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Magdeburg im Dezember

Eine Stadt, der Angriff auf den Weihnachtsmarkt und der rechte Wahlkampf

Von Marcel Hartwig

Das Bild zeigt ein Meer aus Blumen und Kerzen, die nach dem Anschlag in Magdeburg an einer Kirche abgelegt wurden
Das Ausmaß der Katastrophe in Magdeburg ist schwer zu fassen. Viele Menschen legen vor der Johanniskirche Blumen ab. Foto: LSE Wendland/Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0

Am 20. Dezember wurde der Magdeburger Weihnachtsmarkt zu einem Ort des Grauens. Bereits kurz nach dem Anschlag – während die Stadtgesellschaft um Fassung rang und um die Opfer trauerte – entfachten Rechte einen Kampf um die politische Deutungshoheit, begleitet von Gerüchten, rechter Hetze und zunehmender Gewalt. Versuch einer Chronik der Ereignisse und ihrer Folgen.

20. Dezember

Um 19.02 Uhr rast ein Auto ca. 300 Meter durch einen Gang des Weihnachtsmarktes in Magdeburg. Zurück bleiben eine Schneise der Verwüstung, 300 Verletzte, davon 40 Schwerverletzte und sechs Tote. Rettungssanitäter*innen bietet sich ein Bild des Grauens. Binnen weniger Minuten verbreiten sich via rechtsextremer Influencer*innen Gerüchte und Fake News über die angebliche Zahl der Toten, über vermeintliche Schüsse in einem Einkaufszentrum, über angeblich mehrere migrantische Täter. Beteiligt an der Weitergabe unbestätigter Informationen ist der österreichische Rechtsextremist Martin Sellner. In lokalen Messenger-Chats treiben die Gerüchte Blüten. Zugleich verbreitet sich Angst, Panik und Unsicherheit bei Eltern, die ihre Kinder in der Innenstadt auf dem Weihnachtsmarkt wussten. In nicht verifizierbaren Quellen ist von elf Toten die Rede, was sich als falsch herausstellt. Noch am Abend äußern sich Lokal- und Landespolitiker vor der Kulisse des zerstörten Weihnachtsmarktes zur Tat. Alle Kulturveranstaltungen in der Stadt werden abgesagt, der Weihnachtsmarkt geschlossen.

21. Dezember

Das ganze Ausmaß des Geschehens wird sichtbar. Medien rekonstruieren den Weg der Todesfahrt über den Weihnachtsmarkt. Erste Fragen an das Sicherheitskonzept und der Positionierung der Betonbarrieren tauchen auf. An einer Kirche nahe dem Weihnachtsmarkt legen Menschen Blumen nieder und stellen Kerzen auf. Ein stiller Gedenkort entsteht. Von hier berichten Journalist*innen den ganzen Tag über das Geschehen vom Vortag.

Führende Köpfe der AfD-Jugendorganisation Junge Alternative treffen sich am Gedenkort vor der Johanniskirche für einen Foto- und Videotermin für ihre Social-Media-Kanäle. Ungehindert können sie vor Ort einen Kranz niederlegen und sich für ihre Propaganda in Szene setzen. Rechtsextreme der Identitären Bewegung führen eine Banneraktion an einer Elbbrücke durch und stellen ein Video davon ins Netz.

Ungehindert können Rechtsextreme vor Ort einen Kranz niederlegen und sich für ihre Propaganda in Szene setzen.

Am Abend findet eine Mahnwache mit rund 1.500 Menschen auf dem Domplatz und ein Trauergottesdienst im Dom statt. Zur gleichen Zeit sammeln sich in der südlichen Innenstadt zwischen 1.300 und 1.800 Neonazis aus angrenzenden Bundesländern und NRW zu einer Kundgebung mit anschließendem »Trauermarsch« durch die leere Innenstadt. In ihren Reden fordern die Neonazis Thorsten Heise, Sebastian Schmitdke und Christian Klar Abschiebungen von Migrant*innen und rufen zum Kampf gegen Einwanderung auf. Fotojournalist*innen werden bedrängt. Aus Angst vor Angriffen schließen von Migrant*innen betriebene Imbisse und Kioske am Hasselbachplatz in der südlichen Innenstadt vorzeitig.

