Labore der Ausgrenzung
Dänemarks Anti-Migrationspolitik dient vielen deutschen Politiker*innen als Vorbild, zugleich ist sie auch von der Bundesrepublik inspiriert
Von Çağan Varol
Die Abschiebeoffensive der Ampel-Regierung, die Forderungen nach stärkerer Migrationsbegrenzung und vermehrten Rückführungen auch nach Syrien und Afghanistan zeigen, wie Konservative, Liberale, Sozialdemokrat*innen und neuerdings auch das Bündnis Sahra Wagenknecht rechte Konjunkturen bestärken, um frühere Wähler*innen zurückzugewinnen – und dabei der AfD zu Wahlsiegen verhelfen. Dabei beziehen sich Politiker*innen von CSU bis BSW immer wieder auf eine Anti-Migrationspolitik im Stile Dänemarks.
Die dortige sozialdemokratisch-liberale Regierung unter Ministerpräsidentin Mette Frederiksen operiert mit einer kulturalisierend-differentiellen Logik, also einer gezielt rassistischen Strategie, die prekäre Migrant*innen als Belastung für den Sozialstaat einordnet und mit rigorosen Methoden quantitativ zu reduzieren versucht. Die dänischen Sozialdemokrat*innen führten dabei die von liberal-konservativen Regierungen initiierten, gegen Migrant*innen gerichteten Maßnahmen seit 2019 weiter bzw. stellten diese noch in den Schatten, indem sie etwa vorschlugen, Auffang- und Abschiebelager in Nordafrika einzurichten und für eine effizientere Abschiebepolitik eine eigene Polizeieinheit zu gründen. Im Jahr 2021 und 2022 wurden Gespräche mit Staaten wie Ruanda und Kosovo geführt, um Asylverfahren dorthin auszulagern.
Bei den dänischen Migrationsrückführungspolitiken bestehen deutliche Parallelen zu früheren deutschen Strategien. Nach dem Anwerbestopp von 1973 versuchten damalige Bundesregierungen über Ghetto-Diskurse, Zuzugssperren und Rückkehrprämien Gastarbeiter*innen zu isolieren und loszuwerden. Neben der in Dänemark in den vergangenen Jahren umgesetzten Quasi-Abschaffung des Asylrechts ähnelt beispielsweise auch die Rückkehrprämie von 5.400 Euro für Asylbewerber*innen und Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus, die seit 2020 durch die neu gegründete Rückkehrbehörde (Danish Return Agency) forciert wird, deutschen Migrationspolitiken nach dem Jahr 1973. Die CDU/FDP-Regierung unter Helmut Kohl hatte in den 1990ern mit Unterstützung des SPD das Grundrecht auf Asyl abgeschafft und mit rechtspopulistischer Stimmungsmache eine Welle von Gewalt gegen Migrant*innen befeuert, die bis heute unaufgearbeitet ist.
Abriss und Gentrifizierung
Die dänischen Politiken der Gegenwart sind zum praktischen Laboratorium für EU-weite Anti-Migrations-Politiken geworden. Die dortige Regierung reißt seit einigen Jahren gebrandmarkte Gegenden ab und siedelt Bevölkerungen zwangsweise um. Der von einer Parlamentsmehrheit unterstützte sogenannte Ghettoplan soll Dänemark bis 2030 »Ghettofrei« machen, auch wenn der Begriff »Ghetto« inzwischen gestrichen wurde. Die besagten Wohngegenden fallen in dieselbe Kategorie wie in Deutschland die »sozialen Brennpunkte« oder »benachteiligten Stadtviertel«. In Dänemark werden sie als »vorbelastete Stadtteile« oder »Parallelgesellschaften« bezeichnet. Die Ausdifferenzierung von Menschen nach westlichem oder nicht-westlichem Hintergrund hat sich dort auch in der stärkeren Integrations- und Arbeitspflicht für nicht-westliche Migrant*innen oder deren Nachkommen, sowie einer Obergrenze von 30 Prozent in Schulen, Wohngegenden und sonstigen Bildungseinrichtungen niedergeschlagen. Nicht-westliche Migrant*innen sind alle Personen, die nicht aus EU-Ländern, Mittel- und Nordeuropa, sowie den USA, Australien, Großbritannien, Neuseeland oder Kanada kommen und damit mehrheitlich nicht in die Kategorie »weiß« fallen. Nicht-westliche Minderheiten machen dabei nur fünf Prozent der dänischen Bevölkerung aus.
