Aufenthaltsrecht oder Aktivismus
Die Bundesregierung tut viel, um politisch aktiven Kurd*innen ihre Arbeit im Exil zu erschweren
Ende November reiste Bundesinnenministerin Nancy Faeser in die Türkei, um mit ihrem türkischen Amtskollegen, dem ultrarechten Hardliner Süleyman Soylu, über »Terrorismusbekämpfung« zu sprechen. Kritische Beobachter*innen sind sich einig, dass dies – ähnlich wie der Besuch von Generalbundesanwalt Peter Frank in Ankara im Juli – in Deutschland zu einer weiteren Verschärfung der Verfolgung politisch aktiver Kurd*innen führen wird.
Diese Verfolgung hat eine lange Geschichte. Hunderte Aktivist*innen wurden seit Ende der 1980er Jahre von deutschen Strafverfolgungsbehörden angeklagt und von Staatsschutzsenaten der Oberlandesgerichte verurteilt. Nach Angaben des Rechtshilfefonds für Kurdinnen und Kurden Azadî laufen momentan fünf Prozesse gegen kurdische Aktivist*innen, die als mutmaßliche PKK-Kader angeklagt sind. Neun Kurd*innen befinden sich aktuell als politische Gefangene in Straf- bzw. U-Haft in deutschen Gefängnissen.
Eine Fiktionsbescheinigung
Weniger bekannt ist, dass kurdische Aktivist*innen auch Repressionen mit aufenthaltsrechtlichen Mitteln erfahren. Wie dies konkret aussehen kann, hat der Journalist Ibrahim Bulak kürzlich anhand seiner eigenen Erfahrung in der jungen Welt beschrieben. Nach seiner Flucht aus der Türkei wurde er in Deutschland als Flüchtling anerkannt. Vor rund vier Jahren beantragte er eine Niederlassungserlaubnis. Normalerweise haben Personen mit internationalem Schutz Anspruch auf ein solches unbefristetes Aufenthaltsrecht, wenn sie seit mindestens fünf Jahren einen Aufenthaltstitel besitzen, den eigenen Lebensunterhalt sichern können und über ausreichende deutsche Sprachkenntnisse verfügen. Üblicherweise dauert es nur wenige Wochen oder Monate, bis eine Niederlassungserlaubnis ausgestellt wird, wenn die genannten Voraussetzungen vorliegen. Anders bei Bulak: Obwohl er alle Bedingungen erfüllt, erhält er seit vier Jahren keine Niederlassungserlaubnis, sondern lediglich eine sogenannte Fiktionsbescheinigung.
Ein solches Papier stellt die Ausländerbehörde aus, wenn sie über den Antrag auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels nicht sofort entscheiden kann oder will. Menschen mit Fiktionsbescheinigung sind im Alltag faktisch mit vielfältigen Problemen konfrontiert, obwohl ihr vorheriger Aufenthaltstitel ohne Einschränkungen weiter gilt. Die Migrationsforscherin Manuela Bojadžijev hebt hervor, dass sich Betroffene ständig für ihre Anwesenheit rechtfertigen müssen, etwa in Polizeikontrollen oder bei der Ein- und Ausreise. Oder ihnen wird unterstellt, bald nicht mehr in Deutschland zu leben, wie zum Beispiel bei der Wohnungssuche, bei der Eröffnung eines Kontos oder bei der Arbeit.
Auf Nachfrage, warum sich die Bearbeitung seines Antrags so lange hinziehe, teilte das zuständige Regierungspräsidium Darmstadt Bulak mit, es lägen »sicherheitsrelevante Bedenken« zu seiner Person vor. Worin diese Bedenken genau bestehen, sprach die Behörde nicht explizit aus. Der Grund liegt aber auf der Hand: Bulak arbeitet in der Redaktion der kurdischen Tageszeitung Yeni Özgür Politika, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Außerdem engagierte er sich in der Solidaritätsarbeit für Rojava, als die Stadt Kobanê von der Terrormiliz IS angegriffen wurde.
Ein Ende des Verfahrens ist momentan nicht absehbar. Selbst Nachfragen mithilfe eines Mitglieds des Hessischen Landtags haben keinen Fortschritt gebracht. Seit Bulak kürzlich umgezogen ist, liegt seine Akte beim Regierungspräsidium Karlsruhe, das die Überprüfung nun offenbar fortsetzt.
Repressions-Nord-Süd-Gefälle
Wie viele Personen von solchen Schikanen betroffen sind, ist nicht bekannt. Ibrahim Bulak selbst weiß von einer Handvoll Menschen, die in einer ähnlichen Situation sind wie er. Rechtsanwält*innen, die regelmäßig kurdische Aktivist*innen vertreten, kennen ebenfalls solche Fälle. Sie berichten zudem von einem Nord-Süd-Gefälle: In Bayern und Baden-Württemberg seien die Ausländerbehörden repressiver als in den nördlichen Bundesländern oder Nordrhein-Westfalen.