Die Informationen über den Täter, ein saudi-arabischer Arzt, der 2006 nach Deutschland kam, lassen unterdessen keinen Schluss auf die Tatmotivation zu – es ergibt sich ein verworrenes Bild. In bis vor Kurzem einsehbaren Internet-Posts bekannte er sich zu islamfeindlichen Inhalten und suchte offenbar die Interaktion mit Rechtsextremen, setzte Likes für die AfD. Aber auch zu Flüchtlingsorganisationen nahm er Kontakt auf – vorgeblich mit der Absicht, Frauen aus Saudi-Arabien helfen zu wollen. Zugleich versandte er offenbar Drohungen und Einschüchterungen an Behörden und NGOs. Sein Weltbild ist durchzogen von rechtsextremen Denkmustern.

23. Dezember

Am späten Nachmittag ereignet sich ein versuchter Brandanschlag auf das alternative Wohnprojekt LIZ in Magdeburg-Fermersleben. Die Täter fahren mit einem privaten Pkw vor, schleudern einen Brandsatz gegen die Fassade und rasen davon. Das Feuer an der Hauswand kann gelöscht werden. Es entsteht kein Schaden.

Für den Abend hat die AfD eine Kundgebung und einen »Trauerzug« auf dem Domplatz angemeldet. Mehr als 4.000 Menschen nehmen an der AfD-Veranstaltung teil, auf der neben anderen die AfD-Bundesvorsitzende Alice Weidel spricht. Die Stimmung der Teilnehmenden der AfD-Kundgebung ist weniger von Trauer als von rassistischer Hetze geprägt. So wird Weidels Rede von Parolen wie »Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen« unterbrochen, die sonst auf Neonazi-Demonstrationen zu hören sind. Der anschließende »Trauerzug« durch das Magdeburger Domviertel mutiert zu einer offen rechten und rassistischen Demonstration. Danach drängen einige ihrer Teilnehmenden in Richtung Alter Markt, wo bereits etwa 4.000 Menschen zu einem Zeichen stillen Gedenkens um den Tatort versammelt sind. Eine Gruppe Antifaschist*innen protestiert zeitgleich vor dem Restaurant, in dem Alice Weidel nach der AfD-Veranstaltung offenbar zu Abend isst. Sie werden von Neonazis umringt und bedroht.

24. Dezember

Es mehren sich Meldungen über rassistische Angriffe auf Migrant*innen in der Stadt und im Bundesland. Beratungsstellen sprechen gegenüber dem MDR von einem feindseligen und gewaltbereiten Klima gegenüber Migrant*innen. Verbale Entgleisungen gehen mehrfach in rassistische Gewalt über. Verbände warnen, Migrant*innen sollten sich nicht allein im öffentlichen Raum bewegen. Angegriffen wurde u.a. eine migrantische Krankenschwester und ihr Begleiter auf dem Weg von der Schicht nach Hause. Die Serie der Angriffe setzt sich in den folgenden Tagen fort.

Das Uniklinikum veröffentlicht ein Statement, in dem auf die multiethnische Herkunft des Pflege- und Ärzt*innenpersonals verwiesen und rassistischer Hetze zurückgewiesen wird. Denn ohne medizinische Mitarbeiter*innen aus dem Ausland wären die Kliniken der Stadt nicht mehr handlungsfähig. Pfleger*innen und Ärzt*innen arbeiten am Limit.

31. Dezember

In einem TikTok-Video beklagen die Eltern des am 20.12. getöteten neunjährigen Jungen, dass ihnen die Behörden den Zugang zum Leichnam ihres Kindes verwehrten. Binnen kurzer Zeit wird das Video von rechtsextremen Aktivisten im Internet aufgegriffen und mit der Deutung versehen, Opfer von Migrant*innen Gewalt würden von Behörden und Beratungsstellen bewusst allein gelassen. 

