Paris ist eine Welt entfernt
Im pazifischen Kanaky eskaliert ein Konflikt über eine geplante Verfassungsänderung, die die Macht Frankreichs über die Insel stärken könnte
Von Volker Böge
In den letzten Wochen haben sich die Konflikte zwischen den für die Unabhängigkeit Kanakys (Neukaledonien) und den für den Verbleib bei der Kolonialmacht Frankreich eintretenden Kräften in dem pazifischen Inselterritorium zugespitzt. Auslöser ist die Absicht Frankreichs, den Kreis der Wahlberechtigten im Territorium stark auszuweiten. Dies würde die Kräfteverhältnisse entscheidend zugunsten der weißen französischstämmigen Einwohner*innenschaft und zuungunsten der indigenen kanakischen Bevölkerung verschieben und damit die Aussichten auf eine Unabhängigkeit Kanakys weiter verschlechtern. Deswegen gibt es vehemente Proteste der kanakischen Unabhängigkeitsbefürworter*innen. Diese wiederum lösen heftige Reaktionen des pro-französischen Lagers aus. Die Lage hat sich derart zugespitzt, dass Erinnerungen an den Gewaltkonflikt zwischen den Unabhängigkeitsbewegungen und der Regierung in Paris in den 1980er Jahren wach werden. Der politische Prozess, der durch die Abkommen von Matignon (1988) und Nouméa (1998) initiiert worden war und der eine friedliche Lösung des Konflikts herbeiführen sollte, steckt in der Sackgasse.
Infolge einer Abstimmung in der französischen Nationalversammlung Mitte Mai eskalierte die Situation in der Hauptstadt Kanakys, Nouméa. Die Behörden verhängten den Ausnahmezustand, nachdem Geschäfte gefackelt und geplündert und Barrikaden errichtet worden waren. Der internationale Flughafen, Schulen und andere öffentliche Einrichtungen wurden geschlossen und zusätzliche Bereitschaftspolizei aus Frankreich eingeflogen. Dutzende von zumeist jugendlichen Demonstrant*innen wurden verhaftet, es gab sechs Tote und Hunderte von Verletzten auf beiden Seiten. Pro-französische »Bürgerwehren« bewaffneten sich und griffen die Protestierenden an. Die FLNKS (Front de Liberation Nationale Kanak et Socialiste), eine Allianz aus Unabhängigkeitsparteien, rief ihre Anhänger*innen zu »Ruhe und Besonnenheit« auf, während pro-französische Politiker*innen das Gespenst eines Bürgerkrieges an die Wand malten. Bei Redaktionsschluss dauerten die Unruhen in Nouméa an.
Demos und Gegendemos
Am 13. April hatten in Nouméa bereits rund 40.000 Menschen demonstriert (bei einer Gesamtbevölkerung Neukaledoniens von 270.000). Sie verteilten sich zahlenmäßig etwa gleich auf zwei Demonstrationen, die nur wenige Straßenzüge voneinander entfernt stattfanden und von einem starken Polizeiaufgebot getrennt wurden. Auf der einen Demonstration, organisiert von den pro-französischen Parteien, schwenkten die Teilnehmer*innen französische Fahnen und sangen die französische Nationalhymne. Auf der anderen, organisiert von einem Bündnis kanakischer Gewerkschaften und Unabhängigkeitsparteien, waren es kanakische Fahnen und Gesänge. Die eine Demonstration fand statt zur Unterstützung einer geplanten Verfassungsänderung, die den Kreis der in Kanaky wahlberechtigten Französinnen und Franzosen erheblich ausweiten würde. Die andere protestierte gegen diese Änderung, weil sie die Kanak*innen zur Minderheit im eigenen Land machen würde und letztlich die Absicht habe, jegliche Aussichten auf eine künftige Unabhängigkeit Kanakys ein für alle mal zunichtezumachen.
