16 mal höher
Zehn Jahre nach der Katastrophe von Fukushima werden Krebsfälle bei Kindern unter den Tisch gekehrt
Von Alex Rosen
Zehn Jahre ist es her, dass wir alle gebannt auf die Bildschirme starrten, während sich vor unseren Augen die größte Atomkatastrophe seit Tschernobyl entwickelte. Ein Erdbeben hatte das japanische Atomkraftwerk Fukushima Dai-ichi am 11. März 2011 schwer beschädigt. Der nachfolgende Tsunami begrub jede Hoffnung für eine Abwendung eines Super-GAUs. In den nächsten Tagen kam es in drei der sechs Atomreaktoren zu Kernschmelzen. Große Mengen an radioaktiven Partikeln wurden in die Atmosphäre geschleudert. Mehr als 200.000 Menschen mussten evakuiert werden; ganze Landstriche wurden zu strahlenden Sperrzonen.
Vielerorts waren die Menschen in Japan damals radioaktivem Niederschlag ausgesetzt. Nur günstige Winde verhinderten, dass die Metropole Tokio und weitere Landesteile betroffen waren. Manche leben bis heute in den verstrahlten Regionen, in denen sie tagtäglich mit erhöhten Strahlenmengen konfrontiert sind: radioaktive Hotspots am Straßenrand, im Reisfeld oder im Sandkasten, kontaminierte Pilze oder Algen, verstrahltes Grundwasser und Rekontaminationen durch Waldbrände oder Überschwemmungen. Doch die atomfreundliche Regierung Japans versucht, die Folgen der Katastrophe für Mensch und Umwelt herunterzuspielen. Das zeigt auch eine Studie der Fukushima Medical University (FMU) zur Entstehung von Schilddrüsenkrebs bei Kindern und Jugendlichen in Fukushima.
Eine der gefürchtetsten Spätfolgen von radioaktiver Exposition ist die Entstehung von Krebserkrankungen durch Mutation der DNA. Schilddrüsenkrebs bei Kindern ist zwar nicht die gefährlichste, wohl aber die am einfachsten nachzuweisende Form einer strahlenbedingten Krebserkrankung. Zum einen sind die Latenzzeiten bis zur Entstehung eines Krebsgeschwürs mit nur wenigen Jahren relativ kurz. Zum anderen ist Schilddrüsenkrebs bei Kindern eine extrem seltene Krankheit, so dass auch ein geringfügiger Anstieg statistisch signifikant nachzuweisen ist. Entsprechend groß war 2011 der Druck auf die japanischen Behörden, Schilddrüsenkrebszahlen in Fukushima zu untersuchen.
Seit knapp zehn Jahren untersucht die FMU in regelmäßigen Abständen die Schilddrüsen von Menschen, die zum Zeitpunkt des Super-GAUs in der Präfektur Fukushima lebten und unter 18 Jahre alt waren. Anfangs handelte es sich bei dieser Gruppe um rund 368.000 Individuen, mittlerweile sind es nur noch knapp 218.000. Seit 2011 wurden vier Untersuchungsreihen durchgeführt, die fünfte läuft seit 2020.
Alles nur ein Screening-Effekt?
In der Erstuntersuchung in Fukushima fand man 101 bestätigte Krebsfälle, die so aggressiv waren, dass sie operiert werden mussten. Diese unerwartet hohe Zahl wurde von der FMU damals mit einem Screening-Effekt erklärt: Bei groß angelegten Reihenuntersuchungen würden mehr Krankheitsfälle identifiziert, als in derselben Bevölkerung und im selben Zeitraum durch symptomatisch werdende Erkrankungen zu erwarten sei. Das genaue Ausmaß des Screening-Effekts ist unbekannt. Dennoch lässt sich ausschließen, dass es sich bei den erhöhten Krebsraten in dieser Studie um Folgen eines Screening-Effekts handelt, da alle Kinder im Vorfeld untersucht und für krebsfrei befunden worden waren. Sie müssen die Krebserkrankung also zwischen den Screening-Untersuchungen entwickelt haben.
Folgen für die Atompolitik
Nach Harrisburg 1979 und Tschernobyl 1986 ereignete sich in Fukushima am 11. März 2011 der weltweit dritte große Reaktorunfall – mit Folgen für die nationalen Atompolitiken in etlichen Ländern. Manche Staaten setzten ihren Atomeinstieg aus oder erklärten ihren Verzicht. In Japan selbst wurden die verbliebenen 50 Atomreaktoren binnen 14 Monaten abgeschaltet. Ab 2015 jedoch gingen einzelne Reaktoren wieder ans Netz; neun sind es aktuell. In Deutschland kam es nach Fukushima zu den bis dato größten Anti-Atom-Protesten. Die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung kam überein, die zuvor beschlossene Laufzeitverlängerung zurückzunehmen, und nahm die acht ältesten Meiler vom Netz. Aktuell sind noch sechs Kraftwerke mit den größten Reaktoren in Betrieb. Gemäß Atomgesetz werden drei weitere Ende dieses und die drei jüngsten AKWs Ende nächsten Jahres abgeschaltet. Ab Anfang 2023 wird Deutschland jedoch noch nicht vollständig aus der Kernenergie ausgestiegen sein, denn der Export von Brennstoffen wird weitergehen. Und das auch in Nachbarländern wie die Schweiz, Frankreich und Belgien, die teils überalterte und damit störanfällige Atomkraftwerke betreiben.
