Demaskierter Armenhass
Spahns Schrottmasken sind Teil jener tödlichen Ignoranz gegenüber sozialen Risikofaktoren, die bereits seit Beginn der Pandemie deren »Bewältigung« kennzeichnet
Von Nelli Tügel
Zwei Recherchen setzten Anfang Juni Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) unter Druck: Zunächst deckte Die Zeit auf, dass Masken ohne Nachweis einer Qualitätsprüfung an Alten- und Pflegeheime geliefert worden waren – 96 Millionen zwischen dem 10. November 2020 und dem 31. Januar 2021. Ein von der Wochenzeitung beauftragter Test solcher Exemplare ergab, dass sie sehr durchlässig sind und damit wenig Schutz bieten. An sich ist das schon ein Skandal: Ausgerechnet an Alten- und Pflegeheime, in denen so viele Menschen an Corona gestorben sind, wurden ausgerechnet in Zeiten dieses großen Sterbens unsichere Masken geliefert, die für den medizinischen Einsatz als nicht geeignet galten. Das muss man erst mal sacken lassen.
Wenige Tage nach dem Zeit-Bericht folgte eine weitere Enthüllung, diesmal vom Spiegel: Die legte nahe, dass Spahn überteuert eingekaufte und nur in einem selbst gebauten Eilverfahren getestete, für den Infektionsschutz eher untaugliche Masken loswerden wollte. Und zwar indem er diese an Obdachlose, Hartz-IV-Bezieher*innen, behinderte Menschen und auch Arbeiter*innen verteilen lassen wollte. Dieses vom Gesundheitsministerium erfundene Schnellprüfverfahren verzichtet beispielsweise darauf, die Veränderungen der Maske nach 20 Minuten Tragezeit zu untersuchen: Das Ministerium findet, das sei »für den Infektionsschutz nicht relevant«. Nur eine Intervention des SPD-geführten Arbeitsministeriums habe die Verteilpläne verhindert, so der Spiegel.
Die SPD blamierte sich in den darauffolgenden Tagen zunächst auf ihre ganz eigene Art: Die Hartz-IV-Partei versuchte, sich zur Heldin der Koalition, zur Retterin der Armen aufzuspielen. Die Vorsitzende Saskia Esken forderte umgehend den Rücktritt von Spahn, von Schock, Empörung und einem »unerträglichen Tiefpunkt« des moralischen Verfalls der Union war die Rede. Wie das dazu passt, dass Arbeitsminister Hubertus Heil zwar gegen einige der Verteilpläne Spahns Widerspruch einlegte, ihn aber weiterhin als tragbar und eigenen Angaben zufolge die Debatte längst als »erledigt« ansah, konnte die aufgewühlte Sozialdemokratie bislang nicht erläutern.
Medial verhakelte man sich indes nach den genannten Veröffentlichungen in einer teils detailverliebten Besserwisserei, die sich sehr schnell mehr um Prüfnormen als um Menschen drehte. Spahn wies derweil alle Vorwürfe weit von sich, dementierte aber zu keinem Zeitpunkt, dass Masken nach dem Schnellprüfverfahren in Umlauf gebracht werden sollten und wurden, im Gegenteil, er verteidigt die Verteilpläne, denn die Masken seien »sicher«.
Es ist gut möglich, dass weitere Enthüllungen rund um die Schrottmasken folgen und die Spahnschen Schutzbehauptungen widerlegen werden. Doch schon jetzt ist vor allem eines deutlich: Die Bearbeitung der Pandemie war zu jeder Zeit auch sozialchauvinistisch und behindertenfeindlich strukturiert. Das ist keine ganz neue Information: Einkommensarme, Hartz-IV-Bezieher*innen , Leiharbeiter*innen, Menschen in Einrichtungen wie Altenheimen oder Behinderteneinrichtungen waren von Beginn der Pandemie an besonders gefährdet – und zwar auch jenseits von Risikofaktoren wie Alter oder Vorerkrankungen. Dass Menschen mit geringerer Formalbildung häufiger an Corona erkrankten, belegte zuletzt auch die groß angelegte Antikörperstudie des RKI, deren erste Ergebnisse Anfang Juni ebenfalls veröffentlicht wurden.
Die Bearbeitung der Pandemie war zu jeder Zeit auch sozialchauvinistisch und behindertenfeindlich strukturiert.
Jene Menschen also, um die es auch bei den Verteilplänen ging, waren stets einem höheren Ansteckungsrisiko wie auch einem höheren Hospitalisierungs- und Sterberisiko ausgesetzt. Dass überhaupt darüber diskutiert werden muss, ob es in Ordnung ist, diesen besonders gefährdeten Menschen nur schmalspurgeprüfte Masken anzudrehen, ist eigentlich absurd, aber eben auch triste und lebensverachtende Alltäglichkeit.
In ihrem ganzen Ausmaß zeigt sich diese Alltäglichkeit nur, wenn man sie zu der Ignoranz gegenüber den sozialen Risikofaktoren addiert, die bereits seit Beginn der Pandemie deren »Bewältigung« kennzeichnet: Behindertenwerkstätten waren jederzeit geöffnet, Betriebe zum größten Teil ebenso, die Beantragung von Hartz IV wurde zwar erleichtert, das System Jobcenter aber blieb bestehen. Selbst nachdem es im öffentlichen Raum Pflicht geworden war, musste um die Ausgabe kostenloser FFP-2-Masken rechtlich gestritten werden. Dass Masken möglicherweise keinen Schutz boten, sondern die Träger*innen vielmehr im falschen Glauben beließen, sie seien einigermaßen sicher, ist so selbstverständlich unverzeihlich, wie es für die Bundesregierung selbstverständlich ist, dass sich die Regeln der Klassengesellschaft in ihrem Pandemiemanagement fortsetzen.