Frankenstein macht weiter
Italien zwischen politischer »Stabilität« und sozialen Protesten
Von Jens Renner
Was hätte Dario Fo (1926-2016), der geniale Autor, Regisseur und Hauptdarsteller subversiver politischer Farcen, aus diesem Stoff machen können! Sechs Tage lang war das italienische Parlament Schauplatz von taktischen Winkelzügen, konspirativen Verhandlungen, Bündnisversuchen und Verratsvorwürfen – bis nach acht Wahlgängen am Abend des 29. Januar feststand: Der bisherige Staatspräsident Sergio Mattarella bleibt im Amt, gewählt von 759 der insgesamt 1.009 »Großwähler*innen« (grandi elettori: den Mitgliedern der beiden Parlamentskammern plus 58 Delegierten aus den Regionen).
Warum nicht gleich so? Das ist eine naheliegende Frage, die aber von falschen Voraussetzungen ausgeht. Weniger, weil der Christdemokrat Mattarella, sieben Jahre im Amt und inzwischen 80 Jahre alt, ursprünglich nicht noch einmal antreten wollte, sondern vor allem, weil das Gerangel um das höchste Staatsamt in erster Linie ein politisches Kräftemessen war: innerhalb der regierenden Koalition wie auch des Rechtsblocks. Dessen ohnehin schon bestehendes strukturelles Problem scheint unlösbar: Während Matteo Salvinis Lega und Silvio Berlusconis Forza Italia mitregieren, befinden sich die von Giorgia Meloni angeführten postfaschistischen Fratelli d’Italia (FdI) in der Opposition – und kontinuierlich im Aufwind. Nach Salvinis konfusem Agieren in der zurückliegenden Wahlwoche, als er mehrere rechte Kandidat*innen ins Rennen schickte und »verbrannte«, dürften auch Melonis persönliche Umfragewerte weiter steigen. Der Wettstreit um die Führungsrolle im rechten Lager ist damit offener denn je.
Silvio Berlusconi (85) wiederum scheiterte zwar mit seinem Traum, selbst Staatspräsident zu werden, gibt sich aber nunmehr nach allen Seiten offen. Dem Lega-Chef erteilte er eine ziemlich schroffe Abfuhr für dessen Vorschlag, die rechten Kräfte in einer der Republikanischen Partei der USA ähnlichen Formation zu bündeln. Aller Voraussicht nach haben alle politischen Lager nun ein gutes Jahr Zeit, um sich neu aufzustellen. Dann nämlich wird das Parlament neu gewählt.
Zauberwort Stabilität
Die von Meloni penetrant geforderten vorgezogenen Neuwahlen wird es jedenfalls erstmal nicht geben. Denn nicht nur Sergio Mattarella bleibt im Amt, sondern auch Mario Draghi (74), der parteilose Banker und Premier. Nach wie vor wird seine Regierung getragen von einer extrabreiten Koalition, für die die linke Tageszeitung Il Manifesto den Namen »Maggioranza Frankenstein« prägte: Frankenstein-Mehrheit. Aus Sicht der europäischen Leitmedien ist die Kontinuität an der Spitze der italienischen Regierung eine gute Nachricht. Entsprechend häufig liest man in den einschlägigen Kommentaren von »Stabilität«. Erst Mitte Dezember verlieh der britische Economist Italien den Titel »Land des Jahres«, mit viel Lob für seinen »kompetenten und international respektierten Premier« und vor allem, weil dort die Wachstumsraten über denen von Frankreich und Deutschland liegen.
Dass der mit 6,5 Prozent vergleichsweise hohe Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (BIP) mit einer Verschärfung der sozialen Gegensätze einhergeht, ist bei den meinungsmachenden Medien so gut wie nie Thema. Dabei sind die Zahlen eindeutig: Das Wachstum des BIP beruht auf mehr prekärer Arbeit, befristeten und unfreiwilligen Teilzeitjobs, Niedriglöhnen – vor allem für Frauen, junge Menschen und Bewohner*innen des Südens. Zudem sind die Armen von den steigenden Energiepreisen am meisten betroffen; auch Zwangsräumungen von Mietwohnungen nehmen zu. Von der im Herbst beschlossenen Steuerreform profitieren Rentner*innen und andere Bezieher*innen geringer Einkommen wenig bis gar nicht. Eine höhere Besteuerung der in der Krise noch reicher gewordenen Reichen soll es nicht geben.
AKW-Gegner*innen seien »schlimmer als die Klimakatastrophe«.
Roberto Cingolani, parteiloser Minister für ökologischen Übergang
Auch die Verteilung der mehr als 200 Milliarden Euro aus dem Recovery Fund der EU zur Abmilderung der Pandemiefolgen zeigt eine deutliche Schieflage zugunsten privaten Kapitals. Das zeigt auch ein Gesetzentwurf, der u.a. in den Bereichen Transport, Energie, Wasserversorgung und Abfallbeseitigung vor allem auf »den Markt« setzt. Nur wenn private Dienstleister keine für die politischen Entscheider überzeugenden Angebote machen, sollen öffentliche Einrichtungen zum Zuge kommen. Dabei hat die Pandemie gerade gezeigt, welche Folgen die Kapitalisierung lebenswichtiger Dienstleistungen haben kann. Kritiker*innen, darunter viele mit leidvoller Erfahrung im Gesundheitswesen, weisen darauf hin, dass dort die hemmungslose Privatisierung massenhaft Menschenleben gekostet hat.