Die Erklärung der FMU, die hohen Krebszahlen seien dem Screening-Effekt zuzuschreiben, ist nicht die einzige Maßnahme, die allgemein als Mittel zur Reduzierung der offiziellen Zahl diagnostizierter Krebsfälle gewertet wird. So werden Jugendliche, die 25 Jahre alt werden, aus der offiziellen Hauptstudie ausgeschlossen und in eine neu erschaffene Untersuchungskohorte der Über-25-Jährigen übertragen. Die Teilnahmequote in dieser Studie beträgt gerade einmal acht Prozent. Demnach dürfte die Dunkelziffer von Schilddrüsenkrebs hier deutlich höher liegen.
Hinzu kommen elf Schilddrüsenkrebsfälle, die im Juni 2017 bei Kindern bekannt wurden, die ebenfalls Teil der Studie waren. Allerdings fielen diese Krebserkrankungen nicht im Rahmen der regulären Screening-Untersuchungen auf, sondern bei Nachuntersuchungen im Universitätsklinikum von Fukushima. Diese Fälle wurden nicht zu den offiziellen Ergebnissen hinzugerechnet, obwohl sie identische Tumorentitäten zeigten. Wie viele weitere Fälle seitdem hinzugekommen sind, ist unbekannt.
Die Dunkelziffer der Schilddrüsenkrebsfälle bei Patient*innen, die zum Zeitpunkt des Super-GAUs als Kinder in den verstrahlten Gebieten lebten, dürfte deutlich höher liegen.
Zudem stehen Daten anderer Krankenhäusern in Japan nicht zur Verfügung. Daten von Patient*innen aus verstrahlten Gebieten außerhalb der Präfektur Fukushima werden nirgendwo erhoben. Das spricht dafür, dass die Dunkelziffer der Schilddrüsenkrebsfälle bei Patient*innen, die zum Zeitpunkt des Super-GAUs als Kinder in den verstrahlten Gebieten lebten, deutlich höher liegen dürfte. Allein die Zahl der offiziell bekannten Schilddrüsenkrebsfällen in Fukushima liegt aktuell bei 213 (198 offizielle Fälle aus den Reihenuntersuchungen, vier Fälle aus der Ü25-Kohorte und elf Fälle aus der Universitätsklinik Fukushima).
Interessant wird es bei einem Vergleich dieser Zahlen mit der japanweiten Neuerkrankungsrate. Die offizielle Neuerkrankungsrate an Schilddrüsenkrebs bei Kindern unter 25 Jahren in Japan beträgt pro Jahr rund 0,59 auf 100.000. Das bedeutet, dass in der letzten Kohorte von rund 218.000 Kindern circa 1,3 neue Schilddrüsenkrebsfälle pro Jahr zu erwarten gewesen wären. Zehn Jahre nach Beginn der Atomkatastrophe wären demnach knapp 13 Schilddrüsenkrebsfälle zu erwarten gewesen. Die tatsächliche Zahl liegt aber mit 213 um 16 mal höher!
Hinzu kommt, dass die geografische Verteilung der Schilddrüsenkrebsraten mit der vermuteten radioaktiven Belastung korreliert. In den 13 am schwersten kontaminierten Ortschaften im Osten Fukushimas wurde eine deutlich höhere Inzidenz von Schilddrüsenkrebs bei Kindern registriert als in den weniger verstrahlten Gebieten. Am geringsten fiel die Inzidenz im Westen der Präfektur aus, wo der radioaktive Niederschlag am wenigsten ausgeprägt war.
Teilnahmeschwund bei Studien
Zwischen den Jahren 2016-2021 ist die Zahl der Teilnehmenden an den Screening-Untersuchungen kontinuierlich gesunken: von anfangs 79 Prozent auf aktuell 62 Prozent im vierten Screening. Hinter diesem Trend scheint ebenfalls System zu stecken: Die für die Studie federführende FMU schickt seit Jahren Mitarbeiter*innen an die Schulen der Präfektur, um dort Kinder über deren »Recht auf Nichtteilnahme« und das »Recht auf Nichtwissen« aufzuklären. Auf den Studienformularen gibt es die Möglichkeit, aus dem Screening entlassen zu werden. Es wird somit ganz bewusst in Kauf genommen und gefördert, dass Kinder aus der Studie herausfallen. Ein weiterer Grund des Teilnahmeschwunds ist die Ausgliederung der Über-25-Jährigen aus der Hauptstudie.
Neben den Schilddrüsenkrebsfällen wird auch mit einem Anstieg weiterer Krebsarten und anderer Erkrankungen gerechnet, die durch ionisierende Strahlung ausgelöst oder negativ beeinflusst werden. Die Schilddrüsenuntersuchungen der FMU stellen die einzigen wissenschaftlichen Reihenuntersuchungen dar, die überhaupt relevante Aufschlüsse über die gesundheitlichen Folgen der Atomkatastrophe von Fukushima liefern können. Derzeit laufen diese jedoch Gefahr, von Befürworter*innen der Atomenergie unterminiert zu werden.
Bis heute lebt das Land, leben die Menschen in Japan mit der Katastrophe. Es gibt weiterhin keine Normalität, auch wenn die atomfreundliche Regierung dies mit bunten olympischen »Wiederaufbau«-Spielen zu verdecken versucht. Die Lehren aus Fukushima zu ziehen, bedeutet auch, genau hinzusehen und nicht zu verdrängen: Die Menschen in Japan haben ein unveräußerliches Recht auf Gesundheit und auf ein Leben in einer gesunden Umwelt. Die Untersuchungen kindlicher Schilddrüsen kommen dabei nicht nur den Patient*innen selber zugute, deren Krebserkrankungen frühzeitig detektiert und behandelt werden können, sondern der gesamten Bevölkerung, die durch die freigesetzte Strahlung beeinträchtigt wird. Die korrekte Fortführung und wissenschaftliche Begleitung der Schilddrüsenuntersuchungen liegen somit im öffentlichen Interesse und dürfen nicht durch politische oder wirtschaftliche Beweggründe konterkariert werden.