Kein neues »2015«
Mit dem Geraune um angeblich stark zunehmende Migrationsbewegungen wird in der EU einmal mehr Rassismus zu Politik verarbeitet
Von Bernd Kasparek
Die Ankünfte von Schutz suchenden Personen in Deutschland seien wieder gestiegen, hieß es in den vergangenen Wochen vermehrt. Kommunen beklagten, dass ihre Unterbringungskapazitäten ausgeschöpft seien. Auf einem »Flüchtlingsgipfel« Anfang Oktober sagte die Bundesregierung den Kommunen Unterstützung zu. Begleitet wurden Meldungen zu dem Thema mit Hinweisen darauf, dass sich im Vergleich zum Vorjahr mehr Geflüchtete über die sogenannte Westbalkanroute nach Norden bewegen würden.
Politiker*innen und vermeintliche Migrationsexpert*innen nahmen dies zum Anlass, davor zu warnen, dass sich »2015« wiederholen könne, um gleichzeitig zu fordern, dass es sich nicht wiederholen dürfe. Viele forderten, die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten müssten Grenzkontrollen verschärfen und verstärkt gegen die Logistik der Flucht vorgehen.
Was bei dem Geraune um ein zweites 2015, also einer Wiederholung der monumentalen Fluchtbewegung zwischen dem Sommer 2015 und Frühjahr 2016, irritiert, ist, dass zum einen selten belastbare Zahlen genannt werden und zum anderen die Flucht aus der Ukraine mit der Flucht aus anderen Krisengebieten vermischt wird. Im Sommer der Migration 2015 erreichten rund eine Million Schutzsuchende Deutschland und stellten einen Asylantrag. Wer also heute von einer Wiederholung der damaligen Situation spricht, muss belegen können, dass eine quantitativ ähnlich große Fluchtbewegung im Entstehen ist. Dies ist jedoch bei Weitem nicht der Fall, weswegen implizit immer darauf verwiesen wird, dass Deutschland ja schon rund eine Million Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen habe.
So kann von über einer Million Schutzsuchender in Deutschland gesprochen und die Parallele zu 2015 konstruiert werden, ohne zu benennen, dass die Aufnahme der Schutzsuchenden aus der Ukraine unter extrem anderen politischen und rechtlichen Vorzeichen erfolgt ist. Denn niemand bezweifelt ernsthaft die Schutzwürdigkeit der aus der Ukraine fliehenden Menschen. Die Aktivierung der EU-Richtlinie zum temporären Schutz (die sogenannte Massenzustromrichtlinie) hat zudem ein vollkommen anderes und unkompliziertes Aufnahmeregime entstehen lassen. Diese Fluchtbewegung nun auf die Flucht aus anderen Krisenregionen der Welt, wie etwa Syrien, Afghanistan und Pakistan, zu projizieren, ist mehr als nur unlauter. Vielmehr wird hier erneut mit Rassismus Politik gemacht.
Noch nicht einmal Seehofers Obergrenze
Denn, um zum ersten Punkt zurückzukehren: Die tatsächliche Zahl jener, die über die Balkanroute reisen und in Deutschland einen Asylantrag stellen, ist erheblich niedriger, als es das Gerede von einem zweiten 2015 suggeriert. So zitiert die Tagesschau Bundesinnenministerin Nancy Faeser auf dem Flüchtlingsgipfel: Zwischen Januar und Ende September seien 135.000 Erstanträge auf Asyl in Deutschland gestellt worden, dies sei ein Anstieg von 35 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Um dies jedoch ins Verhältnis zu setzen: 135.000 Erstanträge sind immer noch signifikant weniger Erstanträge als etwa Faesers Vorgänger, der Hardliner Horst Seehofer mit seiner Obergrenze von 200.000 Ankünften pro Jahr bereit war zu akzeptieren.
Sogar die Zahlen der europäischen Grenzschutzagentur Frontex widersprechen einer angeblichen Wiederholung des Sommers der Migration. Sie zählte lediglich 188.000 Ankünfte in den ersten acht Monaten des Jahres 2022, was weniger als einem Fünftel der Migrationsdynamik des Jahres 2015 entspricht. Zudem scheint die Agentur ihren beliebten Fehler, Personen mehrfach zu zählen, zu wiederholen. Doch selbst wenn dem nicht so sein sollte: Aus den Zahlen der Grenzschutzagentur ergeben sich keinerlei Anhaltspunkte, dass erneut eine große Fluchtbewegung über den Balkan bevorsteht.
Bei genauerer Betrachtung ergibt sich jedoch eine andere Erkenntnis aus den Frontex-Zahlen. Ihnen zufolge sind nur rund 25.000 Personen von der Türkei nach Griechenland eingereist, aber am kroatischen, ungarischen und rumänischen Teil der Außengrenzen der EU mit Serbien und Bosnien-Herzegowina mehr als dreimal so viele Personen bei einem unautorisierten Grenzübertritt aufgegriffen worden. Das bedeutet, dass der größere Anteil der Bewegung auf der Balkanroute eine Binnenfluchtmigration innerhalb Europas darstellt.
Der größere Teil der Bewegung auf der Balkanroute stellt eine Binnenfluchtmigration innerhalb Europas dar.
