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Kommt jetzt die »irish unity«?

Bei den Wahlen in Nordirland wurde erstmals Sinn Féin stärkste Kraft

Von Dietrich Schulze-Marmeling

Waren schon 2018 eine Einheit: Die Parteivorsitzende Mary Lou McDonald aus Dublin und Michelle O’Neill, die die Partei in Nordirland anführt. Foto: Sinn Féin

Bei den Wahlen zum nordirischen Parlament (Stormont) Anfang Mai wurde Sinn Féin (SF) mit 29 Prozent und 27 Sitzen erstmals stärkste Partei. Die republikanische Partei erhielt 250.388 Stimmen, das waren rund 25.000 mehr als bei der letzten Wahl 2017. Größter Wahlverlierer war die protestantische und rechts-unionistische Democratic Unionist Party (DUP), bis dahin mit 28 Sitzen die Nummer eins im Stormont. Die DUP kam nur noch auf 21,3 Prozent (25 Sitze), was einen Verlust von 6,7 Prozent bedeutete. Drittstärkste Partei und größter Wahlsieger war die überkonfessionelle und liberale Alliance Party (AP), die sich von 9,1 auf 13,5 Prozent verbesserte und mit 17 Sitzen ihre parlamentarische Präsenz mehr als verdoppelte. Platz vier ging an die protestantische Ulster Unionist Party (UUP, 11,2 Prozent und 9 Sitze), Platz fünf an die katholische Social Democratic and Labour Party (SDLP, 9,1 Prozent und 8 Sitze). Die noch rechts von der DUP zu verortende Traditional Unionist Voice (TUV) kam auf 7,6 Prozent und einen Sitz. Ebenso die linkssozialistische People Before Profit (PBF), der aber 1,1 Prozent für den Einzug ins Stormont reichte.

Unterm Strich wählte eine klare Mehrheit Parteien, die gegen den Brexit waren und das sogenannte Nordirland-Protokoll unterstützen. SF, AP und SDLP kommen addiert auf 445.306 Stimmen und 52 Sitze, der unionistische Block aus DUP, UUP und TUV auf 346.180 und 35.

Das Nordirland-Protokoll sieht vor, dass zwischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland keine Zollkontrollen eingeführt werden. Die Landgrenze wird offen gehalten, kontrolliert wird in den nordirischen Häfen. Nordirland folgt damit weiter den Regeln des europäischen Binnenmarkts. DUP, TUV und loyalistische Paramilitärs rebellieren gegen den nordirischen Sonderstatus. Die Verlegung der Grenze in die irischen See würde Nordirland vom Rest des Vereinigten Königreichs abkoppeln. Die Rückkehr zu einer »harten Grenze« zwischen Nordirland und der Republik würde zwar die nordirische Ökonomie treffen, was für DUP und Co. aber nur von sekundärer Bedeutung ist.

Nicht ohne die Unionist*innen

Dass die Republikaner*innen im 1921 als »protestant state for protestant people« und als Bollwerk gegen den irischen Republikanismus gegründeten Nordirland nun stärkste Partei wurden, war für Unionist*innen und Loyalist*innen ein Schock. Eine liberal-progressive Koalition aus SF, SDLP und AP, also eine Regierung ohne Beteiligung der DUP bzw. Unionist*innen, ist allerdings nicht möglich. Der*die Ministerpräsident*in (»First Minister«) und sein*e Stellvertreter*in (beide sind gleichberechtigt) werden von den jeweiligen Parteien gestellt, die im katholischen/nationalistischem und protestantischen/unionistischen Lager das Rennen gewonnen haben. Das sind wie schon nach der letzten Wahl SF und die DUP, wobei der Posten des First Minister nun SF zufällt. »Power sharing« soll verhindern, dass ein Lager das andere dominiert, wie dies zu den Zeiten des »protestant state for protestant people« der Fall gewesen war. Solange die Protestant*innen/Unionist*innen die Mehrheit stellten, waren sie strikt gegen eine eingebaute Beteiligung von Katholik*innen/Nationalist*innen an der Macht – und von Sinn Féin sowieso. Nun, wo sich die Kräfteverhältnisse verändern, benutzt die DUP »power sharing« als Vetorecht gegen das Nordirland-Protokoll und politischen Fortschritt. Die DUP will nicht eher im neuen Parlament mitarbeiten, bis die britische Regierung das Nordirland-Protokoll aufgehoben hat.

