Lützerath: Grüne solidarisieren sich mit fossilem Kapital
Von Tatjana Söding
Lützerath soll endgültig abgebaggert werden. Das hat hohe symbolische Kraft. Denn Aktivist*innen der Gruppe Alle Dörfer Bleiben ist es gelungen, das nordrhein-westfälische Dorf zu einem Symbol der 1,5-Grad-Grenze zu machen. Lützerath, dessen Ortsgrenze mittlerweile fast mit der Abrisskante des Tagebaus Garzweiler II identisch ist, soll weichen, um bis 2030 weitere 290 Millionen Tonnen Kohle zu fördern.
Laut Bundesregierung sei dies der einzige Weg, die Energieversorgungssicherheit in diesem und im nächsten Winter zu gewährleisten. Zwei Braunkohleblöcke des Kraftwerks Neurath sollen nicht wie geplant Ende des Jahres vom Netz gehen, sondern bis März 2024 weiterlaufen. Gleichzeitig werde RWE den ursprünglich auf 2038 datierten Kohleausstieg im Rheinischen Revier auf 2030 vorziehen. Dadurch sollen rund 280 Millionen Tonnen Kohle in der Erde verbleiben. Robert Habeck sprach von einem »guten Tag für den Klimaschutz«, doch tatsächlich ist die Vereinbarung von Anfang Oktober ein klimapolitisches Desaster.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) veröffentlichte bereits im Juni 2021 eine Studie, nach der die Kohleförderung aus den Tagebauen Hambach und Garzweiler II ab Januar 2021 auf 200 Millionen Tonnen Braunkohle limitiert werden muss, um das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent einzuhalten. Die Forscher*innen schlugen außerdem vor, die weitere Förderung so aufzuschlüsseln, dass alle Dörfer und Wälder erhalten bleiben können. Konkret: 70 Millionen Tonnen Kohle sollten auf Garzweiler II und weitere 130 Millionen Tonnen aus dem Tagebau Hambach abgebaut werden. Tatsächlich werden es 90 Millionen Tonnen mehr werden. Damit reißen die grün geführten Wirtschaftsministerien in Nordrein-Westfalen und im Bund im Schulterschluss mit dem fossilen Giganten RWE die 1,5-Grad-Grenze.
In Lützerath wird spätestens mit Beginn der Räumungssaison im November die 1,5-Grad-Linie verteidigt.
Kurz vor dem Bundesparteitag der Grünen Mitte Oktober muss ihre Politik in der Ampelkoalition nicht nur als klimapolitisches Desaster beurteilt werden, sondern als Abkehr von ihrem ökologischen Markenkern und ihrer historischen gesellschaftlichen Basis: den Neuen Sozialen Bewegungen, insbesondere der Ökologiebewegung, und Teilen der Mittelklasse.
Was wir gerade energiepolitisch erleben, ist ein Klassenkampf von oben: gegen Bürger*innen mit durchschnittlichen und niedrigen Einkommen, gegen Arbeiter*innen, gegen soziale und ökologische Bewegungen. Obwohl RWE im ersten Halbjahr 2022 seinen Gewinn auf 2,1 Milliarden Euro verdoppeln konnte, gaben Grüne und SPD dem Widerstand von Finanzminister Christian Lindner gegen eine Übergewinnsteuer nach.
Der Kompromiss zwischen Grünen und RWE wird als sozialpolitischer Erfolg dargestellt, weil die »Braunkohleflotte in der Energiekrise mit hoher Auslastung betrieben werden« und somit die Energiesicherheit trotz ausbleibendem russischen Gases und ausgefallenen Atomkraftwerken in Frankreich gesichert werden könne. Doch wessen Sicherheit ist hier gemeint? Die jener Menschen in prekären Verhältnissen, die auch im Januar ihre Wohnung heizen wollen? Doch wohl eher die der Industrie. Denn die deutsche Wirtschaft basiert maßgeblich auf den Einkauf günstiger Energie für den Export industrieller Produkte. Dass die Industrie ihren Energieverbrauch nicht reduzieren muss und somit keine großen Profitverluste hat – das ist die Sicherheit, die die Grünen gewährleisten.
Es ist nicht die Sicherheit der Bürger*innen in die Aussagekraft wissenschaftlicher Fakten, die der Klimabewegung oder der Millionen vom Klimawandel am meisten betroffenen Menschen im Globalen Süden, deren Lebensgrundlage nicht durch in Hinterzimmern ausgehandelte Ausstiegsdaten, sondern durch die Reduktion von Treibhausgasen gewährleistet wird. RWE hingegen darf sich in Sicherheit wiegen, in den Grünen einen Verbündeten gefunden zu haben.
In Lützerath wird spätestens mit Beginn der Räumungssaison im November die 1,5-Grad-Linie verteidigt. Diese Aufgabe bedarf ein breiteres Bündnis als nur von Klimagerechtigkeitsgruppen. Gewerkschaften, Demokratie- und soziale Bewegungen wie Genug ist Genug und Gruppen der internationalen Solidarität müssen sich zusammenschließen, um Lützerath zu verteidigen. Der Kampf um reale Orte, das haben die Erfolge im Hambacher Forst gezeigt, bringen die Stärken der sozialen Bewegung hervor: Vernetzungen und konkrete Machtgewinne.