Hintergrund der beschriebenen Hinhaltetaktik sind Sicherheitsabfragen, die die Ausländerbehörden durchführen, wenn zum Beispiel ein unbefristeter Aufenthaltstitel oder die Einbürgerung beantragt wird. Gibt es einen Treffer, etwa aus Berichten von Verfassungsschutzämtern, werden entsprechende Maßnahmen eingeleitet. Die Rechtsanwältin Heike Geisweid vermutet, dass Behörden mitunter »Dauerfiktionsbescheinigungen« ausstellen, wenn sie nicht genug in der Hand haben, um einen Antrag abzulehnen, aber eben auch nicht zustimmen wollen, weil die Antragsteller*innen ihnen politisch missliebig sind. Sie legen die Akte dann einfach zur Seite und warten ab. Die Betroffenen sind aus nachvollziehbaren Gründen verunsichert und wissen nicht, wie sie sich gegen diese Untätigkeit zur Wehr setzen können. Das Ziel der Einschüchterung haben die Behörden dann bereits erreicht.
Fiktionsbescheinigungen sind allerdings nur ein Mittel, um politisch aktive Kurd*innen aufenthaltsrechtlich unter Druck zu setzen. Das ganze Repertoire aufenthaltsrechtlicher Bestrafungsmaßnahmen wird bei Aktivist*innen aufgefahren, die nach dem Terrorparagrafen 129b verurteilt wurden. Nach der Haftentlassung entziehen die Behörden ihnen ihr reguläres Aufenthaltsrecht, erteilen ihnen Meldeauflagen, Kontaktverbote und zum Teil auch die Auflage, bestimmte Bereiche nicht zu verlassen. Auch nach Absitzen der Haftstrafe werden die Betroffenen so einer umfassenden behördlichen Überwachung und Kontrolle unterworfen.
Nicht immer geht der Ausweisung eine strafrechtliche Verurteilung voraus. Azadî machte im Oktober den Fall von Kerem G. öffentlich. Dem Kurden droht in der sächsischen Stadt Bautzen die Ausweisung, weil er mehrfach an Kundgebungen und Veranstaltungen der PKK teilgenommen haben soll. Von ihm gehe eine Gefahr für die »freiheitlich-demokratische Grundordnung« und die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland aus, behauptet die Behörde. Kerem G. lebt seit vielen Jahren in Deutschland, seine Kinder haben deutsche Pässe.
Kurdische Aktivist*innen wurden vor die Wahl gestellt, entweder zu »kooperieren« oder ihr Aufenthaltsrecht zu verlieren.
Der Linksparteiabgeordneten Gökay Akbulut sind mehrere regelrechte Erpressungsversuche durch Sicherheitsbehörden in Baden-Württemberg bekannt. Kurdische Aktivist*innen wurden dort jeweils zu Gesprächen mit Vertreter*innen des Inlandsgeheimdienstes, des Landeskriminalamts und der Ausländerbehörde geladen. Dort stellte man sie vor die Wahl, entweder zu »kooperieren«, das heißt sich aus politischen Strukturen zurückzuziehen und Informationen über diese weiterzugeben, oder andernfalls ihr Aufenthaltsrecht zu verlieren. Auch in diesen Fällen waren Personen betroffen, die seit vielen Jahren in Deutschland leben und deren Kinder die deutsche Staatsbürgerschaft haben.
»Politik der Nadelstiche«
Nicht immer bedeutet der Entzug des Aufenthaltsrechts, dass die Betreffenden abgeschoben werden. Wenn »Abschiebungshindernisse« bestehen, weil etwa im Herkunftsland unmenschliche Behandlung droht, wird stattdessen eine Duldung erteilt. Insbesondere in Verbindung mit Meldeauflagen oder Arbeits- und Kontaktverboten kann aber auch dies zu einer weitgehenden sozialen Exklusion und zur Zerstörung der bisherigen Existenz führen.
Das ganze System straf- und aufenthaltsrechtlicher Maßnahmen ist darauf angelegt, Angst und Schrecken unter politisch aktiven Kurd*innen zu verbreiten. Legale Veranstaltungen legaler Vereine stehen aufgrund der Willkür der Sicherheitsapparate ständig unter dem Damoklesschwert der Kriminalisierung. Azadî spricht von einer »Politik der Nadelstiche«. Laut Schätzungen der Verfassungsschutzämter gibt es in Deutschland 14.500 PKK-Mitglieder. Nicht alle können gleichzeitig »mit Verfahren überzogen werden«. Ziel des Vorgehens gegen Einzelne ist laut Azadî, »die Menschen auf allen Ebenen der Struktur zu verunsichern, einzuschüchtern und davon abzuhalten, sich politisch nach ihren Vorstellungen zu betätigen.«
An dieser Repressionspolitik gegen die kurdische Befreiungsbewegung hat sich seit Antritt der selbsternannten »Fortschrittskoalition« aus SPD, Grünen und FDP nichts geändert. Mit dem Besuch bei ihrem türkischen Amtskollegen und dem Bekenntnis zur Zusammenarbeit bei der »Terrorismusabwehr« hat Nancy Faeser vielmehr durchblicken lassen, dass die Bundesregierung es politisch aktiven Kurd*innen auch zukünftig verunmöglichen will, ihre Arbeit im Exil fortzusetzen.