In der Mehrheit geflohen
Jordaniens Bevölkerung ist gegenüber Geflüchteten aufgeschlossen, das hat historische Gründe
Von Robin Jaspert
Die zuerst von Faschist*innen aufgestellte Behauptung, die Unterstützung Geflüchteter sei eine zu große Belastung, scheint gesellschaftlicher Konsens in Deutschland. Der Diskurs verschiebt sich immer weiter nach rechts, und Gesetze werden verschärft. In Jordanien hingegen scheint die Stimmung gegenüber Geflüchteten grundverschieden. Das Staatsoberhaupt der konstitutionellen Monarchie, König Abdullah II., verlautete am 13.12.2023 im Rahmen des Global Refugee Forum, dass: »(d)ie Aufnahme von Geflüchteten (…) zu einem unauslöschlichen Bestandteil der nationalen Identität Jordaniens geworden (ist). Wir können den Geflüchteten nicht den Rücken kehren, denn sie sind, was wir sind.«
Die Bundesrepublik gibt jährlich um die drei Prozent des Bundeshaushaltes für die Unterstützung Geflüchteter aus. Das Verhältnis zur wirtschaftlichen Gesamtproduktion, dem BIP, beträgt aber nur 0,4 Prozent. In Jordanien betrugen die jährlichen Ausgaben für die Unterstützung Geflüchteter seit 2011 rund zehn Prozent des BIPs. Relativ zur wirtschaftlichen Gesamtproduktion gibt Jordanien also Jahr für Jahr rund 25-mal so viel wie die Bundesrepublik für die Unterstützung Geflüchteter aus. Woher kommen dieses Engagement und die anhaltende Aufnahmebereitschaft?
Konstante Migration
Die Entstehungsgeschichte des jordanischen Nationalstaates ist geprägt von Imperialismus, Kolonialismus und Flucht. Der Ausgang des Ersten Weltkriegs und die Arabische Revolte bedeuteten auch das Ende des Osmanischen Reiches und seiner Herrschaft über den Nahen Osten. Die Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich versuchten daraufhin, Land und Bewohner*innen des arabischen Raums unter sich aufzuteilen. Da die Brit*innen ohne Verbündete innerhalb der lokalen Autoritäten in der Umsetzung ihrer Ansprüche im heutigen Jordanien aber scheiterten, suchten sie die Unterstützung von Abdullah I. Er gehörte der auf der arabischen Halbinsel beheimateten Dynastie der vom Propheten Mohammed abstammenden Haschimiten an. Abdullah I. taugte für die britischen Zwecke sehr gut, er war nicht Teil der traditionellen lokalen Eliten, aber dort weitgehend respektiert.
Um seinen Anspruch auf die Herrschaft über das britische Protektorat Transjordanien zu sichern, griff Abdullah I. ab 1922 nicht nur auf Diplomatie und die britische Luftwaffe zur Unterdrückung von Revolten zurück, sondern beschloss aus strategischen Gründen Amman zur Hauptstadt des noch jungen Transjordaniens zu ernennen. Dieser Schritt diente vor allem der Entmachtung der traditionell am Ostufer des Jordans beheimateten lokale Eliten, die sich eine machtvolle Position im sich im Entstehen befindlichen Staat erhofften, wie Jillian Schwedler in ihrem Buch »Protesting Jordan« beschreibt. 1922 war Amman noch nicht mehr als eine kleine Handelsstadt, hauptsächlich Heimat syrischer und palästinensischer Händler*innen und Kriegsflüchtiger. Unter dem Einfluss König Abdullahs I. und seines Enkels und Thronfolgers Hussein I. gewann die neue Hauptstadt an Einfluss wie Einwohner*innen, womit die palästinensischen und syrischen Geflüchteten zu einem zentralem Teil der transjordanischen Gesellschaft gemacht wurden.
Die Staatsbürgerschaft für Palästinenser *innen ist bis heute prekär und umkämpft.
