Melonis Märchenstunde
Die rechte italienische Regierung provoziert 78 Jahre nach der Befreiung mit geschichtsrevisionistischen Aussagen
Von Jens Renner
Nach wochenlangen geschichtsrevisionistischen Provokationen eroberte am 25. April der Antifaschismus in Italien die Straße zurück. Schon lange nicht mehr waren landesweit so viele Menschen unterwegs, um den Tag der Befreiung zu feiern und die rechten Attacken zurückzuweisen. Diesen Gedenktag hat die italienische Rechte seit jeher gehasst: Denn am 25. April 1945 rief das Nationale Befreiungskomitee für Oberitalien zum antifaschistischen Aufstand auf – gegen den »nazifascismo«: die flüchtenden deutschen Besatzungstruppen und ihre italienischen Verbündeten. Benito Mussolini wurde am 28. April von Partisanen erschossen; nach mehr als zwei Jahrzehnten war die Niederlage des Faschismus in Italien besiegelt. Schon 1946 wurde der 25. April erstmals offiziell als Tag der Befreiung gefeiert – eine weitere Demütigung für die Besiegten.
Der Wahlsieg der Koalition aus Fratelli d’Italia (FdI), Lega und Forza Italia am 25. September letzen Jahres hat die Rechten zu besonders heftigen Angriffen auf das antifaschistische Erbe ermuntert. Premierministerin Giorgia Meloni (FdI) schreitet dabei stolz voran. Im Dezember lobte sie die historische Leistung des neofaschistischen Movimento Sociale Italiano (MSI): Dieser habe es geschafft, »Millionen von besiegten Italienern zur Demokratie zu führen«. Anlass ihrer Lobrede war das 76. Jubiläum der MSI-Gründung.
Mehrfache Geschichtsfälschung
Ende März nutzte Meloni den Jahrestag des Massakers in den Ardeatinischen Höhlen bei Rom für einen weiteren geschichtsrevisionistischen Vorstoß. Dort seien am 24. März 1944 »335 unschuldige Italiener ermordet worden, nur weil sie Italiener waren«, behauptete sie. Das ist eine mehrfache Geschichtsfälschung: Erstens waren mindestens neun der Ermordeten keine italienischen Staatsbürger*innen; zweitens waren die Opfer gezielt ausgesucht worden: Antifaschist*innen, Oppositionelle, Jüdinnen und Juden. Und schließlich standen etwa 50 Namen auf einer Liste, die Guido Buffarini, Mussolinis Innenminister in der Sozialrepublik von Salò, der deutschen Besatzungsmacht übergeben hatte. Am 24. März 1944 waren die Täter Deutsche, und Italiener ihre Komplizen. An vielen anderen Orten mordeten Nazis und Faschisten zwischen September 1943 und April 1945 gemeinsam. Das gehört in Italien zum politischen Grundwissen.
Entsprechend groß war die Empörung über Melonis Märchenstunde. Wenig später schob ihr Parteifreund, Senatspräsident Ignazio La Russa, weitere Geschichtsfälschungen nach. Wieder ging es um die Vorgänge im März 1944, genauer: den Bombenanschlag der kommunistischen Partisan*innen der GAP (Gruppi d’Azione Patriottica) auf das Polizeiregiment Bozen am 23. März in der Via Rasella in Rom, bei der 33 Besatzungssoldaten und zwei italienische Zivilisten starben. Im Podcast der rechten Tageszeitung Libero sagte La Russa: »Ich möchte daran erinnern, dass das Attentat in der Via Rasella nicht zu den ruhmreichsten Seiten der Resistenza gehört: Sie haben eine Musikkapelle von Südtiroler Halbrentnern (semipensionati) umgebracht, keine Nazis der SS, und kannten sehr gut das Risiko einer Vergeltungsmaßnahme, dem sie die römischen Bürger, ob Antifaschisten oder nicht, aussetzten.«
Lange nicht mehr waren landesweit so viele Menschen unterwegs, um die rechten Attacken zurückzuweisen.
In Wirklichkeit hatten die angeblichen Rentner ein Durchschnittsalter von 35 Jahren; sie waren, wie Gianfranco Pagliarulo, Präsident der Partisan*innenvereinigung ANPI, richtigstellte, »bis an die Zähne bewaffnet« und auf direktem Weg in den Kampf gegen anglo-amerikanische Truppen und Kämpfer*innen der Resistenza. Dem GAP-Kommando eine Mitschuld anzulasten am Tod Unschuldiger, den 335 zur »Vergeltung« Ermordeten, ist Teil einer kalkulierten Täter-Opfer-Umkehr. Auf Proteste und Rücktrittsforderungen antwortete La Russa, der als Senatspräsident das zweithöchste Staatsamt bekleidet, mit einem halbherzigen Rückzug. Das mit den musizierenden Rentnern habe er irgendwo gelesen, auch habe er niemanden beleidigen wollen.
