Genossin Francia, Präsident Petro
Kolumbien hat die erste linke Regierung seiner Geschichte – was bedeutet das für die Politik des Landes?
Von Ani Diesselmann
Wird jetzt alles besser in Kolumbien? Mit einem riesigen Volksfest wurde die Amtseinführung der neuen Regierung am 7. August gefeiert. 1819 wurden an diesem offiziellen Feiertag die spanischen Invasoren in der Schlacht von Boyacá geschlagen. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes ist nun ein linkes Bündnis an der Regierung.
Der Sieg von Gustavo Petro und Francia Márquez bei der Präsidentschaftswahl am 19. Juni hat in den emanzipatorischen sozialen Bewegungen Hoffnung geweckt und Euphorie ausgelöst. Tagelang wurde gefeiert, vor allem in den ärmeren Bundesländern, wo Petro und Francia bis zu 80 Prozent der Wähler*innen hinter sich haben. Dann begann die Arbeit an einem linken Regierungsprojekt. Bis zum offiziellen Amtsantritt am 7. August wurden Hunderte Treffen mit Vertreter*innen der unterschiedlichen Sektoren durchgeführt, der Regierungsplan ausgearbeitet, Staatsbesuche gemacht.
Parallel zur Hochstimmung macht sich aber auch Angst breit, bis kurz vor der Amtsübergabe wurde sogar vor einem möglichen Staatsstreich gewarnt. Tatsächlich lag die Befürchtung in der Luft, dass Petro oder Márquez ermordet werden könnten. Die neue Vizepräsidentin und Umweltaktivistin hatte erst vor wenigen Jahren einen Anschlag überlebt. Die kolumbianische Rechte betont, dass Gustavo Petro und Francia Márquez bei der Stichwahl mit 50,6 Prozent der Stimmen lediglich einen knappen Sieg gegen den konservativen Rodolfo Hernández (47,2 Prozent) errungen hätten. Aber auch eine andere Lesart ist möglich: Noch nie hat ein Kandidat so viele Stimmen mobilisiert wie Gustavo Petro.
Petro hatte bereits vor vier Jahren als Präsident kandidiert. Seitdem ist viel passiert in dem lateinamerikanischen Land: Die Pandemie hat die Hälfte der Bevölkerung ins Elend gestürzt, 50 Prozent leben unter der Armutsgrenze. Die Gewalt hat zugenommen, Hunderte Aktivist*innen wurden ermordet, der Friedensprozess mit der FARC, der ehemaligen größten Guerillagruppe im Land, kann als gescheitert gelten. Die 2017 gegründete FARC-Partei hat sich bereits mehrmals gespalten, erreichte bei der Parlamentswahl 2018 nicht einmal ein Prozent der Stimmen, 300 ihrer ehemaligen Mitglieder wurden seit der Demobilisierung bereits umgebracht. Die Verhandlungen mit der ELN, der anderen linken Guerilla Kolumbiens, wurden abgebrochen.
Die landesweiten Proteste 2021 haben das Land wochenlang lahmgelegt, bis heute wird mit den Demonstrant*innen verhandelt. Francia Márquez hat damals am Protest teilgenommen und ist nicht nur daher vielen Genoss*innen von der Straße bekannt. Vielleicht überwiegt vor allem wegen ihr die Hoffnung auf bessere Zeiten. Denn der Erfolg geht zu einem großen Teil auf ihr Konto, sie gibt den »Niemanden« eine Stimme und ein Gesicht, den Millionen von marginalisierten Menschen in Kolumbien.
Francia Márquez gibt den Niemanden eine Stimme
Kurz vor den massiven Protesten im Mai und Juni 2021 war Francia Elena Márquez Mina noch eine wenig bekannte Schwarze Umweltaktivistin, die meist afrikanische, traditionelle Kleidung trägt, bunte Tücher zum Turban gewickelt um den Kopf, Armreifen aus Perlen und Muscheln. Zum Gruß, beim Sprechen oder Singen hebt sie immer wieder die linke Faust. Jetzt ist sie eine Herausforderung für die traditionelle politische Klasse. Ihr Ziel ist in eigenen Worten, »die hegemoniale patriarchalische Politik zu brechen«. Und tatsächlich hat sie das Potenzial dazu hauptsächlich aufgrund ihrer zutiefst demütigen Haltung gegenüber kollektiven Prozessen. Ihr politischer Leitsatz lautet: »Ich bin, weil wir sind.«
Francia Márquez wurde 1981 geboren und ist in einer kleinen Dorfgemeinschaft mit kaum 100 Einwohner*innen im südlichen Department Cauca aufgewachsen. Das Haus der Familie ist aus Lehm gebaut, ihr Großvater versammelte an den Abenden die Gemeinschaft und galt als ihr Sprecher. In demselben Haus begleitete sie ihre Großmutter im Sterben. Schon als junges Mädchen schürfte sie am Fluss Gold und half beim Anbau von Kaffee, Kochbananen und Yuca.
