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Verhandlungen ohne Ziel

Der Krieg in Gaza eskaliert immer weiter, die Vermittlungsversuche der USA sind widersprüchlich

Von Sabine Kebir

Verbogene Drähte, im Hintergrund zerstörte Häuser und Personen auf einer Ruine
Die Angriffe aus der Luft durch das israelische Militär hinterlassen eine riesige Zerstörung: Gaza im November 2023. Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Mohammed Alaswad

Dass auf den massiven Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 eine Antwort des israelischen Staates in Form robuster Bombardements folgen würde, war zu erwarten. Niemand aber konnte sich ausmalen, dass sich dieser Feldzug räumlich und zeitlich ins Unermessliche ausweiten würde. Aber es scheint, dass das von Benjamin Netanjahu geführte Kriegskabinett daran arbeitet, die Maximalziele seiner radikalsten Minister durchzusetzen, die nicht bei der Vernichtung der militärischen Strukturen, sondern bei der Vertreibung der Palästinenser*innen enden soll. Daher müssen Wohnviertel und ganze Städte dem Erdboden gleichgemacht und medizinische und energetische Infrastruktur bis hin zu den Großbäckereien zerstört werden.

Mit der unbewiesenen Behauptung, dass zwölf Mitarbeiter*innen des seit 1948 für die Versorgung der Palästinenser*innen hauptsächlich zuständige UNO-Hilfswerks (UNRWA) an den Terrorakten des 7. Oktober teilgenommen hätten und 450 mit der Hamas zusammenarbeiten würden, hat diese Regierung erreicht, dass etliche Staaten – zuerst die USA und Deutschland – die Finanzierung der UNRWA zu einer Zeit einstellten, als Gazas Zivilbevölkerung bereits seit Monaten Mangel an allen lebenswichtigen Gütern litt. Obwohl die Zahlungen zum Teil wieder aufgenommen wurden, befolgt die Armee offenbar Befehle, wonach sie die Lieferungen von Nahrungsmitteln und Medizinprodukten durch langwierige Kontrollen verzögern soll. Das ging in einigen Fällen so weit, dass Menschen beschossen wurden, die sich um die wenigen noch eintreffenden Hilfskonvois drängten. Am 29. Februar kamen auf diese Weise bei Gaza-Stadt 80 Menschen durch Kugeln ums Leben und weitere 32 durch die darauf ausbrechende Panik. Solche Vorgänge beweisen, dass es nicht nur um die Ausschaltung der Hamas geht. Vielmehr wird versucht, durch Aushungern und das wachsende Elend die Bevölkerung von Gaza doch noch zu einen »freiwilligen Transfer« zu bewegen. So wird die vollständige Vertreibung der Palästinenser*innen aus dem Gazastreifen bezeichnet, die insbesondere von den beiden rechtsextremen Ministern Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir offen angestrebt wird.

Während letzterer im Februar während eines offiziellen Kongresses ehemaliger Gazasiedler*innen deren Rückkehr beschwor, ist die unter den Augen der Armee stattfindende fortgesetzte Landnahme im Westjordanland schon seit längerem gängige Praxis. Das Westjordanland bleibt das Hauptziel der rechten Siedler*innenbewegung. Infolge dieser sehr angespannten Lage hatte die palästinensischer Seite jährlich zwischen 200 und 300 Tote zu beklagen. Im medialen Schatten des Gazakrieges haben sich die Vertreibungen palästinensischer Bäuer*innen von ihrem Grund und Boden sogar noch intensiviert. Diese Menschen können nicht einmal auf Entschädigung hoffen. Politisch bleibt das Westjordanland instabil, erst kürzlich trat der Premierminister der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mohammed Schtajjeh, zurück.

Vertreibungspläne

Nach Vorstellung vieler Israelis sollten die Bewohner*innen aus Gaza nach Ägypten und die Menschen der Westbank nach Jordanien gehen. Beide Länder drohen allerdings mit der Aufkündigung der Friedensverträge mit Israel, sollten solche Vertreibungen tatsächlich in Gang gesetzt werden. Auch die mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und Marokko geschlossenen Abraham-Abkommen haben nicht gehalten, was sich Netanjahu von ihnen erhofft hatte, nämlich eine Normalisierung der Beziehungen mit den arabischen Nachbarn ohne Klärung der palästinensischen Frage.        

