Kaserniert und infiziert
Die Corona-Fälle in den Fleischfabriken waren absehbar
Von Jörn Boewe
Während in der deutschen Öffentlichkeit wochenlang heiß über Corona-Partys und Mund-Nasen-Schutz gestritten wurde, gerieten ein paar echte Hotspots nicht mal in die Nähe eines Blicks. Erst als das Problem so groß war, dass man es nicht mehr ignorieren konnte, fiel man aus allen Wolken. 850 Beschäftigte in Schlachthöfen hatten sich bis Mitte Mai mit dem SARS-CoV-2-Virus infiziert. Das waren sechs Prozent (!) aller akuten Covid-19-Fälle in der Bundesrepublik. Da zu diesem Zeitpunkt Schwerpunkttests unter den Beschäftigten noch gar nicht begonnen hatten, dürfte der Anteil weiter steigen. Als das Problem am 14. Mai Thema einer Aktuellen Stunde im Bundestag wurde, war der erste nachgewiesene Ausbruch in einem deutschen Schlachthof schon fünf Wochen alt. Am 7. April hatte sich ein Beschäftigter im Unternehmen Müllerfleisch aus Birkenfeld bei Pforzheim an die Polizei gewandt, weil es ihm schlecht ging. Schnell wurden 80 Infizierte ausgemacht, mittlerweile sind es über 400 – allesamt Wanderarbeiter aus Osteuropa, untergebracht in engen Sammelunterkünften.
Deutschland ist auch ein Meister im Import billiger Arbeitskraft, genauer: der Ausbeutung von Arbeitskräften, die temporär ins Land geholt, unter inakzeptablen Bedingungen kaserniert, praktisch entrechtet und »unsichtbar« gemacht werden.
Auch in Schlachtbetrieben in NRW und Schleswig-Holstein wurden im Mai Hunderte Covid-19-Fälle bekannt. Das Problem ist überall dasselbe: prekär Beschäftigte, die im Akkord Schwerstarbeit leisten und weder am Arbeitsplatz noch in ihrer desolaten Wohnsituation grundlegende Hygieneregeln einhalten können; Unternehmen, die ihr Geschäftsmodell seit Jahren auf missbräuchliche Werkverträge gründen; politisch Verantwortliche, die Schutzstandards erlassen, aber weder für Kontrollmechanismen noch Sanktionen sorgen. Auf Baustellen, in der Landwirtschaft, in der Logistikbranche drohen ähnliche Ausbrüche. Corona ist auch eine Klassenfrage: Wer sich nicht ins Home-Office zurückziehen kann, auf den überfüllten ÖPNV angewiesen ist oder im Kleintransporter dicht an dicht gedrängt zur Arbeit fährt, hat ein deutlich erhöhtes Infektionsrisiko.
So legt die Pandemie einige unangenehme Wahrheiten über das deutsche Wirtschafts- und Wohlstandsmodell offen. Gern sieht sich die Bundesrepublik als Exportweltmeister. Deutschland ist aber auch ein Meister im Import billiger Arbeitskraft, genauer: der Ausbeutung von Arbeitskräften, die temporär ins Land geholt, unter inakzeptablen Bedingungen kaserniert, praktisch entrechtet und »unsichtbar« gemacht werden. An dieser Grundhaltung hat sich seit dem ersten »Gastarbeiter-Anwerbeabkommen« 1955 nichts geändert. Vielmehr ist das Modell zwischen Deutschland und seinen ostmitteleuropäischen Anrainern im Zuge der EU-Erweiterung als quasi neokoloniales Verhältnis zementiert worden. Jahrelang sind Gewerkschaften und Menschen wie Pfarrer Peter Kossen gegen diese Zustände angerannt. Das Interesse bei Unternehmen, Politik und Medien war eher mäßig. Jetzt wird dieses System zum Brandbeschleuniger der Pandemie.