Sinn Féins Aufstieg zur führenden Kraft im katholischen/nationalistischen Lager korrespondierte mit dem Ende des bewaffneten Kampfes der IRA. SF galt als politischer Flügel der republikanischen Guerilla, was auch nicht falsch war. Bei den ersten Wahlen nach dem Karfreitags-Abkommen von 1998, das den militärischen Konflikt beendete, waren viele republikanische Parlamentarier*innen ehemalige IRA-Aktivist*innen. Seither hat sich deren Zahl allein schon aus biologischen Gründen verringert. Michelle O’Neill, Nordirlands designierte Ministerpräsidentin, ist die Tochter eines prominenten IRA-Aktivisten. Ihr Onkel war in den USA Präsident des Irish Northern Aid Committee (NORAID), das Geld für IRA-Gefangene und Waffen sammelte. Aber O’Neill selber hat keine IRA-Vergangenheit. Als die IRA 1994 einen Waffenstillstand verkündete, war O’Neill erst 17. SF trat sie erst vier Jahre später im Alter von 21 bei, nach der Unterzeichnung des Karfreitags-Abkommens. Und die jüngere Generation von republikanischen Aktivist*innen hat die »Troubles« überhaupt nicht live erlebt.

SDLP-Wähler*innen wechselten zu SF, um auf diese Weise Druck auf die britische Regierung auszuüben und die störrischen Unionist*innen zu ärgern. Aber auch, um die Republikaner*innen in ihrer Entscheidung für Parlamentarismus anstatt Krieg zu ermutigen.

Themen wie kulturelle Traditionen und Identität treten in den Hintergrund – zugunsten sozialer Fragen wie der Lebenshaltungskosten.

Im Wahlkampf 2022 spielte die Wiedervereinigung, das Kernthema der Republikaner*innen, nur eine untergeordnete Rolle. Dies galt auch für den Streit um dem Status der irischen Sprache. Bereits seit einiger Zeit lässt sich ein Wandel in der Begründung eines unabhängigen irischen Einheitsstaates bzw. der Herauslösung der sechs Grafschaften aus dem Vereinigten Königreich beobachten. Themen wie kulturelle Traditionen und Identität treten in den Hintergrund – zugunsten sozialer Fragen wie der Lebenshaltungskosten. Ähnlich gestaltete sich bereits SFs letzter Wahlkampf in der Republik, wo die Republikaner*innen 2020 mit einem linkspopulistischen Wahlkampf 24,5 Prozent der Stimmen erhielten und stärkste Partei wurden.

Vorbild Scottish Nationalist Party

SF scheint hier die Scottish Nationalist Party (SNP) zu kopieren. Die SNP war lange Zeit eine Randerscheinung, bis sie ihre Argumentation für Unabhängigkeit veränderte. Fortan ging es nicht mehr um Unabhängigkeit zwecks Bewahrung einer angestammten Kultur. Unabhängigkeit war nun der effektivste Weg, um eine linke Agenda zu promoten. Und in jüngerer Zeit: um auch im Falle eines Brexits in der EU zu bleiben. Der Politikwissenschaftler Adam Fusco (University of New York) schreibt: »Die rhetorische Strategie der SNP besteht nicht darin, ein nationalistisches, identitätsbezogenes Argument für Unabhängigkeit vorzubringen, sondern zu vermitteln, dass Unabhängigkeit das beste Vehikel oder Instrument für die Verfolgung anderer Werte und Anliegen ist, die für Wähler wichtig sind, die möglicherweise nicht empfänglich sind für traditionelle Argumente.«

Zur Kopie der SNP gehört auch, dass SF bemüht ist, sich als Kraft der Vernunft und regierungsfähig zu präsentieren – im Kontrast zur manchmal geradezu infantil wirkenden DUP.