Solange der Krieg fortschreitet, wird sich Netanjahu nicht den gegen ihn laufenden Strafprozessen stellen müssen.

Vertreibungsdrohungen, systematische Bombardierung und Aushungern einer Bevölkerung birgt nach Ansicht zahlreicher Staaten die Gefahr eines Genozids. Auch herrscht die Auffassung vor, dass das seit 1967 bestehende israelische Besatzungsregime mit dem Kolonialismus vergleichbar sei. Die offizielle Bundesrepublik nimmt all das nicht zur Kenntnis und meint ihrer historischen Verantwortung nach dem Holocaust nur gerecht zu werden, wenn sie die israelische Regierung bedingungslos unterstützt. Dabei liegt auf der Hand, dass Israels Sicherheit nur gewährleistet ist, wenn auch Rechte und Sicherheit der Palästinenser*innen respektiert und verwirklicht werden. Der israelische Historiker Moshe Zuckermann fordert daher seit langem und kürzlich in seinem mit Moshe Zimmermann verfassten Dialogbuch »Denk ich an Deutschland«, dass Deutschland seiner historischen Verantwortung dadurch entspricht, indem es diesen Territorialkonflikt nicht mehr binär, sondern als Triade begreift und die legitimen Interessen beider Seiten ernst nimmt.       

Im Westen wurde immer wieder behauptet, dass Israel auch deshalb besondere Unterstützung verdient, weil es das einzige demokratische Land im Nahen Osten sei. Die ungleich verteilten Rechte zwischen Israelis und arabischen Bürger*innen mit israelischem Pass zeugt von einem eklatanten Demokratiedefizit. Das gilt umso mehr, seit die mit Rechtsextremen gebildete aktuelle Regierung Netanjahus versuchte, auch noch die Entscheidungskompetenz des Obersten Gerichts, das eine Verfassung ersetzt, dem Parlament unterzuordnen. Das hätte einer Aufhebung der ohnehin kaum noch wirksamen Gewaltenteilung entsprochen, was die Zivilgesellschaft zwar verhindern konnte. Aber dass die Besatzungspolitik und die Benachteiligung der israelischen Palästinenser*innen und der unter Militärherrschaft lebenden Palästinenser*innen kaum Thema auf den mächtigen Demonstrationen wurden, zeigte, dass sehr große Teile der Zivilgesellschaft nur an einer Ethnodemokratie interessiert war.

In seiner gesamten, mit Unterbrechung über fast drei Jahrzehnte währenden Regierungszeit hat Netanjahu sowohl den Israelis als auch der Welt immer wieder vermittelt, dass unter seiner Führung der Konflikt eingehegt, das heißt, verwaltet werden könne. Die Sicherheit, die den Israelis versprochen wurde, hat der vom High-Tech-Radar unbemerkt vorbereitete Anschlag der Hamas am 7. Oktober als Illusion entlarvt. Und eine weitere Illusion scheint Netanjahus Behauptung zu sein, dass die Hamas ein für alle Mal militärisch besiegt werden und die Israelis zur Sorglosigkeit vor dem 7. Oktober zurückkehren könnten. Solche Versprechungen stellen jedoch nur den Strohhalm dar, an den sich der Regierungschef klammert, denn solange der Krieg fortschreitet, wird er sich den gegen ihn laufenden Strafprozessen nicht stellen müssen.

Was ist die Perspektive?

Vom 7. Oktober nicht minder überrascht waren die USA, deren Präsident sich aus innen- wie auch außenpolitischen Gründen kein einfaches »Weiter so« leisten kann. Da Donald Trump Netanjahus Politik mit der Unterstützung der Abraham-Abkommen voll hinter Netanjahu stand, muss Joe Biden in seinem Wahlkampf erreichen, dass er zumindest für den Teil der jüdischen Community in den USA wählbar bleibt, die Israel bedingungslos unterstützen. Zugleich muss er Rücksicht auf wichtige Teile der demokratischen Stammwähler*innenschaft nehmen, in der sich eine starke Protestbewegung gegen den Gazakrieg und für eine politische Lösung des Konflikts formiert hat. Sie reicht bis ins akademische Milieu, und ihr gehören auch viele jüngere Jüdinnen und Juden an. In Bedrängnis ist Biden auch, weil sich nur noch wenige Länder der internationalen Gemeinschaft bedingungslos hinter Israels Politik und damit auch hinter die Israelpolitik der USA stellen. Damit besteht für die Hegemonialmacht die Gefahr eines weiteren globalen Prestigeverlusts.