Francia Márquez hat 2021 an den Protesten teilgenommen und ist vielen Genoss*innen von der Straße bekannt.
Das Department Cauca ist eines der gefährlichsten und gewalttätigsten Gebiete des Landes. Allein im Jahr 2021 wurden 70 Menschen aufgrund ihres Aktivismus für den Umweltschutz und die Menschenrechte umgebracht. Schon in ihrer Jugend erkennt Márquez den Zusammenhang zwischen der Zerstörung der Umwelt und der sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit in den Bergbaugebieten. 2019 muss die Aktivistin aufgrund von Morddrohungen ihr Dorf verlassen. In Cali trifft sie auf Schwarze Aktivistinnen, die sie in ihrem sozialen Zentrum Casa Chontaduro aufnehmen.
In diesem neuen Zuhause begegnen ihr zahlreiche Lebensgeschichten, die ihrer eigenen sehr ähneln. »Meine Biografie ist nur deswegen relevant, weil viele das Gleiche durchgemacht haben: Kinderarbeit, von klein an, auf dem Land und im Bergbau, sexueller Missbrauch und Belästigung, sklavenähnliche Arbeitsbedingungen bei reichen Familien.« Francia hält auch als Vizepräsidentin engen Kontakt zu ihrer Herkunft und zur Bewegungslinken. Ihren Sieg feierte sie in ihrem Wohnviertel in Cali, ohne Sicherheitspersonal und schusssichere Weste. Sie kommt weiterhin zu Veranstaltungen, und am Montag nach der Amtsübergabe hat sie in ihrem Heimatdorf die Einführung gefeiert.
Weniger radikale Linke setzten auf Petro
Weniger »radikale« Linke setzten ihre Hoffnung eher auf Petro, denn er provoziert weniger und versucht, seine Regierung als offen in alle Richtungen zu positionieren. Bei seiner ersten Rede nach der Wahl machte er klar: Der Präsidentenpalast stehe jederzeit auch für die Opposition offen. Er werde auf Versöhnung setzen. So traf er sich nach der Wahl bereits mit seinen politischen Gegner*innen aus dem ultrarechten Lager. Diese gemäßigte Politik passt auf den ersten Blick nicht unbedingt zur Vergangenheit Petros und zur Darstellung seiner Person in den traditionell konservativen Medien. Petro war Mitglied in der M19-Guerilla, und das rechte Lager warnte stets vor seinem Versuch, den Sozialismus einzuführen. Allerdings sind in Kolumbien bewaffnete oppositionelle Gruppen nicht auch selbstverständlich sozialistische Bewegungen. Die M19-Guerilla gehört politisch eher zum sozialdemokratischen Lager. Trotzdem ist seine Vergangenheit in vielen Kreisen ein Stigma.
Sein diplomatisches Geschick lässt allerdings erwarten, dass Petro nicht nur zu den emanzipatorischen und fortschrittlichen Regierungen der Region enge Beziehungen aufbauen wird. Bereits in den ersten Wochen nach der Wahl hat er Francia Márquez auf eine Südamerikareise geschickt, auf der sie die Präsidenten und Regierungsmitglieder Argentiniens, Chiles und Boliviens sowie in Brasilien den linken Präsidentschaftskandidaten Luiz Inácio Lula da Silva besuchte. Das Verhältnis zu den USA wird sich sicherlich verändern, denn Petro wird die traditionelle Rolle Kolumbiens in der US-Außenpolitik anfechten: Kolumbien wird nicht weiter der Damm gegen linke Regierungen sein.
Auch für das Nachbarland Venezuela ist die Wahl Petros eine gute Nachricht. Die politische Rechte Kolumbiens war unter anderem am versuchten Putsch in Venezuela 2019 beteiligt, bei dem sich der venezolanische Politiker Juan Guaidó selbst zum Interimspräsidenten ernannte und sogar von der deutschen Bundesregierung anerkannt wurde. Kolumbianische Paramilitärs und Militärs hatten ihn damals unterstützt. Nun werden nach Jahren der Funkstille zwischen Kolumbien und Venezuela die diplomatischen Beziehungen wieder aufgenommen. Der venezolanische Außenminister Carlos Farías und sein zukünftiger kolumbianischer Amtskollege Alvaro Leiva Durán haben dazu bereits Ideen vorgelegt.
