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»Die Realität ist binational«

Die israelisch-palästinensische Linke hat keine Verbündeten, aber eine große Stärke, sagt Gil Shohat

Interview: Jan Ole Arps

Ein Polizist auf einem Pferdam späten Abend am Rande einer Demonstration, er macht eine Handbewegung in Richtung einer Demonstrantin. Die ältere Frau im Vordergrund, die man von hinten sieht, hält ein Schild hoch, auf dem "Stop the War" steht.
Demonstration gegen den Krieg und für die Freilassung der Geiseln am 3. August in Tel Aviv. Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com / Eyal Warshavsky

Die israelische Regierung, die für ihre Kriegsführung in Gaza immer stärker unter Druck gerät, setzt weiter auf Eskalation. Inzwischen droht nicht nur die Ausweitung des Krieges auf den Libanon, sondern auch ein militärischer Konflikt mit Iran. Innerhalb Israels tritt die extreme Rechte zunehmend selbstbewusst auf. Gil Shohat leitet das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv. ak sprach mit ihm über die Gefahr eines Bürgerkrieges, deutsche Wahrnehmungsbarrieren und die größte Stärke der israelisch-palästinensischen Linken. Das Gespräch fand am 6. August statt.

In den letzten Wochen haben sich die Ereignisse in Israel überschlagen. Wie hat sich die Stimmung im Land verändert?

Gil Shohat: Es war eine Achterbahnfahrt. Grundsätzlich ist die Stimmung sehr patriotisch, trotz der lauten Forderungen nach einem Geiseldeal. In der letzten Woche ist diese Stimmung gekippt in eine große Angst vor dem, was nun passieren wird. Es fing an mit der Tötung von zehn Kindern im drusischen Dorf Maschdal Schams in den Golanhöhen, vermutlich durch Raketen der Hisbollah. Dann kam die Reaktion, auf die alle gewartet haben: die Tötung eines hohen Hisbollah-Militärs in Beirut, gefolgt von der für viele überraschenden Ermordung des politischen Anführers der Hamas, Ismail Haniyya, in Teheran. Das führte am ersten Tag zu einem auch medial ausgelebten Hochgefühl darüber, dass die israelische Armee Handlungsfähigkeit gezeigt habe, wandelte sich dann aber in eine manifeste Angst vor der Reaktion der mit Israel verfeindeten Kräfte.

Wie steht die israelische Bevölkerung grundsätzlich zur Kriegsführung?

Es gibt eine Mehrheit für einen Geiseldeal, gleichzeitig aber keine Mehrheit gegen den Krieg. Israel ist innenpolitisch gespalten wie nie. Das macht sich an der Geiselfrage fest, auch an der Frage, wie die im Jahr 2023 begonnene Justizreform weiter vorangetrieben wird durch die in Teilen rechtsradikale Regierung.

Porträt von Gil Shohat
Foto: privat

Gil Shohat

ist Historiker und leitet das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv.

Ende Juli gab es Tumulte vor der Haftanstalt in Sde Teiman. Dort waren Reservesoldaten verhaftet worden unter dem Vorwurf, palästinensische Gefangene sexuell missbraucht und misshandelt zu haben. Nach Berichten über die Festnahme der Soldaten stürmten rechtsradikale Aktivist*innen und Siedler*innen zusammen mit Abgeordneten aus den Regierungsparteien die Militärbasis, um die Festnahmen zu verhindern.

So etwas ist in Israel noch nie passiert. Natürlich sind die demokratischen Fundamente des israelischen Staates nach über 50 Jahren Besatzungspolitik ohnehin sehr instabil. Aber was wir hier sehen, ist eine neue Stufe der Machtkonzentration in den Händen rechtsradikaler Siedler*innen und ihrer Unterstützer*innen im Parlament und in der Regierung. Das hat für große Empörung im sich eher liberal verstehenden Bevölkerungsteil Israels gesorgt. Gleichzeitig fehlt in dieser Empörung meist die Verbindung zur Besatzungspolitik, zu den Annexionsplänen der Regierung. Die Verbindung zwischen messianischem Siedlertum, der Vorstellung jüdischer Überlegenheit im ganzen historischen Palästina und den innenpolitischen Rückwirkungen wird ausgeblendet. Weil die strukturelle Analyse fehlt, gibt es auch keine echten Lösungsansätze.

Gibt es Empörung auch in Bezug auf die Misshandlung palästinensischer, auch israelisch-palästinensischer Gefangener?

