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Kapitalismus in Xinjiang

Warum sich Linke mit der Masseninternierung der Uigur*innen in China befassen sollten, erklärt der Anthropologe Darren Byler

Interview: Esther Lichtenfeld, Sarah Peters und Felix Rumbach

Eine Drohne überfliegt ein Baumwollfeld in Xinjiang
Drohne über einem Baumwollfeld in Xinjiang. Um die Überwachung der Uigur*innen herum hat sich eine ganze Industrie entwickelt. Foto: Foto: DJI-Agras/ Pixabay, Simplified Pixabay License

Spätestens seit 2019 ist bekannt, dass die chinesische Regierung über eine Million Uigur*innen in Lagern, offiziell als Bildungszentren bezeichnet, interniert. Die muslimische Minderheit lebt in der Provinz Xinjiang im Nordwesten Chinas. Seitdem die Region 1949 durch die chinesische Volksbefreiungsarmee eingenommen wurde, kam es immer wieder zu mitunter gewalttätigen Aufständen von Uigur*innen, die regionale Autonomie und ein Ende ihrer Unterdrückung forderten. Seit dem Amtsantritt Xi Jinpings 2013 geht die Regierung jedoch noch schärfer gegen Kultur und Sprache der circa zehn Millionen Uigur*innen vor, häufig unter dem Vorwand der Terrorismusprävention.

Ein wichtiger Akteur beim Aufbau und der Organisation des Lagersystems ist das Xinjiang Produktions- und Aufbau-Korps, auf Chinesisch Bingtuan genannt. Was ist das Bingtuan?

Darren Byler: Das Bingtuan erfüllt eine zentrale Funktion in der Kolonisierung Xinjiangs. Es ist eine ältere Institution, die bereits in den 1950er Jahren gegründet wurde, kurz nach der Gründung der Volksrepublik China. Seine allgemeine Aufgabe war es, das Land der Uigur*innen und der Kasach*innen in die chinesische Nation zu integrieren. Zunächst war es eine Art landwirtschaftliche Kolonie für ehemalige Soldaten. Die meisten dieser Soldaten lebten in separaten Siedlungen, die nicht unbedingt in der Heimatregion der Uigur*innen lagen, sondern oft im nördlichen Teil der Region. In den 1990er Jahren, als China begann, sich dem Westen zu öffnen und eine Marktwirtschaft zu werden, wurde das Bingtuan zu so etwas wie einem multinationalen Unternehmen, es wurde in allen möglichen Branchen aktiv. Es wurde eine Ölgesellschaft, ein Baumwollunternehmen, ein Tomaten- und Textilproduzent. Es begann auch, in den südlichen Teil der Region zu expandieren, wo die Uigur*innen traditionell leben. Mit zunehmender Industrialisierung der Landwirtschaft in der Region wurden die Uigur*innen schrittweise zu Pachtbauern. Sie müssen jedes Jahr für eine bestimmte Zeit für das Bingtuan arbeiten, während es sich ihr Land aneignet. Das Bingtuan organisiert somit Prozesse ursprünglicher Akkumulation.

Was genau meinst du mit dem Begriff der ursprünglichen Akkumulation? Kannst du uns das nochmal erläutern?

Der Begriff »ursprünglichen Akkumulation« beschreibt Prozesse, durch die der Kapitalismus seine Grenzen ausweitet. Land, Material oder Arbeit, die vorher nicht Teil von Märkten waren, werden in Marktmechanismen integriert. Ein Beispiel dafür ist der Prozess der Landnahme, der in Europa im 17. und 18. Jahrhundert stattfand, als Zäune und Straßen gebaut wurden und Privateigentum rechtlich abgesichert wurde. Marx nennt das »Einhegung«. Die Bauern wurden dadurch von ihrem Land in die Städte getrieben und von Lohnarbeit in den Fabriken abhängig gemacht.
In Xinjiang passiert ein ähnlicher Prozess der Vertreibung der Uigur*innen von ihrem Land, auch hier folgt daraus eine Proletarisierung. Aber in diesem Fall ist er noch gewalttätiger als anderswo, weil es in einem kolonialen Rahmen erfolgt. Vor dieser Kolonialisierung hatten die Uigur*innen ihre eigene Lebenswelt. Sie hatten ihre eigene Sprache und ihr eigenes Bildungssystem, ihre Institutionen, ihre Moscheen, etc. Die Einhegungsprozesse, die Vertreibung von ihrem Land durch das Rechtssystem und der Bau von Infrastruktur hatten den Effekt, dass ihre Lebenswelt zerstört und durch eine neue ersetzt wurde.