Auch in anderen Bereichen ist von einem Kurswechsel nichts zu spüren – oder wenn, dann in die falsche Richtung. So will Roberto Cingolani, parteiloser Minister für ökologischen Übergang, den Bau neuer Atomreaktoren nicht ausschließen. AKW-Gegner*innen seien »schlimmer als die Klimakatastrophe«, sagte er. Die klimapolitischen Maßnahmen allerdings bleiben noch hinter den (völlig unzureichenden) europäischen Standards zurück. Gefördert werden E-Mobilität, Gebäudedämmung und Hochgeschwindigkeitszüge, um Italien »grüner« zu machen. Gegen die massive Luftverschmutzung in den Großstädten, die gerade in einem Report der Umweltschutzorganisation Legambiente dokumentiert wurde, hilft das wenig.
Auch die seit Jahrzehnten – von unterschiedlichen Regierungen, Mitte-Links oder Mitte-Rechts – betriebene Abschottungspolitik soll unverändert bleiben. Das mit der libyschen Regierung vereinbarte »Memorandum« enthält weitere Finanzhilfen für die berüchtigte libysche Küstenwache, die in den vergangenen Jahren geschätzt 80.000 Bootsflüchtlinge abgefangen und in Lager verbracht hat; von einem Viertel der Verschleppten fehlt jedes Lebenszeichen. Erst Anfang Februar forderten 96 NGOs in einem Appell die Kündigung des Memorandums.
Warme Worte, soziale Proteste
Nach seiner neuerlichen Vereidigung hat Sergio Mattarella vor den beiden Parlamentskammern zwar etliche politische Baustellen aufgezählt und dabei auch soziale Ungleichheit, Rassismus und Antisemitismus angeprangert. 16 Mal forderte er ein Leben in »Würde« (dignità). Umgesetzt in ein konkretes Regierungsprogramm, würden die warmen Worte tatsächlich einen Politikwechsel bedeuten. Die dafür Zuständigen, allen voran Mario Draghi, haben aber schon signalisiert, dass sie weitermachen wollen wie bisher, nur schneller und effektiver.
Dagegen gab es bereits im vergangenen Herbst handfeste Proteste, in Betrieben und auf den Straßen. Arbeiter*innen blockierten Fabriktore, weil sie die vor Arbeitsantritt obligatorischen Corona-Tests selbst bezahlen sollen. Am 25. November demonstrierten 100.000 Menschen in Rom, mobilisiert von der feministischen Bewegung »Non una di meno«, gegen Gewalt an Frauen und trans Personen und forderten deutlich mehr Mittel für die »Centri antiviolenza femministi« und andere Selbsthilfe-Einrichtungen.
Am 4. Dezember begingen die in der USB (Unione Sindacale di Base) organisierten Basisgewerkschaften ihren »No Draghi Day« mit Demonstrationen in etlichen großen Städten, darunter Mailand, Rom und Neapel. Am 16. Dezember folgten auch die großen Gewerkschaftsbünde CGIL und UIL, die einen nationalen Generalstreik ausriefen. Damit sei der »Honeymoon« der Draghi-Regierung beendet worden, kommentierte die Chefredakteurin von Il Manifesto, Norma Rangeri. Der Präsident des Unternehmerverbandes Confindustria, Carlo Bonomi, empörte sich dagegen über den »politischen« Streik und warnte die Gewerkschaften davor, »das Gespenst des Klassenkampfs zwischen Sklaven und Herren« heraufzubeschwören. Als Experte für den Klassenkampf von oben bringt er das Unternehmerlager schon mal für die Auseinandersetzungen der kommenden Monate in Stellung. Bis Juni sollen weitere 24 Milliarden Euro aus dem EU-Hilfsfonds verteilt werden.
Daran wollen auch Schüler*innen und Studierende teilhaben. Die Liste der Mängel im Bildungswesen ist lang: marode Gebäude, unterbezahlte Lehrkräfte, mangelhafte Hygiene und nicht zuletzt ein Wechselsystem von Unterricht und unbezahlter Arbeit in Betrieben. Dabei kam kürzlich der 18-jährige Schüler Lorenzo Parelli ums Leben. Auch ihn erwähnte Mattarella in seiner Rede. Der von Mattarella repräsentierte Staat allerdings reagiert auf die Aktionen der neuen Bewegung vorrangig mit dem Polizeiknüppel. Aufzuhalten ist die Bewegung damit bisher nicht. Längst geht es ihr nicht mehr nur um bessere Schulen und Unis. »Wir wollen Bildung und nicht Konkurrenz um Noten und keine Ausbeutung, um den Profit privater Unternehmen zu steigern«, hieß es am 4. Februar in Mailand auf einer von vielen Demos. Auch bewährte Parolen machen wieder die Runde: »Wenn sie unsere Zukunft blockieren, blockieren wir die Stadt«. Der Slogan stammt von der Studierendenbewegung L‘Onda (Die Welle) der Jahre 2008 bis 2010. Noch älter ist ein anderer, der jetzt wiederentdeckt wurde: »Ihr werdet teuer bezahlen, ihr werdet alles bezahlen« war die Kampfansage im roten Jahrzehnt nach 1968.