Der berühmte erste Schritt
Die EU-Institutionen verhandeln über ein Lieferkettengesetz auf Unions-Ebene – in Deutschland zeigt sich bereits, was so ein Gesetz kann und was nicht
Von Merle Groneweg
Es war das Resultat jahrzehntelanger politischer Kämpfe: 2021 verabschiedete der Bundestag – noch unter der Regierung Merkel – nach intensiver Kampagnenarbeit von zivilgesellschaftlichen Organisationen endlich das »Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz« (LkSG). Schon zehn Jahre zuvor hatten sich die Vereinten Nationen (VN) auf die »VN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte« geeinigt. Dass diese rechtlich nicht bindenden Vorgaben nun – zumindest teilweise – in Gesetzesform gegossen wurden und der Ausbeutung insbesondere von Menschen im globalen Süden Grenzen setzen sollen, ist ein Erfolg. Klar, die Industrie- und Unternehmensverbände haben mit ihrer Lobbyarbeit dafür gesorgt, dass das LkSG erheblich verwässert wurde und gegenüber den VN-Leitprinzipien zahlreiche Mängel aufweist. Aber nichtsdestotrotz ist es ein wichtiger Ansatzpunkt, um in Deutschland ansässige Unternehmen für die Auswirkungen ihrer Geschäftstätigkeiten zur Rechenschaft zu ziehen. Denn im globalen Kapitalismus sind niedrige Arbeits, Umwelt- und Sozialstandards ein »Wettbewerbsvorteil«, von dem auch deutsche Unternehmen profitieren, wenn sie ihre Produktion mittels weit verzweigter Netzwerke auslagern. Doch jetzt können diese nicht mehr einfach auf ihre Zulieferer verweisen und sagen, sie hätten von nichts gewusst.
Nützliches Werkzeug
Das LkSG verpflichtet Unternehmen dazu, ihre Lieferkette auf das Risiko von Menschenrechtsverletzungen zu überprüfen – und nach dieser Risikoanalyse entsprechende Präventions- und Abhilfemaßnahmen zu ergreifen. Darüber hinaus müssen sie einen »Beschwerdemechanismus« einrichten, über den potentielle Menschenrechtsverstöße gemeldet werden können. Über eben diese Risikoanalyse, die durchgeführten Maßnahmen und gemeldeten Verstöße müssen Unternehmen nach Ablauf des Geschäftsjahrs öffentlich berichten. Im Frühjahr 2024 ist mit rund 600 Berichten zu rechnen – denn im ersten Geltungsjahr, 2023, betrifft das Gesetz lediglich Unternehmen mit über 3.000 Beschäftigten. Im Folgejahr wird diese Grenze auf 1.000 Beschäftige abgesenkt; dann werden mehr als 2.800 Unternehmen in Deutschland über ihre »menschenrechtliche Sorgfaltspflicht« Auskunft geben müssen.
Was mit den Berichten dann passiert, steht auf einem anderen Blatt. Aktuell ist eine offene Frage, ob beispielsweise Gewerkschaften, NGOs und kritische Journalist*innen eine systematische Analyse der veröffentlichten Berichte vornehmen werden. Das ist nicht nur eine Frage der Kapazitäten, sondern hängt auch davon ob, wie aufschlussreich die Berichte wirklich sein werden. Darüber hinaus ist ein Kritikpunkt, dass die Unternehmen den Bericht zwar veröffentlichen müssen, die Liste der von der Berichtspflicht betroffenen Unternehmen allerdings nicht öffentlich ist, was wiederum die Recherchen erschwert.
Doch es zeichnet sich bereits jetzt ab, dass das LkSG ein nützliches Werkzeug für die politische Arbeit zu konkreten Einzelfällen sein kann. So können von Menschenrechtsverletzungen Betroffene – also primär Arbeiter*innen, aber auch Anwohner*innen von Industrieprojekten – sowie ihre Interessensvertretungen und Bündnispartner*innen nicht nur bei den Unternehmen eine Beschwerde einreichen, sondern auch bei dem Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA). Damit gesellt sich zu den Druckmitteln gegenüber Unternehmen – neben öffentlichkeitswirksamen Kampagnen, die »Imageschäden« verursachen sollen – auch die Möglichkeit einer Sanktionierung durch das BAFA.