Das Label »terroristisch« wird von Regierungen und Unternehmen benutzt, um mit bestimmten Bevölkerungsgruppen Profite zu machen.

Darren Byler

Welche Rolle spielen Überwachungstechnologien in diesem Zusammenhang?

Neben den materiellen Einhegungsprozessen, die ich gerade beschrieben habe, gibt es auch eine digitale Einhegung. Ich spreche hier von »Terrorkapitalismus«. Damit will ich beschreiben, wie das Label »terroristisch« von Regierungen und Unternehmen benutzt wird, um mit bestimmten Bevölkerungsgruppen Profite zu machen. Die Sicherheitstechnik ist ein Schwerpunkt der chinesischen Technologiebranche, und um die Überwachung der Uigur*innen herum hat sich eine ganze Industrie entwickelt, die natürlich in globale Wirtschaftszusammenhänge eingebunden ist. Das stellt also auch eine Art ursprüngliche Akkumulation dar. Und der Terrorismusbegriff soll hier die Erschließung neuer Märkte sowie die Masseninternierung und Zwangsarbeit der Uigur*innen legitimieren.

Wie können wir die Masseninternierung der uigurischen Bevölkerung in der Logik des Kapitalismus verstehen?

Das Gefängnissystem hat zwei Ebenen. Es gibt die offiziellen Gefängnisse und es gibt die Lager, die seit 2017 gebaut werden. Die Gefängnisse selbst haben oft angegliederte Fabriken, wie in vielen anderen Ländern auch. Die Lager arbeiten dagegen außerhalb formaler Gesetze, das ist eine neue Entwicklung der letzten paar Jahre. Zusammen mit den angegliederten Fabriken funktionieren sie eher wie Arbeitslager. Die Betreiber*innen der Fabriken sind größtenteils Privatleute, die ihre Produktionsstätten wegen der billigen Arbeitskräfte nach Xinjiang verlegt haben. Außerdem hat die Regierung Anreize dafür geschaffen. So hat sich eine Art Hybrid aus Gefängnissystem und privater Industrie gebildet: Während die Lagerinsassen in den Fabriken arbeiten, werden sie von Aufseher*innen der Lager überwacht, die auch bei der Verwaltung der Fabriken helfen.

Foto: privat

Darren Byler

ist Anthropologe an der University of Colorado, Boulder in den USA. Er hat insgesamt zwei Jahre in Xinjiang zur Situation der Uigur*innen geforscht. Ende dieses Jahres erscheint sein Buch »Terror Capitalism: Uyghur Dispossession and Masculinity in a Chinese City«.

Was ist die Rolle der Han-chinesischen Mehrheitsbevölkerung in all dem, wie blickt sie auf die Politik der Regierung in Xinjiang?

Die Han, die in Xinjiang aufgewachsen sind, identifizieren sich meist mit der Region. Sie haben beobachtet, dass die Uigur*innen an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden, dass die Diskriminierung systematisch erfolgt und dass das die Hauptursache dafür war, dass es zu Gewalt kam. Es gibt Leute, die deshalb versuchen, die Uigur*innen zu schützen und ihnen zu helfen, so gut sie können. Das ist nach meinem Eindruck aber eine Minderheit, denn es ist sehr riskant, diesen Standpunkt einzunehmen, vor allem, wenn man es öffentlich tut. Die Mehrheit der Han nimmt die Entscheidungen der Politik einfach hin und hält es für sinnlos, dagegen anzukämpfen. Und einige derer, die noch nicht so lange in der Region leben, betrachten es auch als etwas Positives, dass die Regierung sich für sie einsetzt und ihre Interessen schützt.

Warum findest du es wichtig, nicht nur die Menschenrechtslage in Xinjiang zu kritisieren, sondern die Situation auch aus einer marxistischen Perspektive zu analysieren?