Kürzlich kam in der Hauptnachrichtensendung von Channel 13, einem größeren israelischen Fernsehsender, ein Beitrag über die Zustände in den Gefängnissen, basierend auf einem Bericht der Menschenrechtsorganisation B’Tselem, die mit 55 Insassen gesprochen hat. Davon sind 50 ohne Anklage wieder frei gekommen, teilweise Bürger*innen Israels, die im Oktober, November an Demonstrationen teilgenommen oder auf Facebook gegen den Krieg gepostet hatten. Sie beschreiben unglaubliche Szenen in den Gefängnissen: Folter, Erniedrigung, Misshandlung, mehrmals mit Todesfolge – eine vollkommene Enthemmung der Gewalt. Dass dieser Bericht in den Hauptnachrichten kam, ist neu. Das ist erstmal eine gute Entwicklung. Gleichzeitig betonte der Bericht, die Gefangenen seien keine Hamas-Terroristen, also keine Beteiligten am 7. Oktober gewesen – unabhängig davon, dass in einem Rechtsstaat mit niemandem so umgegangen werden sollte.

Die Ereignisse vor den Haftanstalten sind eine Zäsur. Wenn eine Mehrheit in Israel irgendwann ein Ende des Krieges will, sehe ich eine große Gefahr, dass die rechtsradikalen Kräfte, die sich dort versammelt haben, einen bewaffneten Kampf innerhalb Israels starten.

Angesichts der Aufrüstung der Polizei, der Erleichterungen beim Waffenbesitz und nun der Ereignisse in Sde Teiman sind vermehrt Warnungen vor einem Bürgerkrieg zu hören.

Die Ereignisse vor den Haftanstalten sind eine Zäsur, weil kein Halt mehr gemacht wird vor den heiligen Kühen des israelischen Staatsapparats, also der Armee. Die Angreifer sind völlig frei rumgelaufen, ohne dass Sicherheitskräfte ernsthaft versucht hätten, das zu unterbinden. Das spricht dafür, dass diese antidemokratische, menschenverachtende Sicht auch in Teilen der Armee Rückhalt gewonnen hat. In großen Teilen der Gesellschaft hat sie sich durchgesetzt. Wenn eine Mehrheit in Israel irgendwann sagt, »Wir können nicht immer weiter auf eine militärische Lösung setzen«, sehe ich eine große Gefahr, dass diese Kräfte einen bewaffneten Kampf auch innerhalb Israels starten. Sie haben sich über Jahre in die Machtzentren vorgearbeitet, sie werden die Macht nicht so einfach aus der Hand geben.

Ein Bürgerkrieg wäre ein Szenario für den Fall, dass die Regierung unter Druck gerät oder abgewählt würde?

Ja. Mit dem Amtsantritt dieser Regierung sind alle Tabus, die es noch gab, gefallen. Das ist sehr beängstigend, und die Frage ist jetzt, ob in der Analyse der Gründe für diese Entwicklung die strukturellen Ursachen in den Blick kommen, nämlich Besatzung, Entrechtung, Unterdrückung eines anderen Volkes. Eine Demokratie, die ein anderes Volk über Jahrzehnte besetzt und beherrscht, kann keine vollwertige Demokratie sein.

Wie wirkt sich diese Entwicklung auf die Arbeit der israelischen Linken aus?

Die Toleranz für Stimmen gegen die Besatzung und den Krieg ist kleiner geworden, die Repression gegen Antikriegsproteste hat massiv zugenommen. Trotzdem gibt es Menschen, die nicht nur für eine Waffenruhe nach dem Motto »Wir müssen die Geiseln befreien, danach kann es weitergehen« demonstrieren, sondern die dezidiert sagen, wir sind gegen Krieg, gegen Besatzung, für eine politische Lösung. Zu solchen Demonstrationen kommen im besten Fall 2.000, vielleicht 3.000 Menschen. Parallel zu diesen eigenständigen Demonstrationen des Antikriegsblocks gibt es Versuche, die großen Proteste für einen Geiseldeal zu beeinflussen und dort die strukturellen Ursachen für die Politik dieser Regierung in den Fokus zu rücken.

Wie versucht der Antikriegsblock das?

Den meisten ist klar: Um zu wachsen, müssen wir größere Teile der israelischen Bevölkerung ansprechen. Das machst du nicht mit den radikalsten Sprüchen, sondern indem du den Kampf für eine friedliche Lösung mit den Sorgen der Mehrheit der Bevölkerung in Israel verbindest. Zum Beispiel beim Thema Sicherheit: Rechte überall auf der Welt nutzen diesen Begriff, um Aufrüstung zu legitimieren, in Israel, um die Zerstörung Gazas, das Blutvergießen und den ewigen Waffenkreislauf zu legitimieren. Das Argument des Friedensblocks ist: Was wir jetzt erleben, ist das Gegenteil von Sicherheit. Der 7. Oktober, der auch wegen der Stärkung der Hamas durch Netanjahu möglich war, hat das Versprechen, mit dem diese Regierung angetreten ist, bloßgestellt: als radikal rechte Regierung die Regierung der Sicherheit zu sein. Die Zerstörung Gazas und die Siedlungspolitik dienen niemandem in der israelischen Bevölkerung, der ein Leben in Sicherheit möchte. Nur eine politische Lösung bringt Sicherheit für alle, Jüdinnen, Juden und Palästinenser*innen. Dieser Kampf in Israel bietet auch Anknüpfungspunkte für andere Kämpfe gegen rechte Hegemonie auf der Welt.