3. Januar

Die Wohnung einer syrischen Familie wurde am 2. Januar mit einem Hakenkreuz am Haus markiert.

Instrumentalisierte Tragödie

Es dauerte keine zwei Tage, bis die AfD die Tat von Magdeburg politisch okkupiert hatte. Mit perfekt in Szene gesetzten Bildern und Videos fluteten sie die sozialen Medien. Allerdings: Fakten zur Tatmotivation interessieren AfD und Neonazis nicht, wenn sie Tat und Täter in ihr rassistisches Deutungsmuster pressen und die Herkunft des Täters zur Ursache der Tat erklären. Es wirkt zynisch, ist aber wahr: Für die AfD war der Angriff auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg der Auftakt ihres Bundestagswahlkampfs. Dass vor Weihnachten mehr als 4.000 Menschen zu einer AfD-Kundgebung mobilisierbar sind, spricht für die Stärke der Partei. Die nach dem 20.12. gestiegene Zahl der Angriffe auf Migrant*innen ist Ausdruck der brutalen Normalisierung rassistischer Gewalt. Migrantische Stimmen und Antifaschist*innen beschreiben die Lage in der Stadt als angespannt, wie zuletzt in den 1990er Jahren. Menschen mit Migrationsgeschichte berichten seit dem 20. Dezember von einer Zunahme aggressiver Feindseligkeit. Das Spektrum der Angriffe reicht von verbalen Attacken über Anspucken bis zu offenbar organisierten Übergriffen von vermummten Neonazis, die ihre Opfer mit einem Teleskop-Schlagstock traktiert haben sollen. In migrantischen Communitys bestimmen im Moment Verunsicherung und Angst den Alltag.

Zwischen Widerstand und Überforderung

Doch der von der AfD erhobene Anspruch auf Deutungshoheit der Tat blieb nicht unwidersprochen.  Jugendinitiativen, antifaschistische Gruppen, Vertreter*innen von Gewerkschaften und Kirchen stemmten sich gegen die Instrumentalisierung der Tat. Das ist im politischen Umfeld Ostdeutschlands keineswegs selbstverständlich. Der begonnene Bundestagswahlkampf und seine absehbar rassistisch aufgeladene Polarisierung erfordern mehr als Bekenntnisse zu Zusammenhalt und Solidarität mit Menschen, die nicht erst seit dem Angriff auf den Weihnachtsmarkt bedroht, beleidigt und verletzt werden. Jene, die von Angriffen und rechter Agitation betroffen sind, brauchen Schutz, Unterstützung und Begleitung im Angesicht der erhöhten Bedrohung im Kontext des Wahlkampfes. Dies wiederum wird sich von den Engagierten vor Ort nicht allein realisieren lassen. Schon jetzt sind die Kräfte derer, die sich gegen die AfD stellen, mehr als überdehnt. Die AfD wiederum wird in den verbleibenden anderthalb Monaten bis zur Wahl keine Gelegenheit auslassen, den Angriff von Magdeburg politisch zu nutzen. Zu Gebote stehen ihr dafür umfangreiche parlamentarische und außerparlamentarische Mittel. Ob die Partei gemessen in (nicht nur) ostdeutschen Prozentpunkten von dem Angriff in Magdeburg bei den Wahlen profitieren kann, hängt mit davon ab, ob es gelingt, der AfD-Propaganda und ihren konservativen Verstärkern Grenzen zu setzen. Schließlich werden die Betroffenen des Anschlags von Magdeburg um ihre Rechte, ihre Versorgung und Repräsentanz kämpfen müssen und sich hoffentlich zugleich von der rechten Okkupation der Ereignisse abgrenzen.

Marcel Hartwig

lebt in Leipzig und Halle. Er ist in der Jugendarbeit tätig.