In der Praxis werden für die Umsetzung des »Ghettoplans« Wohnungsgesellschaften dazu gedrängt, alten Mietparteien zu kündigen, oder Sozialwohnungen abgerissen und durch Eigentumswohnungen ersetzt. In einigen Untersuchungen wird darauf hingewiesen, dass damit neben einer forcierten Gentrifizierung auch ein Angriff auf den Wohlfahrtsstaat und den sozialen Wohnungsbau bezweckt ist, der zwanzig Prozent des Wohnmarktes ausmacht und von Non-Profit-Organisationen getragen wird. Die Forscherin Anika Seemann stellte fest, dass viele der dänischen Policy-Maßnahmen und -Konzepte auch in anderen europäischen Ländern zu finden seien, die das Prinzip der »sozialen Mischung« für ihre Stadtpolitiken befolgen. Die dänischen Raumpolitiken schaffen insbesondere ein ethnisierendes Verständnis von verräumlichter und differenzierender Bürger*innenschaft und sind vor allem gegen arme Migrant*innen gerichtet.
Für die Umsetzung des dänischen »Ghettoplans« werden Wohnungsgesellschaften dazu gedrängt, alten Mietparteien zu kündigen, oder Sozialwohnungen abgerissen und durch Eigentumswohnungen ersetzt.
In diesem Sinne ist es nicht verwunderlich, dass rechtskonservative Parteien wie die österreichische ÖVP oder die CSU mit den dänischen Sozialdemokrat*innen sympathisieren. Zweitere hatte den dänischen Migrationsminister, Kaare Dybvad Bek, auf ihre Klausurtagung im Januar 2024 für einen Vortrag eingeladen. Das Ironische daran ist, dass skandinavische Politik früher einmal bespielhaft für eine äußerst progressive Asylpolitik wie auch für eine besonders soziale Politik stand, vor der Neoliberale warnten; heute jedoch gilt sie für europäische Konservative wie auch Liberale als Vorbild in Einwanderungsfragen.
Der Vize-Vorsitzende der FDP, Wolfgang Kubicki, hatte Anfang November 2023 bei Welt-TV einen 25-prozentigen »Migrantenanteil« als Obergrenze in den Städten gefordert, wohlwissend das in vielen Großstädten der Anteil migrantischer Menschen fast doppelt so hoch ist und im dominanzgesellschaftlichen Alltagsverstand Deutsche mit Einwanderungsgeschichte aufgrund offen biologistisch-essenzialistischer Kriterien oft nicht als richtige »Deutsche« angesehen werden. Kubicki wehrte sich in einem Gastbeitrag im Magazin Focus gegen den Vorwurf des Rassismus und präsentierte das dänische Vorgehen als Beispiel dafür, wie gegen »Parallelgesellschaften« oder »Ghettos« vorgegangen werden könne. Er verwies auf die sozialliberale Koalition aus den 1970ern, die damals eine Zuzugssperre von zwölf Prozent auf den Weg gebracht hatte. Auch Christian Lindner sprach im September 2024 von »Mehr Dänemark wagen« und meinte einen starken Staat in Einwanderungsfragen. Der dahintersteckende autoritäre Diskurs bündelt und wiederholt ältere rassistische Erzählungen, die Antisemitismus, Sexismus und Homophobie als migrantisches Problem darstellen. Kubicki formulierte es wie folgt: »Ob als Frau, als Jude oder als homosexuelles Paar: Wie frei man sich in manchen Teilen unseres Landes bewegen oder geben kann, hängt viel zu oft am Grad der geglückten oder missglückten Integration in manchen Stadtteilen …« Er wollte damit sagen: weniger Migrant*innen, weniger Probleme.
Grenzen der Solidarität
Passend dazu waren Anfang des Jahres die Enthüllungen des Netzwerks Correctiv über ein geheimes Treffen von AfD-Mitgliedern, Identitären, Werteunionsmitgliedern und Einzelpersonen (»Geheimplan gegen Deutschland«), die Ende November 2023 über eine Strategie zur Remigration bzw. Deportation von Migrant*innen mit und ohne deutsche Staatsangehörigkeit nach einer rechten Machtübernahme diskutiert hatten – unter anderem Deportationen im dänischen Stil nach Nordafrika.
