Gnadenlose Härte gegen Linksradikale
Mario Draghis Regierung fordert von Frankreich die Auslieferung von 200 ehemaligen italienischen Militanten
Von Jens Renner
Die Protagonist*innen von damals sind tot oder im Rentenalter. Gleichwohl werden die Ereignisse der 1970er Jahre in Italien immer mal wieder zum Gegenstand hitziger Debatten. Fast durchgängig schafft es die seinerzeit siegreiche Seite, mit ihrer Deutung der Ereignisse das kollektive Gedächtnis zu formen. So erscheint dann ein ganzes Jahrzehnt geprägt durch den »roten Terror« und die harte, aber gerechte Antwort des Staates auf eine lebensgefährliche Herausforderung. Auch die Justiz mit ihrem ungebrochenen Verfolgungswillen spielt dabei eine aktive Rolle: Harte Urteile gegen einzelne Veteran*innen der »bleiernen Jahre« bedeuten nicht nur eine nachträgliche Delegitimierung der 68er-Revolte und ihrer militanten Erb*innen, sie sollen auch Jüngere von der Teilnahme an kommenden Rebellionen abschrecken.
Noch vor wenigen Wochen konnte es scheinen, als würde die italienische Justiz einen eher auf späte Versöhnung ausgerichteten Kurs einschlagen. In ihren ersten Erklärungen hatte Marta Cartabia, die seit Februar amtierende parteilose Justizministerin, den »erzieherischen Wert« des Strafrechts betont, häufiger einen Täter-Opfer-Ausgleich sowie Alternativen zum Gefängnis gefordert und insbesondere das Prinzip einer rächenden Justiz verworfen. Doch alsbald wurden Cartabias schöne Worte durch das Handeln der italienischen Regierung dementiert. Auf ihr Ersuchen nahm die Polizei Ende April in Paris sieben italienische Staatsbürger*innen fest, die dort seit vielen Jahren politisches Asyl genießen: sechs ehemalige Mitglieder der Roten Brigaden, außerdem Giorgio Pietrostefani, Mitbegründer von Lotta Continua; zwei weitere stellten sich, einer flüchtete. Inzwischen sind alle wieder frei, stehen aber unter polizeilicher Aufsicht. Die Drohung, an Italien ausgeliefert und dort für viele Jahre inhaftiert zu werden, bleibt also – nicht nur gegen die Zehn: Insgesamt stehen etwa 200 Namen auf der italienischen Wunschliste.
Macron annulliert die »Doctrine Mitterand«
Ein Großteil der italienischen Medien und Politiker*innen diverser Parteien, vom sozialdemokratischen Partito Democratico bis zu den postfaschistischen Fratelli d‘Italia, finden die grenzüberschreitende Verfolgung längst »resozialisierter« Revolutionär*innen goldrichtig. Unter den wenigen, die dagegen protestieren, sind einige ehemalige Linksradikale, die längst mit dem Staat Frieden geschlossen haben. Der prominenteste von ihnen ist Adriano Sofri, bis 1976 Vorsitzender von Lotta Continua. 1988 wurde er beschuldigt, zusammen mit Pietrostefani den Auftrag zur Ermordung des Carabinieri-Kommissars Luigi Calabresi im Mai 1972 gegeben zu haben. Obwohl beide stets jede Tatbeteiligung bestritten und das Verfahren allein auf der Aussage eines Kronzeugen beruhte, wurden sie zu je 22 Jahren Haft verurteilt. Während Sofri einen Großteil davon absaß, flüchtete sein Genosse im Jahr 2000 nach Frankreich. Dort galt ab 1985 die nach dem sozialistischen Staatspräsidenten benannte »Doctrine Mitterrand«: keine Strafverfolgung für verurteilte italienische Linksradikale, wenn sie sich von der Gewalt als politischem Mittel distanzieren.
Das haben die aktuell Verfolgten getan. Adriano Sofri solidarisiert sich ausdrücklich mit allen, auch wenn er nur den mittlerweile 77-jährigen Pietrostefani persönlich kennt: »Er hat in Frankreich gearbeitet und Steuern bezahlt, das diskrete Leben eines alten Mannes und Großvaters geführt. Frankreich hat ihm Gastfreundschaft und sogar eine Lebertransplantation gewährt – und ihm so das Leben gerettet.« Auch die anderen Festgenommenen haben sich in ihrem Gastland zu gesetzestreuen Bürger*innen gewandelt – und wurden vom französischen Staat weitgehend in Ruhe gelassen. An die unter Mitterrand gegebene Zusage haben sich alle folgenden französischen Präsidenten gehalten, selbst der autoritäre Hardliner Nicolas Sarkozy. Anders jetzt Emmanuel Macron. Neben dessen Bestreben, sich angesichts einer bedrohlich zulegenden Rechten als starker Mann zu profilieren, dürfte dabei auch eine persönliche Intervention von Italiens neuem Premier Mario Draghi eine Rolle gespielt haben. Vor einigen Wochen habe dieser in einem Telefonat mit Macron das Auslieferungsthema angeschnitten und mit seinem Gesprächspartner schnell eine Einigung erzielt, wurde aus dem Elysée-Palast verlautbart.
Salvini gibt die Linie vor
Dass Draghi sich in dieser Frage persönlich engagierte – während er zeitgleich unter starkem Druck der EU die Ausarbeitung des italienischen Wiederaufbauplans zu organisieren hatte – erscheint erklärungsbedürftig. Offenbar verspricht er sich ebenfalls steigende Popularität, wenn er sich als Rächer inszeniert.
Gnadenlose Härte gegen einen längst besiegten Gegner war bisher die Spezialität der Rechten, namentlich des Lega-Chefs Matteo Salvini. Im Januar 2019, als er noch Innenminister war, machte sich Salvini, an der Seite von Justizminister Alfonso Bonafede (Fünf-Sterne-Bewegung), zum Hauptdarsteller einer makabren Inszenierung. In Polizeiuniform begab er sich zum römischen Flughafen Ciampino, um den von Bolivien ausgelieferten Cesare Battisti, in den 1970er Jahren Mitglied der Proletari Armati per il Comunismo (PAC), persönlich in Empfang zu nehmen. Wegen der Verbreitung des dabei aufgenommenen Videos mit dem in Handschellen vorgeführten Gefangenen wurde kurzfristig gegen die beiden übergriffigen Minister ermittelt. Das hielt Salvini nicht davon ab, den »historischen Tag für Italien« zu feiern und »im Namen von 60 Millionen Italienern« den beteiligten Kräften von Polizei und Geheimdiensten zu gratulieren. Nun gelte es, weitere »Dutzende Delinquenten, die irgendwo in der Welt ihr Leben genießen«, nach Italien zu schaffen. Wie es aussieht, hat sich die Draghi-Regierung diese Agenda zu eigen gemacht. Die »bleiernen Jahre« sind längst vorbei, der Kampf gegen den »roten Terror« geht weiter.
Vor kurzem erschien von Jens Renner das Buch »Die Linke in Italien. Eine Einführung« im Mandelbaum Verlag.