Aus diesen Zwängen heraus gibt Biden die massive Waffenhilfe für Israel nicht auf, sondern hat sie sogar verstärkt, womit er den Krieg befeuert und seine Dauer verlängert. Zugleich setzt er seine diplomatische Maschinerie in Gang, um sowohl kurzfristige als auch längerfristige Verhandlungen für Feuerpausen zu ermöglichen und eine politische Perspektive für die Palästinenser*innen zu eröffnen. Da das mit Netanjahu offenbar nicht einmal in Ansätzen möglich ist, entschloss er sich, nach israelischen Partner*innen aus der zweiten Reihe zu suchen, die dafür vielleicht in Frage kämen. Ein deutlicher Wink war die Einladung von Benny Gantz zu Konsultationen nach Washington zu einem Zeitpunkt, als unter Vermittlung der USA, Ägyptens und Katars indirekte Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas stattfanden. Als ehemaliger Außenminister gehörte Gantz zur Opposition, trägt daher auch keine Mitverantwortung beim Versuch von Netanjahus rechter Regierungskoalition, die Kompetenzen des Obersten Gerichts zu beschneiden und kann also eher als Demokrat präsentiert werden. Bald nach Kriegsbeginn war er jedoch der von Netanjahu gewünschten, breiter aufgestellte Einheitsregierung als Minister ohne Ressort beigetreten. Da er in dieser Funktion erklärt hatte, die Offensive auf Rafah, die letzte verbliebene Fluchtzone im Gaza-Streifen, werde auch während des Ramadan beginnen, wenn die Geiseln bis dahin nicht zu Hause wären, war die von Biden gewünschte Feuerpause mit ihm nicht zu erreichen. Die Hamas, die einen endgültigen Waffenstillstand anstrebte und dafür mit der Freilassung weiterer Geiseln beginnen sollte, brach die Verhandlungen ab. Aller Voraussicht nach wird der Ramadan für die Menschen in Gaza ein Fasten-, aber kein Feiermonat sein.

Die Befreiung der Geiseln scheint beim militärischen Vorgehen der israelischen Regierung keine Priorität zu genießen, ihr Leid und Tod wird offenbar zugunsten anderer Ziele in Kauf genommen.  Das stellt – so Zuckermann in einem Interview in der Jungen Welt vom 2. März 2024 – einen »Bruch im nationalen Ethos des Zionismus« dar, wonach alles zu tun ist, »um Juden aus feindlicher Gefangenschaft zu befreien«. Aus dieser Bruchlinie könnte auch bei immer mehr Israelis die Erkenntnis wachsen, dass ihr eigener Frieden nur im friedlichen Zusammenleben mit den Palästinenser*innen gesichert werden kann. Die Idee des Rechtszionismus, einen monoethnischen Staat auf dem Boden Palästinas zu errichten, war den kolonialen Gebräuchen des 19. Jahrhunderts entsprungen, passte aber schon nicht mehr ins 20. und erst recht nicht ins 21. Jahrhundert. An einem gerechten Frieden auf Augenhöhe führt kein Weg mehr vorbei. Denkbar ist das sowohl in einem als auch in zwei Staaten. Um die Rachespirale zu beenden, ist in jedem Fall künftig eine Kooperation erforderlich, die im Sicherheitsbereich beginnen muss. In Ansätzen war eine solche Kooperation zwischen der Autonomiebehörde im Westjordanland und israelischen Sicherheitskräften in der Vergangenheit bereits möglich.  

Sabine Kebir

ist Autorin von Sachbüchern, Belletristik und Kinderbüchern. Sie arbeitet als freie Publizistin u.a. zu den Themen Naher Osten, Kultur und Literatur.