Das Abkommen von Nouméa hatte den Kreis der Wahlberechtigten in Kanaky auf alle begrenzt, die in Kanaky geboren waren oder dort vor 1998 gelebt hatten. Doch am 2. April stimmte der französische Senat einer Verfassungsänderung zu, die die Wahlberechtigung auf alle französischen Staatsbürger*innen ausweitet, die seit zehn Jahren ununterbrochen dort leben. (1) Die Änderung würde zusätzlichen 25.000 Menschen das Recht geben, an Wahlen für die lokalen parlamentarischen Institutionen (das Parlament Kanakys und die drei Provinzversammlungen) teilzunehmen. Da es sich bei diesen Neuwähler*innen hauptsächlich um weiße Zugewanderte aus Frankreich handelt, ist davon auszugehen, dass dies die pro-französischen politischen Parteien in Kanaky deutlich stärken würde. Am 15. Mai votierten in der französischen Nationalversammlung 351 Abgeordnete für die Änderung und 153 dagegen. Im Juni soll dann der französische Kongress, bestehend aus Senat und Nationalversammlung, endgültig entscheiden. Dort wäre eine Dreifünftelmehrheit nötig.
Die FLNKS fordert die Zurücknahme der Verfassungsänderung, verweist auf das Abkommen von Nouméa und besteht darauf, den Friedens- und Unabhängigkeitsprozess fortzuführen. Die geplante Verfassungsänderung sieht die Allianz als Todesstoß für diesen Prozess, der seit einem Unabhängigkeitsreferendum am 12. Dezember 2021 stagniert.
Frankreich will im weltpolitisch bedeutsamen indo-pazifischen Raum eine Rolle spielen, dafür braucht es seine Kolonien im Pazifik.
In den drei im Abkommen von Nouméa vereinbarten Referenden konnte zwischen Unabhängigkeit und Verbleib bei Frankreich abgestimmt werden. In den ersten beiden Referenden 2018 und 2020 waren die pro-französischen Stimmen in der Mehrheit – knapp und mit sinkender Tendenz. (2) Das dritte Referendum dann wurde von den Unabhängigkeitsbefürworter*innen boykottiert. Sie hatten wegen der Covid-Situation in Kanaky eine Verschiebung gefordert; doch die französische Regierung zog das Referendum entgegen dem Nouméa-Abkommen vor und erzielte ein Ergebnis von 96,5 Prozent für den Verbleib. Allerdings hatten sich 56 Prozent der Wahlberechtigten nicht am Referendum beteiligt – ein klarer Erfolg des Boykottaufrufs. (3)
Versuche, die antagonistischen Kräfte wieder an einen Tisch zu bringen und nach Auswegen aus der Sackgasse zu suchen, sind bisher gescheitert. Die geplante Verfassungsänderung verschärft die Konfrontation weiter. Die französische Regierung und die pro-französischen Parteien argumentieren, dass die Wahlrechtsrestriktionen des Abkommens von Nouméa nicht mehr zeitgemäß seien und das fundamentale demokratische Recht, als Staatsbürger*in an Wahlen teilnehmen zu können, nicht weiter missachtet werden dürfe. Die Unabhängigkeitsparteien verschließen sich diesem Argument nicht grundsätzlich, wehren sich aber dagegen, dass Änderungen, die dem Buchstaben und Geist des Nouméa-Abkommens widersprechen, von französischer Seite ohne Konsultationen durchgepeitscht werden. Nötig wären Gespräche und Verhandlungen, die alle Akteur*innen zusammenbringen und die in einem neuen Vertragswerk über die politische Zukunft Kanakys münden. Das allerdings braucht Zeit.