Es scheint, keine primäre Ursache für die neuen Bewegungen in und nach Europa zu geben. Das langsame Abflauen der Covid-19-Pandemie, die global zwei Jahre lang zu massiven Mobilitätseinschränkungen geführt hat, ist sicherlich ein wichtiger Faktor für den Anstieg der Bewegungen. Hinzu kommen weitere Faktoren. So hat sich die Situation der syrischen Geflüchteten in der Türkei massiv verschlechtert, da Präsident Erdoğan angesichts einer hohen Inflation, niedriger Zustimmungswerte und einer bevorstehenden Wahl im Jahr 2023 verstärkt auf eine Sündenbockpolitik gegenüber den Schutzsuchenden setzt. In Griechenland verfolgt die dortige Regierung seit dem Sommer eine verschärfte Abschiebepolitik und geht dabei äußerst rigide vor. Es gibt also aktuell im Südosten der EU viele Gründe, sich vor dem Winter der hohen Energiekosten noch einmal auf den Weg nach Norden zu machen.
Zudem scheint es, als hätten sich über den Sommer neue Routen in die EU ergeben. So wird vermehrt über eine Route berichtet, die von Serbien nach Rumänien und weiter nach Ungarn führt. Anders als an der ungarisch-kroatischen und ungarisch-serbischen Grenze steht an der rumänisch-serbischen Grenze (noch) kein Zaun. Es heißt aber auch, dass es nun wieder einfacher möglich sei, die bosnisch-kroatische Grenze zu überqueren. In den letzten Jahren hatte die kroatische Grenzschutzpolizei mit Unterstützung von Frontex eine rigide Politik der Pushbacks – also der gewalttätigen und illegalen Zurückweisung von Schutzsuchenden – an dieser Grenze praktiziert.
Seit diesem Sommer scheint dies nicht mehr der Fall zu sein, vielmehr stattet der kroatische Staat die Grenzüberquerenden nun mit einem Papier aus, das ihren Aufenthalt auf kroatischem Territorium für wenige Tage legalisiert und ihnen die Weiterreise in den Schengenraum ermöglicht. Warum es zu diesem Politikwechsel gekommen ist, ist aktuell unklar, er ist jedoch ein weiteres Beispiel für die Art von stillschweigender Allianz zwischen Transitmigration und Transitstaaten, die schon immer eine große Herausforderung für das Projekt der globalen Migrationskontrolle gewesen ist. Das Modell erfreut sich aktuell einer neuen Beliebtheit, ist doch auch die Schweiz dazu übergegangen, Schutzsuchende, die keinen Asylantrag in der Schweiz stellen, nicht zu registrieren, sondern mit Sonderzügen von ihrer südlichen an ihre nördliche Grenze mit Deutschland zu transportieren.
Grenzkontrollen zu Österreich
Ob die Bundesregierung als Reaktion nun Schengen-interne Grenzkontrollen zur Schweiz einführen wird, bleibt offen. Doch undenkbar ist das nicht. Schon 2015 führten viele EU-Mitgliedstaaten Binnengrenzkontrollen im Schengenraum ein und verlängerten diese über viele Jahre. Eingeführt wurden sie erst mit Verweis auf die Migrationsbewegungen und dann immer vager mit Verweis auf die öffentliche Ordnung, die gefährdet sei. Mit dem Ausbruch der Pandemie im Jahr 2020 führten alle Mitgliedstaaten Grenzkontrollen ein. Diese wurden zwar bald wieder aufgehoben, doch auch heute werden an einer Vielzahl von Binnengrenzen weiter Grenzkontrollen durchgeführt. Eine Webseite der Europäischen Kommission listet aktuell 13 Fälle auf, in denen Mitgliedstaaten sie von der Wiedereinführung von Grenzkontrollen benachrichtigt haben. In vielen Fällen wird Sekundärmigration, also Migrationsbewegungen innerhalb des Schengenraums, als Grund angeführt.
Es ist davon auszugehen, dass diese Grenzkontrollen vermehrt gegen europäisches Recht verstoßen. In diesem Jahr hat der Gerichtshof der Europäischen Union in einem Verfahren gegen Österreich festgestellt, dass Grenzkontrollen nicht einfach immer wieder mit einem abstrakten Verweis auf Sicherheit oder Ordnung verlängert werden dürfen. Es müsse schon ein konkreter Grund vorgebracht werden. Doch dieses Urteil des höchsten Gerichts der EU wird aktuell auch von Deutschland ignoriert, das die Grenzkontrollen in Richtung Österreich gerade erneut verlängert hat.
So zerstört die gegenwärtige Migrationspolitik in der EU, die vor allem von der irrationalen Furcht vor einem zweiten 2015 getrieben ist, eine der zentralen Errungenschaften – Bewegungsfreiheit – des europäischen Projekts. Einher geht diese Politik mit einer zunehmend brutalen und oftmals tödlichen Praxis der Pushbacks an den Außengrenzen der EU, verbunden mit der ausgeweiteten Internierung von Schutzsuchenden. Dies ist nicht lediglich eine humanitäre Katastrophe: Diese Politiken, getrieben von erstarkten rechten europäischen Parteien, greifen auch das demokratische und rechtsstaatliche Fundament des europäischen Projekts an. Die beständige Skandalisierung der Migration in Europa leistet diesen Parteien und ihrem Projekt eines fundamentalen Umbaus Europas immer wieder Vorschub.