Prekäre Versorgungslage
Der aus der Ukraine exportierte Mais landet vor allem in Futtertrögen – derweil werden im Agrarsektor die Weichen für die Zeit nach dem Krieg gestellt
Von Eva Gelinsky
Seit Ausbruch des Krieges konnten im Rahmen des Schwarzmeer-Abkommens gut 26 Millionen Tonnen Agrargüter aus der Ukraine exportiert werden. Mit der am 18. März verkündeten Verlängerung des Abkommens um 60 Tage ist die Gefahr eines erneuten Preisanstiegs zumindest vorerst gebannt. Das Getreideabkommen war erstmals im Juli 2022 zwischen Russland, der Ukraine, der Türkei und den Vereinten Nationen geschlossen worden. Trotzdem befindet sich der globale Preisindex für Nahrungsmittel nach wie vor auf dem höchsten Stand seit zehn Jahren.
Das mit Abstand wichtigste Exportgut der Ukraine war bisher Körnermais (die Hälfte der Menge). Weizen als Nahrungsmittel (oder Futtergetreide) hatte einen Anteil von 27 Prozent. Dazu kamen kleinere Mengen an Sonnenblumenschrot und -öl sowie Rapssaat. Zu den Hauptabnehmern gehören China, Spanien, die Türkei, Italien und die Niederlande. Die aus der Ukraine importierten Agrargüter dürften also wohl vor allem als Futtermittel in der Intensivtierhaltung eingesetzt werden.
Spanien beispielsweise steht in Europa auf Platz eins und weltweit auf Platz vier im Ranking der größten Schweinefleischproduzenten. Die ärmeren Länder Asiens und Afrikas, vor allem Subsahara, Sudan, Somalia und Kenia, importierten jeweils weniger als ein Prozent. Die Importe dieser Staaten lagen insgesamt unter 15 Prozent der Gesamtmenge und wären ohne die Unterstützung des World Food Program (WFP) noch geringer ausgefallen. Ungeachtet der politischen Beteuerungen, wie wichtig das Abkommen vor allem für die Bekämpfung des Hungers sein soll, gilt also weiterhin: Wer zahlt, isst und kann trotz gestiegener Preise (intensiv) produzieren.
Nach wie vor äußerst prekär ist die Versorgungslage im Nahen Osten und in Nordafrika. In fünf Ländern der Region hat die Inflation bei Lebensmitteln allein in diesem Jahr die 60-Prozent-Marke überschritten. Im Libanon und in Syrien beispielsweise liegt die Teuerungsrate bei Lebensmitteln mit 139 Prozent bzw. 105 Prozent jeweils im dreistelligen Bereich. Hinzu kommt: Im Libanon, in Ägypten, Syrien und in Iran haben die Währungen allein in den letzten zwölf Monaten zwischen 45 und 71 Prozent an Wert verloren.
Gleichzeitig wird die heimische Nahrungsmittelproduktion sowohl durch Konflikte als auch durch eine sich verschärfende Klimakrise beeinträchtigt. Die Region leidet unter anhaltenden Dürren und Hitzewellen, Waldbränden, Überschwemmungen, unregelmäßigen Regenfällen und Erdrutschen. Hinzu kommen drastische Preissteigerungen für Düngemittel von rund 200 Prozent seit 2020, die nicht nur Nahrungsmittel noch teurer machen, sondern in diesem Jahr auch zu einem Einbruch der Produktion führen könnten. Dies dürfte noch mehr Kleinbäuer*innen aus dem Markt drängen, wie eine aktuelle Studie am Beispiel Marokkos zeigt.
Neoliberaler Umbau der Landwirtschaft
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine wird auch in diesem Jahr die Preisentwicklung auf dem Weltagrarmarkt beeinflussen, denn nach monatelangen schweren Kämpfen ist die ukrainische Landwirtschaft massiv beeinträchtigt. Mindestens 26 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche sind nicht mehr nutzbar. Für die Menschen, die Nahrungsmittel anbauen, besteht Lebensgefahr durch Minen und Blindgänger. Ob eine großflächige Frühjahrsaussaat, etwa von Sommergetreide, stattfinden kann, ist fraglich, da es in vielen Landesteilen vor allem an Saatgut und Dieselgeneratoren fehlt. Zusätzlich ist das Land mit gravierenden Umweltschäden konfrontiert, deren langfristige Auswirkungen noch kaum abschätzbar sind. So enthalten Patronenhülsen unter anderem Schwefel und Kupfer. Über den Boden können diese Stoffe ins Grundwasser und von dort in die Nahrungskette gelangen.
Obwohl sich derzeit gerade die kleinbäuerlichen Betriebe als anpassungsfähig und flexibel erweisen und sie damit einen wichtigen Beitrag zur Ernährungssicherheit der Ukraine leisten, sind ihre Zukunftsaussichten düster. Denn bereits jetzt wird auf Druck westlicher Gläubiger (siehe Kasten) der weitere Ausbau agrarindustrieller Strukturen vorangetrieben, wie die Studie »War and Theft« des Oakland Institutes zeigt.