Blumen für die Roten
Damit, fand auch Meloni, sei die Angelegenheit erledigt. Antifaschist*innen und die gesamte parlamentarische Opposition sehen das anders und fordern La Russas Rücktritt. Dazu wird es nicht kommen, so lange Meloni ihm die Treue hält. Wie wichtig er für sie selbst und ihre Partei ist, lässt sich in ihrem 2021 veröffentlichten Bestseller »Io sono Giorgia« nachlesen. »Ohne ihn und seine Erfahrung hätten wir es nicht geschafft«, schreibt sie dort: Nur dank La Russas Hilfe gelang im Dezember 2012 die Gründung der Fratelli d‘Italia – »einer neuen Partei mit alter Tradition«.
La Russas Anliegen, das beteuert er immer wieder, sei die nationale Versöhnung. So habe er als Verteidigungsminister unter Berlusconi bei einer offiziellen Zeremonie in Mailand Blumen auf die Gräber von Partisan*innen gelegt, »und zwar von allen, auch den roten, die bekanntlich kein freies und demokratisches Italien wollten, weil sie dem Mythos des kommunistischen Russland anhingen«. Anders gesagt: Sie wollten den Stalinismus einführen, während die Patriot*innen des MSI erfolgreich demokratische Prozesse vorantrieben. Als La Russa auf die antifaschistischen Prinzipien der Verfassung von 1948 hingewiesen wurde, konterte er dummdreist, das Wort Antifaschismus komme dort gar nicht vor. Den 25. April nutzte er für einen Ausflug nach Prag, wo er einen Kranz niederlegte: am Denkmal für den Studenten Jan Palach, der sich 1969 aus Protest gegen die sowjetische Besatzung öffentlich verbrannte.
Zur gleichen Zeit besuchte Meloni, an der Seite von Staatspräsident Sergio Mattarella, den Altar des Vaterlandes in Rom – ein traditionelles, als unverfänglich geltendes Ritual. Sehr viel brisanter war Melonis in der konservativen Mailänder Tageszeitung Corriere della Sera veröffentlichter Artikel mit »einigen Reflexionen« zum 25. April – eine Zusammenfassung rechter Positionen nicht nur zur nationalen Geschichte, sondern vor allem zu den daraus heute zu ziehenden Lehren: Alle mussten damals leiden, suggeriert die Autorin; mit dem Krieg endete nicht die »Spirale des Hasses«; nur ein Teil der Resistenza, wohl aber »die demokratische Rechte« wollte die »liberale Demokratie« und half bei ihrer Festigung; immer noch werde der Faschismusvorwurf »instrumentalisiert«, um »Personen, Vereinigungen und Parteien« auszuschließen. Heute gelte es, aus dem Fest der Befreiung (liberazione) ein Fest der Freiheit (libertà) zu machen. Das ist alles andere als Wortklauberei: Die Rechte als Garantin der Freiheit – das war Berlusconis Leitmotiv und zugleich Firmenschild seiner Bündnis- und Parteiprojekte mit den wohlklingenden Namen Casa delle libertà und Popolo della libertà.
Kriegskurs oder neuer Antifaschismus?
Nur eine im Namen der »Freiheit« geeinte Nation – das ist Melonis zentraler Appell – könne die Herausforderungen von heute offensiv angehen: Es gelte, »Italiens Rolle in der Welt zu stärken«, als Teil von EU und Nato und im Rahmen des »neuen Bipolarismus« von Demokratien und Autokratien. Hier habe Italien »ohne Wenn und Aber« Partei ergriffen – »die beste Art, die Botschaft des 25. April zu aktualisieren«. Diese Umdeutung des antifaschistischen Erbes ist auch ganz im Sinne der Extremist*innen der Mitte. Schon unter Melonis Vorgängern, der letzte war Mario Draghi, lieferte Italien Waffen in Kriegs- und Krisengebiete – ein klarer Bruch von Artikel 11 der republikanischen Verfassung von 1948. Der amtierende Verteidigungsminister Guido Crosetto (FdI), ein ehemaliger Rüstungsmanager, will den Militärhaushalt weiter erhöhen, während der Stab der Kriegsmarine die Entsendung eines Flugzeugträgers in die Taiwanstraße plant.
Populär ist der geopolitische Eskalationskurs bislang allerdings nicht, schon gar nicht als angebliche »Botschaft des 25. April«. Auf der zentralen Kundgebung in Mailand, der »Hauptstadt« der Resistenza, forderte ANPI-Präsident Pagliarulo eine ganz andere Aktualisierung des antifaschistischen Widerstands: einen »neuen Antifaschismus«, in dessen Zentrum die »Brüderlichkeit« steht – »für eine große Allianz mit den neuen Generationen«, egal ob diese die italienische Staatsbürgerschaft haben oder nicht.