Ich denke nicht, dass es einfach ein nur zivilisatorischer oder kultureller Konflikt zwischen Chines*innen und Uigur*innen ist. Um zu verstehen, warum das geschieht, müssen wir die historischen Zusammenhänge und die materiellen Bedingungen verstehen, die die Menschen dazu bringen, solche Dinge zu tun. Warum erscheint es logisch, so gegen die uigurische Bevölkerung vorzugehen? Welche Vorteile sind damit verbunden? Das sind die Fragen, die ich stellen möchte. Der Bezug auf Menschenrechte kann bei der juristischen Verfolgung nützlich sein, oder um Öffentlichkeit herzustellen. Aber er lässt vieles von dem außer Acht, was tatsächlich vor Ort passiert. Wenn die Situation in Xinjiang nicht differenziert betrachtet wird, kann die Wahrnehmung entstehen, dass Menschenrechtsverletzungen nur »dort« passieren, und nicht »hier bei uns«. Das kann zu einer Art Überlegenheitsmarker werden und zu Sinophobie führen, also Rassismus gegen Chines*innen, und das will ich wirklich nicht durch meine Arbeit fördern. Wir müssen verstehen, wie solche Prozesse Teil von globalen Systemen sind, und wie Ausbeutung und Rassifizierung, die wir in China beobachten, an vielen Orten in der Welt passieren. Die globale Wirtschaft spielt hier eine große Rolle. Die Techniken, die in Xinjiang zum Einsatz kommen, sind denen in Europa und Amerika sehr ähnlich, es gibt nur ein anderes Rechtssystem und weniger Schutz in China.

Der Bezug auf Menschenrechte lässt vieles von dem außer Acht, was tatsächlich vor Ort passiert.

Darren Byler

Gibt es uigurischen Widerstand gegen diese Unterdrückung und Enteignung innerhalb Xinjiangs oder in der Diaspora? Und kennst du Aktivist*innen, die einen eher linken oder materialistischen Ansatz haben?

In Xinjiang selbst ist es sehr schwierig, direkten Widerstand zu organisieren. Betroffene Uigur*innen unterstützen sich gegenseitig und weigern sich, aufzugeben. So leisten sie passiven Widerstand in kleinem Maßstab. Aber er ist informell, er ist nicht organisiert und er zielt nicht darauf ab, das System zu verändern, sondern eher, das System zu überleben. Außerhalb Chinas gibt es eine uigurische Diaspora, die auch Exilorganisationen gegründet hat. Die meisten appellieren an die Regierungen anderer Länder, die Uigur*innen in China zu unterstützen. Sie leisten wichtige Lobbyarbeit, aber viele von ihnen fordern eine Art Nationalstaat der Uigur*innen in China. Menschen haben das Recht auf Selbstbestimmung, aber ich weiß nicht, ob eine staatlich orientierte Lösung notwendigerweise die einzige Lösung ist. Staaten bringen so viele Probleme mit sich. Es gibt andererseits die »Uyghur Solidarity Campaign UK«, die versucht, in der britischen Arbeiterbewegung Unterstützung für die Uigur*innen zu mobilisieren. Und eine Wissenschaftlerin in den USA schreibt unter dem Pseudonym Yi Xiaocuo darüber, wie das Ganze aus einer feministischen und dekolonialen Perspektive aussieht. Es gibt also auch linke Perspektiven in der Debatte.

Die globale Linke scheint dennoch nicht wirklich interessiert an dem Thema zu sein. Stattdessen nutzten es Trumps Regierung und andere Rechte, um Stimmung gegen China zu machen und ihre antikommunistische Agenda zu propagieren. Warum schweigt die globale Linke zur Situation der Uigur*innen?

Die globale Linke kämpft gegen so viele Probleme gleichzeitig, und viele davon im jeweils eigenen Land. Wir müssen allerdings verstehen, dass das, was im Moment mit den Uigur*innen geschieht, eine extreme Form dessen ist, was der moderne Kapitalismus und diese Art von Überwachungssystemen, gegen die wir in Europa und Nordamerika kämpfen, anrichten können. Wir sehen dort sozusagen die ultimative Ausbeutung einer Bevölkerungsgruppe. Deshalb denke ich, dass die Linke darüber besorgt sein sollte. Wir müssen den internationalistischen Diskurs wiederbeleben, einen viel stärkeren Standpunkt zum Thema Xinjiang einnehmen und das nicht den Rechten überlassen. Die Rechten nutzen das Thema tatsächlich nur für ihre eigenen strategischen Zwecke. Die US-Amerikanische Rechte meint gegen den Kommunismus zu kämpfen, den sie durch China repräsentiert sehen, aber hier geht es in Wirklichkeit nicht um Kommunismus. Der Kommunismus ist nicht das, was die Uigur*innen ausbeutet.

Sarah Peters

ist freie Journalistin und liest und schreibt zu sozialen Kämpfen in China und Ostafrika.

Felix Rumbach

hat lange in China gelebt und engagiert sich aktivistisch, um soziale Kämpfe dort zu unterstützen.

Esther Lichtenfeld

ist bei Radio Corax aktiv. Sie hat lange in China gelebt und engagiert sich aktivistisch, um soziale Kämpfe dort zu unterstützen.

Anmerkung

Das Interview wurde im Januar 2021 in englischer Sprache geführt und gibt es hier in voller Länge.