Welche wären das?

Die Stärke derer, die sich der rechten Mehrheit und dem Krieg entgegenstellen, ist ihre Fähigkeit, Komplexität auszuhalten. Die Linke in Israel ist traditionell jüdisch-palästinensisch. Sie setzt viel daran, diese Partnerschaft fortzuführen. Aktuell ist das so schwer wie nie wegen des großen Misstrauens und wachsenden Hasses zwischen Israelis und Palästinenser*innen. Aber es gibt immer noch binationale Organisationen, die linke Partei Chadash etwa oder die Graswurzelbewegung Standing Together. Sie halten die Komplexität tagtäglich aus und versuchen, aus dieser Partnerschaft Stärke zu ziehen und eine Realität zu leben in Israel-Palästina, die nun mal binational ist, ob es die Menschen wollen oder nicht.

Die deutschen linken Debatten über Israel-Palästina kreisen nur um sich selbst. Sie helfen hier niemandem.

Dringen solche Appelle für das Festhalten an einer komplexen Realität noch durch?

Die palästinensische Bevölkerung Israels erlebt seit dem 7. Oktober heftigste Repression. Die Verhaftungen und Folterungen sind nur die Spitze. Viele haben ihre Jobs oder Studienplätze verloren wegen Äußerungen in den sozialen Netzwerken gegen den Krieg. Es herrscht große Angst, sich überhaupt zu äußern. Das macht die Situation für sie, die in Israel leben, israelische Staatsbürger*innen sind, oft gleichzeitig Familie in Gaza haben, unerträglich. Ihre Verzweiflung wird in der israelischen Mehrheitsgesellschaft überhaupt nicht wahrgenommen. Vielmehr werden sie von großen Teilen, von der Regierungskoalition sowieso, als fünfte Kolonne der Hamas gesehen. Auch in der internationalen Öffentlichkeit wird ihre Lage zu wenig wahrgenommen.

Die öffentliche Meinung in Deutschland, auch in der Linken, ist sehr polarisiert, die Wahrnehmung selektiv. Was kann Linken helfen, sich politisch besser zu orientieren?

Immer, wenn ich mit Leuten aus Deutschland spreche, versuche ich, darauf hinzuweisen, wie die progressiven Akteure in Israel mit der Situation umgehen: die Anerkennung, dass Leid auf verschiedenen Seiten besteht – was nicht bedeutet, dass man es gegeneinander aufwiegt –, der Wunsch, die Situation aller Menschen vor Ort zu verbessern unter Berücksichtigung der strukturellen Asymmetrie und Ungleichheit. Das sollte handlungsleitend sein aus einer universalistischen Perspektive. Und das hat sehr wenig mit den innerlinken Debatten in Deutschland zu tun, die um sich selbst kreisen und niemandem vor Ort helfen. Ich glaube, wenn es in der deutschen Linken Einigkeit gäbe, dass die Solidarität mit den Menschen in Israel und Palästina im Vordergrund steht und nicht Vorstellungen von Staaten oder Entitäten, die nicht den Realitäten entsprechen, wären wir schon einen Schritt weiter. Eine universalistische Haltung, die natürlich die Machtungleichheit benennt, sich an die Seite der Unterdrückten stellt, aber sich nicht an nationalistische Vorstellungen klammert, die Solidarität nicht nur mit einer Gruppe, sondern mit allen übt, die sich vor Ort für ein gerechtes Leben einsetzen – das würde ich mir wünschen. Ich halte es gar nicht für so schwer, ehrlich gesagt. Es würde schon reichen, denjenigen mehr zuzuhören, die vor Ort die Kämpfe führen.

Die Zweistaatenlösung scheint aktuell weiter weg als je zuvor. Welche Perspektive siehst du noch?

Ich muss zugeben, es gibt wahrlich keinen Grund zur Hoffnung. Deshalb hören die, die für Frieden streiten, aber trotzdem nicht auf, und wir unterstützen sie weiter. Hoffnung kann es nur geben, wenn der Krieg endet, es einen Geiseldeal gibt und beide Gesellschaften anfangen können, einen Heilungsprozess zu durchlaufen. Aber momentan sind alle einfach verängstigt und tief traurig.

Jan Ole Arps

ist Redakteur bei ak.

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