Kommt der Evergrande-Moment?
Kann eine Pleite des chinesischen Konzerns die nächste Weltfinanzkrise auslösen?
Von Lene Kempe
Die Pleite der US-amerikanischen Lehman-Bank war 2008 der Stein, der die globale Wirtschafts- und Finanzkrise ins Rollen brachte. Nun spekulieren internationale Medien darüber, ob der chinesische Evergrande-Konzern das nächste Erdbeben auslösen könnte. Ende September hatte der Immobilienentwickler eine Zahlungsfrist für Zinsen von Außen-Anleihen in Höhe von 83,5 Millionen Dollar verstreichen lassen. Das heißt, internationale Investor*innen, die dem Konzern mittels Anleihen Geld geliehen hatten, bekamen ihre Rendite nicht ausgezahlt; darunter der US-Investment-Gigant Blackrock, die Schweizer UBS-Bank und die deutsche Allianz-Versicherung. Die Quittung für den säumigen Gläubiger kam umgehend: Die Evergrande-Aktie brach noch am selben Tag um elf Prozent ein (und verlor wenig später 80 Prozent), mehrere Ratingagenturen stuften die Kreditwürdigkeit herunter, und Evergrande geriet in die internationalen Schlagzeilen.
Spekuliert wird seitdem, ob der Konzern, der auch eine neue Zahlungsfrist im Oktober hatte verstreichen lassen, tatsächlich pleitegeht – oder ob der chinesische Staat Evergrande rettet. Klar ist: Der Immobiliengigant sitzt auf umgerechnet mehr als 300 Milliarden US-Dollar Schulden. Dass der Konzern sein imposantes Wachstum vor allem mit Krediten finanziert hatte, war schon lange bekannt – und Evergrande ist kein Einzelfall. Der Bau- und Immobiliensektor in China ist mit einem Anteil von geschätzt einem Viertel am BIP gigantisch groß und ein entscheidender Motor für das vergleichsweise starke Wachstum des Landes. Gebaut wird überall – und überall auf Pump. Schon bevor die Wohnungen fertiggestellt sind, werden Gelder von Käufer*innen und Anleger*innen eingesammelt. Damit wird nicht nur weiter expandiert, sondern es werden auch alte Schulden beglichen – um an neues Geld zu kommen.
Dieses System lohnt sich nicht zuletzt, weil in China in großem Stil mit Leerstand spekuliert wird.
Dieses System lohnt sich nicht zuletzt, weil in großem Stil mit Leerstand spekuliert wird. Die Schätzungen über die Anzahl in China leer stehender Wohnungen bewegen sich zwischen 50 und 90 Millionen. Das treibt die Preise in die Höhe. Bislang aber sorgt der permanente Zuzug in die Städte dafür, dass auch gnadenlos überteuerte Immobilien Käufer*innen finden. Paradoxerweise trägt aber auch die starke Regulierung des chinesischen Kapitalmarktes dazu bei, dass extrem viel Cash in den Wohnungsmarkt fließt: Besserverdienende haben in China kaum andere Möglichkeiten, Geld anderswo anzulegen.
Dass das System aus Kreditfinanzierung, Expansion, Spekulation und Überschuldung irgendwann zusammenkrachen wird, daran hegt auch die Staatsführung keinen Zweifel. Schon 2016 war von einem baldigen Platzen der Blase die Rede; seitdem begann die KP Chinas stärker in den Markt einzugreifen, um den Anstieg der Immobilienpreise zu drosseln. Im August 2020 erließ die Finanzaufsicht »drei rote Linien« für die Immobilienfinanzierung, die von 15 der 100 größten Immobilienfirmen gerissen wurden – darunter Evergrande. Dem Konzern wurde der Zugang zu Krediten erheblich erschwert, mit bekanntem Ergebnis: Evergrande war zahlungsunfähig.
Die spannende Frage ist nun, ob der chinesische Staat in letzter Sekunde doch noch den Zusammenbruch des Konzerns verhindert und mit Krediten aushilft. Dafür spricht einiges: Auch auf dem relativ stark regulierten chinesischen Markt könnte die Pleite eine Kettenreaktion auslösen, denn Evergrande ist bei den chinesischen Staatsbanken hoch verschuldet. Zudem haben mittlerweile drei weitere Baukonzerne Zahlungsschwierigkeiten angemeldet. Den viel zitierten Evergrande-Moment, ein überspringen auf die Weltwirtschaft wie 2008, befürchten allerdings wenige. International ist der chinesische Finanzmarkt immer noch recht abgeschottet, nur wenige westliche Investor*innen sind hier im Immobilienmarkt aktiv. Und die drohenden Verluste sind für diese verkraftbar. Für die Allianz wären es etwa 130 Millionen US-Dollar. Viel schlimmer träfe es die chinesische Mittelklasse: Etliche investierten in den letzten Jahren in eine eigene Wohnung – die in der Regel noch nicht einmal im Bau war, wenn die erste beträchtliche Anzahlung geleistet werden musste. Im Falle einer Pleite verlören diese Menschen ihr Geld, ohne jemals einen Fuß in das angezahlte Wohneigentum gesetzt zu haben. Zudem hängen direkt oder indirekt vier Millionen Jobs an Evergrande.
Verhindern will Peking in jedem Falle eine Rettungsaktion nach dem Vorbild von 2008, als EU und USA ihren Banken mit Milliarden an Steuergeldern aus der Patsche halfen – und diese sich anschließend erneut in spekulative Geschäfte stürzten. Evergrande hat die roten Linien der Staatsführung überschritten und wird nicht ohne Konsequenzen davonkommen.