Ein Beispiel ist die Beschwerde, die das mit juristischer Expertise ausgestattete European Center For Constitutional and Human Rights (ECCHR) Anfang November gemeinsam mit der ecuadorianischen Gewerkschaft der Landarbeiter*innen und Bäuer*innen im Bananensektor (ASTAC) sowie Oxfam und Misereor eingereicht hat: Sie werfen Edeka und Rewe vor, »bisher keine wirksamen und angemessenen Schritte zu unternehmen, um die Menschenrechtsverletzungen in ihrer Bananenlieferkette zu verhindern und damit ihren Sorgfaltspflichten nach dem Lieferkettengesetz gerecht zu werden«, heißt es auf der Website des ECCHR. Dabei geht es unter anderem um den Einsatz von gesundheitsgefährdenden Pestiziden, Verstöße gegen die Vereinigungsfreiheit von Arbeiter*innen, sowie die Vorenthaltung eines angemessenen Lohns. Der Beschwerde beim BAFA waren Beschwerden bei den Konzernen vorausgegangen, doch diese reagierten nur unzulänglich.
Erfolge der Wirtschaft
Aufgabe des BAFA ist es, die jährlichen Berichte und die eingereichten Beschwerden zu überprüfen: Haben die Unternehmen eine ausreichende Risikoanalyse unternommen? Sind die beschriebenen Präventions- und Abhilfemaßnahmen tatsächlich ergriffen worden? Kommt die BAFA zu dem Schluss, dass ein Unternehmen seine Sorgfaltspflichten verletzt hat, kann die BAFA Bußgelder von bis zu zwei Prozent des weltweiten jährlichen Unternehmensumsatzes verhängen. Bei erheblichen Verstößen droht zudem der Ausschluss von öffentlichen Aufträgen.
Derzeit wurden schon mehr als ein Dutzend Beschwerden eingereicht, über dessen Bearbeitung jedoch Unklarheit herrscht: Der Prozess befindet sich nicht nur ganz am Anfang, sondern es mangelt auch an Transparenz über die Arbeitsweise und Entscheidungen des BAFA. Davon abgesehen bleibt die ausschließliche Zuständigkeit des BAFA, die lediglich verwaltungsrechtliche Durchsetzungsmöglichkeiten hat, einer der zentralen Kritikpunkte am deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz: Die wirtschaftsnahen Lobbyverbände hatten sich erfolgreich gegen eine »zivilrechtliche Haftung« gewehrt, die es Betroffenen von Menschenrechtsverstößen ermöglicht hätte, Unternehmen in Deutschland vor Gerichten zu verklagen: Dann müssten sich Edeka und Rewe öffentlich vor Gericht verteidigen statt lediglich Dokumente beim BAFA einzureichen.
Die wirtschaftsnahen Lobbyverbände hatten sich erfolgreich gegen eine »zivilrechtliche Haftung« gewehrt.
Die Initiative Lieferkettengesetz, ein Zusammenschluss von mehr als 220 Menschenrechts-, Entwicklungs- und Umweltorganisationen sowie Gewerkschaften und kirchlichen Akteuren in Deutschland, setzt sich nun gemeinsam mit anderen Akteuren wie der European Coalition for Corporate Justice (ECCJ) für ein Gesetz auf EU-Ebene ein. »Mit dem EU-Lieferkettengesetz können und müssen eklatante Lücken im deutschen Lieferkettengesetz geschlossen werden: Zum Beispiel kann eine explizite und faire Regelung der zivilrechtlichen Haftung den Zugang zu Recht für Betroffene erheblich verbessern«, so Simone Ludewig von der Initiative Lieferkettengesetz.
Aktuell ringen EU-Kommisson, EU-Parlament und EU-Rat um die Ausgestaltung der Richtlinie in den informellen interinstitutionellen Verhandlungen, den so genannten »Trilogen«. Zu den erklärten Zielen von allen drei EU-Institutionen gehört, dass Betroffene von Menschenrechtsverletzungen vor europäischen Gerichten Schadensersatz einklagen können – und zwar auf Basis hiesigen Rechts und nicht auf Basis des Rechts jenes Staates, in dem der Verstoß stattgefunden hat. Die genaue Ausgestaltung dieser zivilrechtlichen Haftung birgt jedoch viele Tücken. Wie so oft sind die Vorschläge des EU-Parlaments dabei deutlich ambitionierter als jene des EU-Rats, der einen recht engen Haftungsbereich vorsieht.