1946 erklärte sich Jordanien von Großbritannien unabhängig. 1957 lief auch das Sicherheitsabkommen zwischen Großbritannien und Jordanien aus, was den Staat in Abhängigkeit zur britischen Mandatsmacht hielt. Schutzsuchende in Jordanien blieben aber eine Konstante. Denn durch den deutschen Faschismus und den Holocaust weiter angetrieben flohen immer mehr Juden und Jüdinnen vor dem europäischem Antisemitismus nach Palästina und schlossen sich dort den seit Ende des 19. Jahrhunderts siedelnden, oftmals ebenfalls geflüchteten, Juden und Jüdinnen an. Während Teile der linkszionistischen Siedler*innen in Palästina ein solidarisches Miteinander anstrebten, setzten die weitaus mächtigeren rechtszionistischen Siedler*innen auf die gewaltvolle Vertreibung der Palästinenser*innen. Das Vereinigte Königreich war bis 1948 Mandatsmacht in Palästina und tolerierte die Vertreibung nicht nur, sondern unterstützte sie in Teilen sowohl materiell wie auch ideologisch. Die zionistische Einwanderung sowie der Widerstand der Palästinenser*innen und ihrer arabischen Verbündeten führten zum Palästinakrieg oder Unabhängigkeitskrieg, der die Staatsgründung Israels im Jahre 1948 und die Vertreibung von mehr als 700.000 Palästinenser*innen zur Folge hatte. Palästinenser*innen nennen ihre Vertreibung meist Nakba (arabisch für Katastrophe).
Zwischen 1947 und 1967 gab es eine konstante Fluchtbewegung aus Israel-Palästina nach Jordanien. Doch Jordanien war selbst Akteur in den bewaffneten Auseinandersetzungen um die Staatsgründung Israels. 1950 annektierte Jordanien sowohl gegen israelischen Interessen wie auch palästinensischem und panarabischem Widerstand das Westjordanland. Offizielle Begründung war die Unterstützung der Palästinenser*innen gegen Israel, real diente der Schritt aber primär der Ausweitung des jordanischen Herrschaftsraums. In Folge des Sechstagekrieges von 1967 verlor Jordanien jedoch wieder die Kontrolle über das Westjordanland, das Gebiet ist seitdem vom israelischen Militär besetzt. Allerdings flüchteten mehr als 400.000 Palästinenser*innen fast ausnahmslos nach Jordanien. So fanden auch große Teile der organisierten palästinensischen Unabhängigkeitsbewegung, unter anderem die PLO, zunächst eine sichere Heimat in Jordanien. Diese wurde aber 1970-71 vom jordanischen Königshaus unter massiver Gewalt, die in einem Bürgerkrieg samt Flugzeugentführungen und tausenden Toten mündete, vertrieben (ak 701). Das Verhältnis zwischen den – je nach Zählung – zwei bis sechs Millionen in Jordanien beheimateter Palästinenser*innen und der royalen Dynastie ist bis heute angespannt. Die Form der teilweise öffentlichen Unterstützung palästinensischer Anliegen ist Teil der hochkomplexen Machtbalance sowohl zwischen den zahlreichen Interessenfraktionen im jordanischen Staat, auf die die Königsfamilie zur Legitimierung ihrer Herrschaft angewiesen ist, wie auch den weitreichenden internationalen diplomatischen Beziehungen, die Abdullah II. und das Königshaus unterhalten. Die gut gepflegten, wenn auch nicht unkomplizierten, Beziehungen sowohl zu Israel wie auch der Arabischen Liga und der Fatah, Italien, den Vereinigten Staaten und der ehemaligen Mandatsmacht Großbritannien, sichern einen Status relativer staatlicher Stabilität, weswegen auch zahlreiche Nichtregierungsorganisationen ihren regionalen Sitz in Amman haben.
Zwischen Aufnahme und Anfeindung
Doch nicht nur aus Israel-Palästina und Syrien, auch vor anderen bewaffneten Konflikten in der Region flüchteten und flüchten sich im Laufe der Jahre zahlreiche Menschen unter anderem aus dem Jemen, Libanon, Irak und Afghanistan nach Jordanien, das aufgrund der langjährigen fast vollständigen Abwesenheit bewaffneter Konflikte und des Einflusses parastaatlicher Gruppen als Stabilitätsanker in der Region gilt. Heute haben mehr als vier Millionen Einwohner*innen Jordaniens einen anerkannten Status als Geflüchtete, über ein Drittel der Gesamtbevölkerung.
Trotzdem gibt es Alltagsrassismus, der sich vor allem in verbalen Abwertungen ausdrückt, und materielle Ungleichbehandlung Geflüchteter in Jordanien. Im Aufenthaltsstatus vieler Menschen spiegeln sich diese Unterscheidungen wider. Während den 1947-48 aus dem Westjordanland vertriebenen Palästinenser*innen die jordanische Staatsbürgerschaft aufgezwungen, und damit ihr Anspruch auf Rückkehr nach Palästina eingeschränkt wurde, erhalten Palästinenser*innen, denen Gaza als Heimat zugeschrieben wird, keine jordanische Staatsangehörigkeit. Das bedeutet für diese mindestens 140.000 Menschen ein Leben zweiter Klasse, ohne Anspruch auf viele grundlegende Rechte. Und die Staatsbürgerschaft für Palästinenser*innen ist bis heute prekär und umkämpft. Human Rights Watch geht davon aus, dass das jordanische Königshaus die Ambition verfolgt, Jordanier*innen mit palästinensischer Herkunft wieder nach Israel-Palästina umzusiedeln, sobald sich die Möglichkeit ergibt.