Seit 2016 lässt sich folgender Trend beobachten: Die Unionist*innen verlieren Stimmen, der nationalistische Block stagniert, während die Wähler*innenschaft wächst, die weder unionistisch noch nationalistisch votiert, also in der konstitutionellen Frage »Blockfreiheit« praktiziert.

Hauptsächlicher Profiteur dieser Entwicklung ist die Alliance Party. Sie galt lange Zeit als liberal-unionistisch, vertrat einen Unionismus minus religiösem Sektierertum. Heute bezieht die AP in der konstitutionellen Frage eine neutrale Position. Gewählt wird sie von Protestant*innen, die mit der bigotten und homophoben DUP und auch den anderen explizit unionistischen Formationen nichts anfangen können, die pro-europäisch und in gesellschaftspolitischen Fragen wie Immigration, LGBT-Rechte und Abtreibung liberal denken. Aber die AP wird auch von Katholik*innen gewählt, für die die Frage der Wiedervereinigung keine große Rolle spielt, da sie ihren sozialen Status nicht berührt. »Irischsein« kann mensch heute auch im Rahmen von Nordirland weitgehend gefahrlos zelebrieren. Der »protestant state for protestant people« ist Vergangenheit, der bi-nationale Charakter der Gesellschaft ist weitgehend anerkannt und auch institutionell etabliert. Mit einem Bein im Vereinigten Königreich, mit dem anderen in der Republik (viele nordirische Katholik*innen sind im Besitz eines irischen Passes), das Beste aus beiden Welten mitnehmen – zumindest Teilen der katholischen Mittelschichten reicht dies. Allein diese reaktionären und bigotten DUP-Politiker*innen nerven.

Demografie allein führt nicht zum Ziel

Wenn sich heute viele katholische und kulturell nationalistische Wähler*innen mit einer nicht-sektiererischen Vision von Nordirland anfreunden können, verändert dies den Wettbewerb um Stimmen. In der Vergangenheit ging es bei Wahlen stets um die Führungsrolle im jeweiligen Lager. SF oder SDLP? DUP oder UUP? Mit dem Wachsen einer »blockfreien Wählerschaft« verschiebt sich für SF der Kampf um Stimmen von der Konkurrenz mit der SDLP bzw. aus dem »nationalistischen Lager« heraus zu einer mit der AP. Dies dürfte bei SF die Tendenz verstärken, in Sachen »irish unity« und »irish independence« weniger traditionalistisch zu argumentieren, um stattdessen Einheit und Unabhängigkeit als Instrumente zur Realisierung der politischen Werte und Ziele dieser Wähler*innen anzubieten.

Für den traditionellen Unionismus sieht es hingegen nicht gut aus, wird er doch von gleich zwei Seiten in die Zange genommen – von Nationalist*innen/Republikaner*innen und von Nicht-Nationalist*innen, die der Unionismus von DUP und Co. abstößt. An dieser Situation wird sich auch nichts ändern, da es DUP, UUP und TUV an einer Vision des Unionismus mangelt, die auch für Katholik*innen attraktiv ist. Und die demografische Uhr tickt.

Demografie allein wird die Republikaner*innen aber nicht zu ihrem Ziel bringen. Die Zahl der Wähler*innen, die nicht für explizit unionistische Parteien stimmen, wird weiter zunehmen. Aber eine Mehrheit für SF, SDLP und AP bedeutet noch lange keine Mehrheit für »irish unity«.

Dietrich Schulze-Marmeling

ist Autor, hält Vorträge und schreibt gelegentlich für Zeitungen über Fußball, Nordirland und Antisemitismus.