Kredite gegen Privatisierungen
In den letzten Jahren haben westliche Staaten und Finanzinstitutionen die Ukraine mit vielen Milliarden Dollar an Krediten unterstützt, um eine Staatspleite abzuwenden. Auch in der Ukraine waren und sind diese Kredite mit drastischen Strukturanpassungsmaßnahmen verbunden, darunter die 2022 gegen große Widerstände durchgesetzte Arbeitsmarktreform. Durch den Krieg steigt die Schuldenlast der Ukraine weiter; inzwischen ist sie drittgrößter Schuldner des Internationalen Währungsfonds (IWF). Die mächtigen Gläubiger haben bereits mehrfach deutlich gemacht, dass sie ihren Einfluss geltend machen werden, um eine Privatisierung des öffentlichen Sektors und eine Liberalisierung des Agrarbereichs
durchzusetzen.
Damit dürfte noch mehr Land in den Besitz oder unter Kontrolle großer Agrarholdings geraten. Von den ca. 4,3 Millionen Hektar, die agrarindustriell bewirtschaftet werden, sind drei Millionen im Besitz von nur zwölf großen Agrarunternehmen. Die meisten dieser Unternehmen sind, auch wenn sie reichen ukrainischen Oligarch*innen gehören, im Ausland registriert: in Steuerparadiesen wie Zypern oder Luxemburg, aber auch in den USA, den Niederlanden oder Saudi-Arabien. Zu den Aktionären, Investoren und Gläubigern dieser Agrarholdings zählen prominente Investmentfonds, darunter die Vanguard Group oder die zu Goldman Sachs gehörende NN Investment Partners Holdings N.V. Auch der IWF, die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung oder die Europäische Investment Bank sind mit Krediten am ukrainischen Agrarbusiness beteiligt. Ein besonders umstrittener Investor ist das US-amerikanische Private-Equity-Unternehmen NCH Capital, dem unrechtmäßiger Landerwerb, Steuerhinterziehung und illegale Finanztransaktionen vorgeworfen werden.
Im Libanon und in Syrien liegen die Preissteigerungen für Lebensmittel im dreistelligen Prozentbereich.
Die weitere Konsolidierung des landwirtschaftlichen Bodenmarktes wird nun zusätzlich durch ein Gesetz gefördert, das die Regierung Selenskyi im Jahr 2020 – ebenfalls auf Druck westlicher Geldgeber und gegen den massiven Widerstand der Bevölkerung – verabschiedet hat. (1) Das Gesetz ermöglicht unter anderem ab Anfang 2024 juristischen Personen den Kauf von bis zu 10.000 Hektar Land. Das Unternehmen Kernel, im Besitz eines ukrainischen Oligarchen und mit 582.062 Hektar der größte Landbesitzer, hat bereits angekündigt, seine Flächen auf 700.000 Hektar erweitern zu wollen, sobald das möglich ist.
Angesichts dieser Entwicklungen forderte im Dezember 2022 eine Koalition aus Landwirt*innen, Wissenschaftler*innen und Nichtregierungsorganisationen die ukrainische Regierung auf, das Bodenmarktgesetz von 2020 und alle Markttransaktionen von Land während der Kriegs- und Nachkriegszeit auszusetzen. Bereits ein Jahr nach Verabschiedung des Gesetzes wurde von der Organisation Ecoaction ein Bericht mit der Forderung veröffentlicht, den Bodenmarkt nach sozial gerechten und ökologisch verträglichen Kriterien zugunsten einer bäuerlichen Landwirtschaft umzugestalten.
So nutzt der Staat die prekäre Situation des Krieges auch im Agrarbereich, um den neoliberalen Umbau voranzutreiben. Wie die ukrainische linke Gruppe Sotsialnyi Rukh für den Arbeitsmarkt, fordern Organisationen wie Ecoaction für die Landwirtschaft nach dem Krieg einen Wiederaufbau, der sich an sozialen und ökologischen Kriterien orientiert. Die Linke in Europa sollte sich auf internationaler Ebene für einen vollständigen Schuldenerlass für die Ukraine einsetzen. Auch darf die weitere finanzielle Unterstützung des Landes nicht an neoliberale Strukturanpassungsprogramme geknüpft werden. Der Wiederaufbau nach dem Krieg sollte also weder zugunsten der ukrainischen Oligarch*innen und Konzerne noch gegen die Interessen der ukrainischen Bevölkerung geplant und umgesetzt werden.
Anmerkung:
1) Als sich die Ukraine 2020 in akuten Zahlungsschwierigkeiten befand, wurde die Auszahlung einer weiteren Kredittranche des IWF an die Bedingung geknüpft, dass die Regierung eine umstrittene Bodenmarktreform durchsetzt und das 2001 erlassene Moratorium für den Verkauf von Agrarland beendet.