Ökonomische Krise und geostrategische Interessen
Die Zuspitzung der politischen Auseinandersetzungen ist vor dem Hintergrund einer tiefen ökonomischen und sozialen Krise in Kanaky zu sehen. Dessen Wirtschaft basiert weitestgehend auf der Nickel-Industrie, die etwa ein Viertel aller Werktätigen beschäftigt. Kanaky, lange Zeit einer der weltgrößten Nickelproduzenten, kann der neuen Konkurrenz aus China und insbesondere aus Indonesien nicht standhalten, die billiger und in größeren Mengen produziert. Anfang des Jahres wurde der Standort Koniambo eingemottet. Der Mehrheitseigner, der Anglo-Schweizerische Konzern Glencore, sucht jetzt nach einem potenziellen Käufer. Die beiden anderen Nickelproduzenten, Societe le Nickel (SLN, eine Tochter des französischen Bergbaugiganten Eramet) und Prony Resources (grösster Eigner Trafigura aus der Schweiz) sind ebenfalls in großen Schwierigkeiten und stehen vor dem Aus. SLN hat die Produktion drastisch heruntergefahren. Bei Koniambo gingen bereits über eintausend Arbeitsplätze verloren, und weitere Tausende von (zumeist kanakischen) Arbeitsplätzen stehen auf dem Spiel. Eramets Chefin Christel Bories sagte bereits im Februar, dass SLN und die Nickelproduktion in Kanaky generell keine Zukunft hätten und man sich dort doch bitte auf Tourismus und Landwirtschaft umstellen solle. Derweil ist die Firma an der weltgrößten Nickelmine Weda Bay in Indonesien beteiligt.
Die französische Regierung hat sich bereit erklärt, mit einem 200 Millionen Euro schweren Notfallplan zu Hilfe zu kommen – allerdings nur, wenn die Akteur*innen in Kanaky »Reformen« zustimmen, die die Produktionskosten senken. Dass diese Kostensenkung auf den Rücken der (kanakischen) Arbeiter*innen ausgetragen wird, ist selbstredend. Der Plan wird von den Unabhängigkeitsparteien abgelehnt.
Letztlich muss die kanakische Frage im Kontext der geostrategischen Interessen Frankreichs in der Region gesehen werden. Frankreich will im weltpolitisch an Bedeutung zunehmenden indo-pazifischen Raum eine machtpolitische Rolle spielen, und dafür braucht es seine Kolonien im Pazifik: Kanaky, Ma’ohi Nui (Französisch-Polynesien) und Uvea mo Futuna (Wallis und Futuna). Daher hat es kein Interesse an der Unabhängigkeit Kanakys.
Die Unabhängigkeitskräfte versuchen, mit eigener Außenpolitik und Diplomatie dagegenzuhalten. Im Jahr 2016 wurden Kanaky und Ma’ohi Nui Vollmitglieder des Pacific Island Forum, der aus unabhängigen Staaten bestehenden Regionalorganisation für den Pazifik. Seither präsentieren sie sich – in Abgrenzung von Frankreich – als Mitglieder der pazifischen Staatenfamilie und bemühen sich um regionale Integration. Der Präsident Kanakys, Louis Mapou, machte auf der Jahrestagung des PIF 2022 den Gegensatz klar: »Ohne Zweifel braucht Frankreich Neukaledonien und Französisch-Polynesien für seine Pazifik-Strategie in Auseinandersetzung mit anderen Großmächten in der Region. Aber das ist nicht unser Projekt – wir wollen die Integration mit unseren Nachbarn in der Pazifikregion.«
Es ist noch nicht soweit, dass die antagonistischen Kräfte bereit wären, das Risiko eines Rückfalls in die Zeit des Bürgerkriegs der 1980er Jahren einzugehen. Doch wenn nicht bald ein tragfähiger Ausweg aus der politischen Sackgasse und der ökonomischen Krise gefunden wird, geht Kanaky schweren Zeiten entgegen.
Anmerkungen:
1) Es gab 233 Für-Stimmen und 99 Gegenstimmen. Letztere kamen von der Linken.
2) Knapp 40 Prozent der Bevölkerung sind indigene Kanak*innen, 27 Prozent französische Siedler*innen und 8 Prozent aus anderen französischen pazifischen Kolonien. 17 bis 20 Prozent wollen sich nicht ethnisch zuschreiben lassen. In der Mehrheit handelt es sich dabei um Weiße aus Frankreich.
3) Im Gegensatz dazu beteiligten sich am Referendum 2020 86 Prozent der Wahlberechtigten. Damals hatten 53 Prozent gegen und 47 Prozent für die Unabhängigkeit gestimmt.