Doch auch die Position des EU-Parlaments kommt eine der zentralen Forderungen von progressiven Organisationen nicht nach, nämlich die sogenannte »Umkehrung der Beweislast«: Müssen Betroffene trotz fehlenden Zugangs zu unternehmensinternen Informationen beweisen, dass Unternehmen ihre Sorgfaltspflichten verletzt haben oder müssen Unternehmen bei Menschenrechtsverstößen nachweisen, inwiefern sie ihre Sorgfaltspflicht gewahrt haben? Letzteres wäre aus Sicht von Menschenrechtsorganisationen sinnvoll, doch diese Position wird sich voraussichtlich nicht durchsetzen.
Meinungsverschiedenheiten zwischen den EU-Institutionen gibt es auch in Bezug auf die Klimaschutzpläne sowie den Finanzsektor. So will der EU-Rat lediglich einfordern, dass Unternehmen einen Klimaschutzplan aufstellen, konkretisiert die Anforderungen sowie potentiellen Sanktionen hier jedoch nicht – letztere würden nach Willen des EU-Rats nur drohen, wenn ein Unternehmen gar keinen Klimaschutzplan hätte. Hingegen hat das EU-Parlament die Anforderungen konkretisiert und an das Pariser Klimaabkommen angelehnt, doch auch hier bleiben die vorgeschlagenen Maßnahmen weit hinter den Forderungen von Umweltverbänden zurück, die dezidierte, stark ausgestaltete klima- und umweltbezogene Sorgfaltspflichten gefordert hatten.
Offen ist auch, ob und wie weit der Finanzsektor von der Berichtspflicht sowie entsprechenden Sanktionen betroffen ist. Während sich das EU-Parlament im Juni 2023 für verpflichtende Sorgfaltspflichten für Finanzinstitute und Finanzdienstleister – darunter auch Vermögensverwalter und institutionelle Anleger – entschieden hat, wehrt sich insbesondere Frankreich im EU-Rat dagegen. Doch »selbst der ehrgeizigste Vorschlag, vorgelegt vom Rechtsausschuss des EU-Parlaments, sieht diverse Ausnahmeregelungen für Finanzunternehmen vor«, kritisiert die Initiative Lieferkettengesetz – beispielsweise, dass die Sorgfaltspflicht lediglich für Geschäftsbeziehungen mit direkten Großkunden gelten und diese von der zivilrechtlichen Haftung weitestgehend ausgenommen werden sollen.
Um den Finanzsektor geht es nicht zuletzt auch, wenn um die genaue Definition der »Wertschöpfungskette« gerungen wird: Eine enge Definition, die sich – wie in Deutschland – auf die Lieferkette beschränkt und den Endkundenbereich ausklammert, schließt dann auch die Finanzdienstleister aus, die die Finanzierung für die Abnehmer*innen bereit stellen. Hingegen will das EU-Parlament, dass die Sorgfaltspflichten nicht nur für die Lieferkette, sondern auch den nachgelagerten Teil der »Wertschöpfungskette« betreffen, also etwa den Transport, Lagerung, Verkauf und Vertrieb von Produkten und Dienstleistungen. Das beträfe auch Endkund*innen der Ware und Finanzinstitute, die das Investment oder die Kredite dafür bereitstellen.
Nicht zurücklehnen
Die Unternehmensverbände werden auch auf EU-Ebene bis zur letzten Minute gegen eine möglichst weitreichende Ausgestaltung der EU-Richtlinie lobbyieren und dabei die gewohnten Argumente vorbringen: Sie seien von den Berichtspflichten überfordert, durch Pandemie und Kriege wirtschaftlich ohnehin sehr belastet, und die chinesische Konkurrenz – die natürlich viel schlimmer sei als die hiesigen Unternehmen – würde in Ländern des Globalen Südens davon profitieren, dass sich europäische Unternehmen dort aus Angst vor Klagen nicht mehr trauen würden zu investieren. So ist wahrscheinlich, dass die EU-Richtlinie noch deutlich abgeschwächt wird.
Doch die gute Nachricht ist: Egal, worauf sich die EU-Institutionen einigen, wird die Richtlinie weitreichender als das deutsche Gesetz. Inwiefern das LkSG und die vermutlich 2024 verabschiedete EU-Richtlinie einen Beitrag zur Vermeidung und Linderung von Menschenrechtsverletzungen leisten können, bleibt dann abwarten. Die schlechte Nachricht ist: Die bestehenden Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse im globalen Kapitalismus sind Ausdruck kolonialer Kontinuitäten und nicht zuletzt abgesichert durch die Verträge der Welthandelsorganisation (WTO) sowie zahlreiche bi- und multilaterale Handelsabkommen, die den liberalisierten »Wettlauf nach unten« stark begünstigen. Deshalb heißt es weiterkämpfen.