Vom Wahlkampf zum Regierungsprogramm
Der Wirtschaftswissenschaftler Petro wird als erste Priorität eine Reform der Steuer- und Rentenpolitik angehen. Denn das primäre Ziel der neuen Regierung ist die Bekämpfung von Armut und Ungleichheit. Für die ersten 100 Tage kündigte Petro daher bereits konkrete Reformpläne an. Außerdem will die neue Regierung auch das Freihandelsabkommen mit den USA neu verhandeln. Im Wahlkampf hatten Gustavo Petro und Francia Márquez zahlreiche Forderungen der Bewegungen aufgegriffen: Im Zentrum der Wahlversprechen stand der Schutz der Aktivist*innen vor Gewalt und Verfolgung. Seit der Unterzeichnung des Friedensvertrags sind über 900 Aktivist*innen ermordet worden, Kolumbien gilt als eins der weltweit gefährlichsten Länder für die politische Linke. Zudem sollen die Friedensverhandlungen mit der immer noch aktiven ELN-Guerilla aufgenommen und der Friedensvertrag mit der FARC umgesetzt werden.
Zu Petros Wahlversprechen zählen zudem strukturelle Reformen in Polizei und Armee. Die Polizei soll aus dem Verteidigungsministerium ausgegliedert werden. Dies ist vor allem mit Blick auf die Sozialproteste ein wichtiges Thema für linke Bewegungen – alleine bei den Protesten 2021 wurden über 80 Menschen von der Polizei getötet. Bisher wurde niemand zur Rechenschaft gezogen. Bereits vor der offiziellen Amtseinführung hat die neue Regierung aus diesen Wahlkampfversprechen einige konkrete Vorschläge erarbeitet, darunter die Freilassung der politischen Gefangenen, die seit ihrer Teilnahme an den Protesten in Haft sind.
Weniger vielversprechend sieht es in der Klimapolitik aus. Obwohl das Thema im Wahlkampf eine Rolle gespielt hatte, kündigte Petro nun an, vorerst nicht aus dem Kohleabbau auszusteigen. Zwar will er perspektivisch weg von Öl und Kohle, doch wegen des Ukraine-Kriegs steigen derzeit die deutschen Kohleimporte aus Kolumbien wieder an. Und das Entwicklungsland kann es sich nicht leisten, sich dieses Geschäft entgehen zu lassen. So plant die neue Regierung, den Abbau von Bodenschätzen weiterhin zu ermöglichen, allerdings mit sozial- und umweltverträglichen Beschränkungen. Und zumindest die derzeit laufenden Pilotprojekte im Fracking werden ausgesetzt.
Außerdem wird in den kommenden Jahren in den Ausbau der sozialen Infrastruktur investiert. Das ist unglaublich notwendig in einem Land, in dem Menschen an heilbaren Krankheiten oder Kleinkinder an Unterernährung sterben. Und bis 2023 werden die öffentlichen Unis keine Einschreibungsgebühr nehmen.
Grund zur Freude geben vor allem zwei neue Ministerien: Das Ressort für Gleichstellung wird von niemand geringer als Francia Márquez selbst geführt; sie wird sich um die Rechte von Frauen, LGBTIQ+ und gefährdeten Bevölkerungsgruppen kümmern und für die soziale und wirtschaftliche Gleichstellung ausgegrenzter Teile der Bevölkerung kämpfen. Zudem wird ein Ministerium für Frieden, Sicherheit und Zusammenleben eingeführt.
Das Kabinett der neuen Regierung entspricht Petros integrativem Politikstil. Das Außenministerium geht ans konservative Lager, an die eher liberale Strömung gehen die Ressorts Wohnen und Landwirtschaft. Aus dem eher linken Lager kommen der neue Bildungsminister, der Verteidigungsminister sowie die drei Frauen in den Ressorts Umwelt, Gesundheit und Kultur, María Susana Muhamad von der linken Partei Colombia Humana, Carolina Corcho und Patricia Ariza Flórez aus der Unión Patriótica. Insgesamt gibt Petro mit seinen Ernennungen vielen unterschiedlichen Lagern eine Repräsentation in der Regierung.
Trotz unterschiedlicher Einschätzungen seitens der linken Bewegung wird diese Regierung für mehr Einheit unter den Linken sorgen, für mehr Austausch und direkte Beteiligung vieler marginalisierter und ausgeschlossener Bevölkerungsgruppen. Ihr ständiger Bezug auf Protest und Bewegung, ihre direkten Kontakte zu Aktivist*innen und linken Intellektuellen lassen auf eine wirkliche Veränderung hoffen.