Den meisten Geflüchteten früherer Generationen gelang der Einstieg in die formelle Beschäftigung und der damit einhergehende soziale Aufstieg. Im Gegensatz dazu hängen zahlreiche Geflüchtete späterer Generationen dauerhaft in inzwischen befestigten Camps und informellen Beschäftigungsverhältnissen fest. Viele Geflüchtete leben von nicht mehr als 3,50 Euro am Tag. Besonders betroffen: Frauen und nicht-binäre Menschen. Der Alltagsrassismus in Jordanien beruft sich aber nur höchst selten auf ökonomische Argumente: »Wer ehrlich ist – und das sind viele – gibt zu, dass Geflüchtete niemandem die Arbeit wegnehmen, sondern höchstens schlecht bezahlte Jobs erledigen, auf die Jordanier*innen keinen Bock haben«, berichtet eine im Tourismussektor tätige Jordanierin im Gespräch mit ak.
Solidarität – Sein und Schein
Jordanien ist für die über vier Millionen Geflüchteten im Land also kein Utopia. Nur, im Gegensatz zu Deutschland sind Geflüchtete in Jordanien nach wie vor willkommen: Deutlich über die Hälfte der Jordanier*innen sprechen sich im Rahmen einer repräsentativen Umfrage klar gegen die Schließung der Grenzen oder die Rücksendung von Geflüchteten aus. Obwohl – im gleichem Atemzug – über 80 Prozent die Belastung für Sozialsysteme und die Verfügbarkeit von Wohnraum mit Sorge betrachten. In repräsentativen Umfragen in Deutschland benennen etwa ebenso viele Menschen Sorge für Belastungen des Sozialstaates durch Migration. Nur, es befürworten auch 82 Prozent Maßnahmen zur Begrenzung der Zuwanderung.
»Wir haben in Jordanien eine extrem stark ausgeprägte Willkommenskultur und großes Verständnis für Menschen, die vor Krieg und Krisen fliehen. Diese sind in der Region eher die Regel, denn die Ausnahme. Die meisten ausgelöst durch westliche Interventionen. Heute sind es unsere Nachbar*innen, morgen könnten wir dran sein« – erklärt ein Mitarbeiter einer Nichtregierungsorganisation gegenüber ak.
Die Aufnahme Geflüchteter wird in Jordanien also weder durch das Königshaus noch die breite Masse in Frage gestellt. Gründe scheinen eine Mischung aus der Solidarität gegenüber den Folgen westlicher Politik in der Region sowie die enge Verwebung der jordanischen Geschichte mit Flucht und dem auch daraus entstehendem starkem Bewusstsein für die Notwendigkeit der Unterstützung Geflüchteter. Diese findet allerdings auf prekärer Finanzierungsgrundlage statt. Denn nur knapp 30 Prozent der von der internationalen Staatengemeinschaft im Rahmen von UN-Verhandlungen zugesagten 2,2 Milliarden US-Dollar für die Unterstützung syrischer Geflüchteter wurden 2023 erreicht. Die Jahre zuvor wurden die zugesicherten Zahlungen ebenfalls um ähnliche Anteile unterschritten. Den Rest trägt die angeschlagene, und vom Internationalem Währungsfonds weiter ausgepresste, jordanische Staatskasse. UNHCR, das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen, und UNRWA, der eigenständige Teil für palästinensische Geflüchtete, die in Jordanien wesentlich zur Unterstützung Geflüchteter beitragen, kämpfen mit gezielt gestrichener Finanzierung, das UNHCR aufgrund strategischer Entscheidungen der USA und das UNRWA auf Basis von Anschuldigungen, die Organisation sei von der Hamas unterwandert. In Jordanien wird die Situation also, trotz klarer Mehrheiten für die Unterstützung Geflüchteter, tatsächlich ökonomisch immer schwieriger zu stemmen. In Deutschland hingegen – wo Flucht ebenso eine historische Konstante ist – ist das Argument nichts als rechte Propaganda. Vielleicht liegt der Unterschied im Umgang mit Geflüchteten doch schlicht am rassistischen Konsens der deutschen Gesellschaft.