Lina E. gegen die Gesinnungsjustiz
Unter Anwendung des Paragrafen 129 StGB sollen wilde Interpretationen für eine Verurteilung reichen
Von Carina Book
Zeit für ein Bekenntnis: Ich bin eine Frau, trage fast immer schwarze Kleidung, bin im Besitz einer Pudelmütze, fahre häufig mit dem Zug, telefoniere viel zu viel und habe eine extrem schlechte Meinung über Nazis. War ich am 15. Februar 2020 in einem sächsischen Regionalexpress unterwegs? Wahrscheinlich nicht, aber genau weiß ich es nicht.
Ob Lina E. an diesem Tag in einem sächsischen Regionalexpress unterwegs war, weiß ich auch nicht. Und wenn die Bundesanwaltschaft ehrlich wäre, müsste sie wohl zugeben, dass sie es auch nicht weiß. Es gibt keinen Beweis dafür, dass Lina E. die Frau im Zug war, die laut Behörden eine ausspähende Funktion für einen Überfall auf Neonazis in Wurzen gehabt haben soll. Auch das vor dem Oberlandesgericht in Dresden vorgebrachte Gutachten einer Anthropologin belegt nichts – die hält es irgendwie für »wahrscheinlich«, aber so richtig sagen kann es keine*r.
Das ist wohl einer der vielen Punkte, die Bundesanwältin Geilhorn meint, wenn sie in ihrem Plädoyer bedauert, dass »die Smoking Gun« fehle. Lina E. und drei weitere Angeklagte werden beschuldigt, zwischen August 2018 und Februar 2020 Angriffe auf Neonazis begangen zu haben, bei denen 13 Personen verletzt wurden. Dabei hätten sie eine »kriminelle Vereinigung« gebildet, so Geilhorn. Und obwohl der Prozess nun eineinhalb Jahre gedauert hat, hat er vor allem vage Indizien und wilde Interpretationen geliefert. Schlimmer noch: Die Beweislast wurde umgedreht und die Aufgabe, einen Unschuldsbeweis zu erbringen, auf die Verteidigung abgeschoben.
Nun könnte man meinen: Keine Beweise – keine Verurteilung, denn auch dafür, dass Lina E. »Rädelsführerin« und »Kommandogeberin« einer kriminellen Vereinigung sei, gibt es keinen Beweis. Nicht einmal die Existenz einer »kriminellen Vereinigung« konnte bewiesen werden. Oder, wie es Bundesanwältin Geilhorn ausdrückte: Man konnte »keine Satzung, kein Kassenbuch, keinen schmissigen Namen oder einen Gruppenchat« finden. Und dennoch fordert die Bundesanwaltschaft acht Jahre Haft für Lina E. und weitere mehrjährige Haftstrafen für die Mitangeklagten.
Leider ist der schlechte Witz an dem Paragrafen 129 seit seiner Verschärfung 2017, dass der genaue Nachweis einer Vereinigungsstruktur nicht mehr vor Gericht geliefert werden muss.
Dementsprechend argumentiert die Bundesanwaltschaft, dass die gemeinsame politische Gesinnung gepaart mit Aussagen von Johannes Domhöver, der im Verfahren zum Kronzeugen hochstilisiert wurde, für sie ausreichend Hinweise über die Existenz dieser Vereinigung gebracht hätte.
Hier kommt ein Feindstrafrecht aus RAF-Zeiten zur Anwendung, das den*die Feind*in qua Gesinnung ausmacht und mittels politischer Justiz bekämpft.
Allein die Gründung einer »kriminellen Vereinigung« und »Rädelsführerschaft« genügen, um bis zu fünf Jahre in den Knast zu wandern. Ob das Gericht der Bundesanwaltschaft folgen wird, wird sich erst Mitte Mai zeigen, wenn das Urteil gesprochen werden soll. Der Popanz, der um diesen Prozess gemacht wurde, lässt bisher wenig Zweifel am Verurteilungswillen aufkommen: Allein, dass die Generalbundesanwaltschaft das Verfahren, in dem es bei Lichte betrachtet schlicht um Fälle von gefährlicher Körperverletzung geht, an sich gezogen hat, aber auch ein Blick auf die »Sicherheitsmaßnahmen«, die aufgefahren wurden, zeigen, dass dieses Verfahren in die Nähe des Terrorismus gerückt werden sollte. Hier kommt ein Feindstrafrecht aus RAF-Zeiten zur Anwendung, das den*die Feind*in qua Gesinnung ausmacht und mittels politischer Justiz bekämpft.
Ein Urteil nach Paragraf 129 hätte weitreichende Folgen – nicht nur für diejenigen, die in Dresden auf der Anklagebank sitzen. Denn gilt die Existenz einer »kriminellen Vereinigung« erst einmal als bewiesen, könnte sich in folgenden gerichtlichen Verfahren darauf bezogen werden. Da läuft der jahrelang erfolglosen Soko Linx das Wasser im Mund zusammen. Deren Leiter hat dem MDR bereits gesagt, dass sie gegen 50 weitere Beschuldigte ermitteln und auch die Angriffe auf Nazis in Budapest, im Februar dieses Jahres, dem Komplex zurechnen.