Jenseits der Feindbestimmung
Or aus Israel hat den Dienst an der Waffe verweigert und berichtet, was das in einer militarisierten Gesellschaft bedeutet
Interview: Renate Clauss
Die israelische Antimilitaristin Or spricht im Interview über die politische und soziale Rolle des Militärs in Israel und ihre öffentliche Kriegsdienstverweigerung in einem Land, das viele Kriege führt.
In Israel hast du den obligatorischen Militärdienst verweigert. Wie hat dein Umfeld darauf reagiert?
Or: Als ich 18 wurde, vor 15 Jahren, habe ich öffentlich verweigert und in den Medien auch darüber gesprochen. Meine Gründe waren die fortlaufende Besatzung der palästinensischen Gebiete und meine feministische Einstellung. Für die Verweigerung habe ich viereinhalb Monate im Gefängnis gesessen. In meiner wunderbaren Familie sind wir uns in vielen Dingen einig. Politisch liegen wir jedoch weit auseinander. Meine Hartnäckigkeit hat mir in dieser Zeit geholfen. Die Tatsache, dass meine Mutter sich weigerte, meine Anrufe aus dem Gefängnis entgegenzunehmen, war hart. Die Verweigerung war eine meiner besten Lebensentscheidungen. In Israel werden wir vom Kindergarten an in dem Glauben erzogen, dass »die Araber« gefährlich sind. Wenn wir sie nicht bekämpfen, werden sie uns töten, so die Meinung vieler. Deshalb gelten in Israel alle Soldat*innen als Held*innen.
Als Teenager wollte ich in eine Kampfeinheit eintreten. Was Männer können, das kann ich auch, dachte ich.
Was hat diese Einstellung verändert?
Ich war zehn, als die Zweite Intifada begann. Es ist schrecklich für ein Kind, Explosionen zu sehen, Freund*innen zu verlieren und mit dem Gefühl der ständigen Gefahr zu leben. Ich fragte die Leute um mich herum immer wieder: Wie können sich Menschen mit Familie und Kindern umbringen? Die Antwort war immer dieselbe: Araber*innen und Jüdinnen*Juden hätten sich schon immer gehasst. Ich bin eine jüdische Araberin. Ich hatte andere Geschichten von meinen Großeltern gehört. Ich wusste, dass es nicht immer so war. Also suchte ich nach Antworten. Mit 14 Jahren sah ich zum ersten Mal, was Besatzung bedeutet: militärische Kontrolle, tägliche Gewalt, Wasserknappheit, kein Strom, kein Benzin, Mangel überall im Westjordanland. Weil mich Aktivist*innen dort mit hinnahmen. In Jerusalem schützte uns die Polizei bei Tierrechtsdemonstrationen. Im Westjordanland war die Polizei der Feind von allen. Auf meine kleine Gruppe wurde mit Gummigeschossen geschossen, manchmal auch mit scharfer Munition. Von der Zeit an hatte ich palästinensische Freund*innen – ich konnte nicht mehr zum Militär gehen. Die öffentliche Verweigerung sollte für alle eine politische Aussage sein.
Or
Antimilitaristin, Feministin, lebt zur Zeit in Berlin. Or ist in der Gruppe New Profile aktiv: newprofile.org/en/
Welche Rolle spielt die Armee in Israel?
Die Armee zu kritisieren, ist in Israel ein Tabu – selbst unter Linken. Einige Linke entscheiden sich für den Militärdienst, weil sie daran glauben oder Angst vor den sozialen Konsequenzen der Verweigerung haben. Refuzeniks, wie Verweiger*innen auch genannt werden, werden in Israel manchmal mehr gehasst als Linke oder Palästinenser*innen. Denn jüdisch-israelische Refuzeniks gelten als Verräter*innen. Viele können diese Ablehnung nicht ertragen. Ein Lehrer, der sich nach dem 7. Oktober öffentlich weigerte, als Reservist einberufen zu werden, bekam einen Shitstorm der Eltern, die seine Entlassung forderten – und er wurde gefeuert. In Israel kursiert das Gerücht, dass man ohne Wehrdienst nicht studieren könne. Das ist Blödsinn. Die Armee ist es, die dieses Gerücht verbreitet. Im wirklichen Leben gibt es sogar in der Knesset Leute, die nicht in der Armee waren.
Die Armee zu kritisieren, ist in Israel ein Tabu.
Wie lautet der Name deiner Gruppe?
Neues Profil. Das Profil ist die Nummer, die du bei der Musterung erhältst und die darüber entscheidet, welche Aufgabe du in der Armee bekommst. Jede und jeder bekommt solch eine Nummer. Neues Profil bedeutet feministisches und antimilitaristisches Profil. Unsere Gruppe informiert über die Militarisierung in Israel, wo sie am Werk ist – vom Kindergarten an, in der Musik, in Zeitschriften, im Radio und im Fernsehen, buchstäblich überall. Wir haben mit Ausstellungen begonnen, bevor es die sozialen Medien gab. Wir bewegen uns in einer Grauzone, wir wollen nicht zu bekannt werden, um mögliche Repressionen zu vermeiden. Heute veröffentlichen wir aufgezeichnete Lesungen und Gespräche online. Es ist viel einfacher, außerhalb Israels darüber zu sprechen als innerhalb des Landes.
Was geht dir seit dem 7. Oktober durch den Kopf?
Seit dem 7. Oktober sterben Menschen auf allen Seiten, im Westjordanland, in Gaza, in Israel, im Libanon. Es ist zum Verzweifeln. Es ist unmöglich, ihre Namen zu nennen, zu sagen, wer die Toten waren, denn das Gedenken ist nicht mehr erlaubt, du wirst beschimpft, wenn du um jemanden trauerst, der dir am Herzen liegt. Ich war hier in Berlin auf einer Party und hörte von dem Angriff auf das Haus, in dem meine Schwester lebt. Freunde versuchten mich zu beruhigen, dass es doch den Iron Dome gibt, der viele Raketen und Geschosse abfangen kann. Sie meinten, ich solle nicht ängstlich sein. Aber das beruhigt mich überhaupt nicht; die Angst bleibt.