Die bürgerlichen Parteien distanzierten sich sofort, obgleich sie selbst Abschottung und Abschiebungen forcieren. In den Wochen nach der Correctiv-Veröffentlichung demonstrierten Hunderttausende gegen die enthüllten Pläne und die AfD. Fast parallel verübte ein biodeutscher Täter Ende März 2024 einen Brandanschlag auf ein von bulgarischen Mieter*innen bewohntes Haus in Solingen (ak 703). Die Familie Zhilova, beide Elternteile mit zwei kleinen Kindern, starben in den Flammen. Dem Täter wurde in den Medien und von der Polizei nur nachgesagt, er habe den Vermieter treffen wollen, der allerdings überhaupt nicht in dem Haus wohnte, während ein rassistisches Motiv ausgeschlossen wurde. Dabei waren die Bewohner*innen schon einmal, am Jahrestag der Pogromnacht am 9. November 2022, mit einer Brandstiftung konfrontiert gewesen. Und im Juni 2024 wurde ein weiteres von Rom*nja-Familien bewohntes Haus in Solingen mit Brandbeschleuniger angezündet, doch die Tat von der Polizei wiederum nicht mit Rassismus in Verbindung gebracht.
Ein solch verharmlosender Diskurs ließ sich auch in Bezug auf das benachteiligte Viertel Köln-Mülheim beobachten: Als nach dem 20. Gedenktag des NSU-Anschlags im Juni 2024 wieder Bomben auf die Keupstraße und das nahe Umfeld geworfen wurden, wurde hauptsächlich das Ausländerkriminalitätsnarrativ (»Mocro-Mafia«) in Szene gesetzt. Ein möglicher politischer Hintergrund verschwand mit dieser These aus der öffentlichen Wahrnehmung und wurde im Mediendiskurs genauso ignoriert, wie schon bei der NSU-Berichterstattung. Daran haben Anti-AfD-Demos und scheinheilige Birlikte-Festivals (ak 705) kaum etwas geändert.
Auch die Familienmitglieder der neun Ermordeten des rassistischen OEZ-Anschlags von 2016 in München hielten vor 150.000 Menschen Reden bei den Anti-Remigrations-Demos. Es herrschte die leise Hoffnung, dass ein paar Tausend auch auf ihre Kundgebung im Juli kommen würden. Es kamen aber nur etwa 800 Personen, wie in den Jahren zuvor. Beim Gedenktag in Duisburg für die sieben Ermordeten aus dem Kreis der Familien Turhan und Satır, die bei einem Brandanschlag im August 1984 ums Leben gekommen waren, kamen 150 Personen. Vor vierzig Jahren argumentierte die Polizei, der Brand sei Ergebnis eines Streits zwischen den ausländischen Mieter*innen gewesen. Auch nachdem die deutsche Täterin bei einem weiteren Brandanschlag auf ein Geflüchtetenheim gefasst worden war, schloss die Polizei ein rassistisches Motiv kategorisch aus.
Nach den Wahlerfolgen der AfD in Thüringen und Sachsen beherrscht wieder einmal die Angst vor einer rechten Konjunktur die öffentliche Debatte. Dass die Rechte immer weiter wächst, liegt aber vor allem an der Ignoranz der Dominanzgesellschaft, die durch eine Beteiligung an ein paar Demos Anfang des Jahres nicht einfach so weg ist. Wenn unter den Teppich gekehrte Taten vor 40 Jahren erst durch den Kampf einzelner Personen aus dem Familienkreis oder von engagierten Aktivist*innen ans Tageslicht geholt werden müssen und das Interesse an praktischen Aktionen für eine Gegenhegemonie gering bleibt, wenn in Solingen erneut Menschen bei Brandanschlägen sterben, aber die Polizei schon wieder keinen Rassismus erkennen kann, oder in Köln unhinterfragt der alte mediale Diskurs von der organisierten Ausländerkriminalität auftaucht, darf man sich nicht über eine erstarkende Rechte wundern.
Der Fokus allein auf die Wahlerfolge der AfD und anderer europäischer Rechtsparteien versperrt allerdings auch den Blick auf die politische Realität. Seit Jahrzehnten sind es die Parteien der Mitte, die in Einwanderungsfragen Kontrolle und Repression verstärken, neue Abschiebepolitiken planen und umsetzen sowie gleichzeitig auf »nützliche« Einwanderung setzen. Wie am Beispiel Dänemarks zu erkennen ist, schauen Parteien wie auch Staaten kontinuierlich voneinander ab, und das unabhängig von politischen Richtungen. Kosten-Nutzen-Kalküle, Abschiebungen, Quoten und Zuzugssperren erfreuen sich in der Bundesrepublik von der Ampel bis zum BSW großer Beliebtheit. In den nächsten Jahren werden wir eine immer aggressiver und sichtbarer auftretende Rechte erleben sowie eine weitere Verrohung des politischen Diskurses, in der die alten und neuen Parteien ihren Eigenanteil an der rassistischen Gewalt an Migrierten weiter ausblenden werden. Die Zukunft wird sicher nicht so aussehen wie die deutsche Vergangenheit. Sie könnte jedoch Dänemarks Gegenwart in den Schatten stellen.