zivilen Friedensarbeit und Konfliktransformation. Er umfasst hier lokale Maßnahmen zur Aufarbeitung, Versöhnung und Nicht-Wiederholung von Verbrechen, unter Einbindung der betroffenen Bevölkerung. Harfuch, dem Verbindungen zur Ayotzinapa-Affäre (1) nachgesagt werden, setzt stattdessen auf eine Sicherheitspolitik der harten Hand, diesmal mit einer stärkeren Förderung von Polizeikräften, anstelle des in Mexiko äußerst mächtigen Militärs. Ergänzend sollen zwei Sozialprogramme Armut als Gewaltursache bekämpfen: finanzielle Hilfe für Senior*innen und Auszubildende.
Die Programme ihres Vorgängers, die sich vor allem an die ländliche Bevölkerung richteten, setzt Sheinbaum ebenfalls fort. Profitieren könnte davon vor allem Mexikos untere Mittelschicht, die trotz Sieben-Tage-Woche im informellen Sektor häufig am Existenzminimum kratzt. Umweltschützer*innen und indigene Interessenvertretungen beobachten jedoch, dass die Programme auf dem Land zu einer Schwächung von organisierten Gemeinden beitragen. Da oftmals die Privatisierung der »ejidos« (Gemeindeland) vorausgesetzt wird, um staatliche Leistungen zu erhalten, werden Landkonflikte verstärkt, was wiederum das Eindringen der organisierten Kriminalität in den ländlichen Raum erleichtert (ak 699).
Dass es dennoch nur wenige kritische Stimmen zum Regierungskurs gibt, dürfte auch daran liegen, dass es Morena gelungen ist, zahlreiche Persönlichkeiten aus sozialen Bewegungen zum Parteieintritt zu bewegen. So wird beispielsweise das Nationale Institut Indigener Völker (INPI) heute von Adelfo Regino Montes geleitet. Regino hatte sich seit den 1970er Jahren als Aktivist und Anwalt für die Rechte indigener Gruppen in Oaxaca eingesetzt und nahm als Berater an den Friedensverhandlungen mit der EZLN, der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung, teil.
Innenpolitischer Kitt
Nun ist es unter anderem sein Job, das innerhalb der indigenen Bevölkerung umstrittene Zugprojekt des »Tren Maya« zu legitimieren und das seit 2020 von indigenen Gruppen besetzte Büro des INPI in Mexiko Stadt zu räumen. (ak 694)»Der Zivilgesellschaft wird mit der Vergabe solcher Posten vermittelt, dass sie Teil der Regierung sei, de facto haben sie hier aber keine Entscheidungsmacht«, sagt López, Generalsekretär des Netzwerks Red TdT. Das demobilisiere die sozialen Bewegungen. Ihm zufolge sei die Regierung Sheinbaum keine autoritäre, wie es von konservativer Seite immer wieder zu hören ist. »Aber sie entwickelt autokratische Züge. Ein Dialog mit den Organisationen und mit den Betroffenen der Gewalt findet dagegen überhaupt nicht statt.«
Es scheint sich hier ein spezifisches Phänomen der mexikanischen Parteipolitik zu wiederholen: In ihrer häufig als Einparteienherrschaft charakterisierten 71-jährigen Regierungszeit setzte auch die PRI, die Partei der institutionalisierten Revolution, auf die Inkorporation der Opposition, während sie zugleich einen Revolutionsdiskurs pflegte. Zahlreiche ehemalige Mitglieder dieser Partei sind in den letzten Jahren Morena beigetreten. In ihnen besteht die politische Kultur des Klientelismus fort.
Doch an der Basis regt sich dagegen leiser Widerstand, denn nach außen tritt die Partei für eine grundlegende Transformation des Landes ein. Damit sollte sie auch für einen Bruch mit diesen lange geübten parteipolitischen Praktiken stehen. Solange Mexiko jedoch von außen attackiert wird und es Sheinbaum gelingt, sich auf der weltpolitischen Bühne als kompetente Verteidigerin mexikanischer Interessen zu inszenieren, werden innenpolitische Konfliktthemen wie Menschenrechte oder die Ausrichtung der Partei weiter im Hintergrund bleiben.
Anmerkung:
1) Im Jahr 2014 wurden 43 Studenten des Lehrerseminars Ayotzinapa von der Polizei und dem organisierten Verbrechen entführt und später ermordet. Unabhängige Untersuchungen legen nahe, dass die Bundespolizei, seinerzeit unter der Leitung von Harfuch, in die Operation und deren Vertuschung involviert war.