Im Schatten des Krieges
In Gaza sowie im Westjordanland eskaliert die Lage seit dem 7. Oktober zunehmend, Israel ist immer gespaltener
Von Hanno Hauenstein
Es gibt ein Bild, das mir seit ein paar Wochen nicht mehr aus dem Kopf geht. Das eines Seils, das aus dem Boden ragt, am Ende eine offene Schlaufe. Unweit davon: Überreste eines zerschmolzenen Autos, tiefschwarze Brandflecken, ein durchgerissenes Musikkabel, ein verbogener Camping-Stuhl. Dieser Nicht-Ort, wo vor knapp drei Monaten das Nova-Festival stattfand und am Morgen des 7. Oktober über 400 Menschen brutal ermordet oder entführt wurden – ein Ort, den ich Ende Dezember selbst besucht habe – ist heute ein Mahnmal. An provisorisch in den Erdboden gesteckten Eisenstangen sind die Gesichter der Entführten angebracht, mit Aufrufen, sie sofort zurückzubringen. Anders als Mahnmäler aus Glas oder Stein, an denen die Spuren dessen, woran sie erinnern, in ein Vakuum ästhetisierter Ruhe eingelassen sind, liegen die Taten hier frisch aufgerissen da. So sehr, dass man meint, den Terror, den Hamas und andere Gruppen an diesem Tag im Oktober über Israels Süden brachten, förmlich riechen zu können.
Im Hintergrund ertönt alle paar Minuten ein Wummern. Erst leise knarzend, dann bebend und laut, so laut, dass es einen erstarren lässt. Ein Sound, der die unheimlich nachwirkende Präsenz der Gewalt noch verstärkt. Eine Gewalt, die wuchert und mutiert, Grenzen überquert. Wie erinnern an einem Ort, wo Gewalt, an die erinnert wird, sich in unmittelbarer Nähe auf andere Weise fortsetzt? Gaza ist von der Stelle, wo vor knapp drei Monaten das Nova-Festival stattfand, nur sechs Kilometer entfernt. Auf etwa selber Höhe liegt Bureij, ein Ort im Zentrum des Gazastreifens, wo sich der von der israelischen Armee inzwischen zerstörte Norden Gazas vom noch nicht ganz zerstörten Süden trennt. Israelische Angriffe töteten zur Zeit meines Besuchs dort Dutzende palästinensische Zivilist*innen. Bureij ist inzwischen eine Ruine. Auf Fotografien, die die New York Times jüngst veröffentlichte, ist zwischen Hauswand-Überresten, orangener Erde und Schlamm kaum zu unterscheiden.
In den großen israelischen Fernsehsendern wird kaum über die Realität in Gaza informiert.
Nach drei Monaten des Horrors geht mir dieses Bild der Überreste von Terror hier und dem Echo von Terror auch deshalb nicht aus dem Kopf, weil die Geschichte dieses Kriegs von Anbeginn eine Geschichte von alldem war, was abwesend ist, was unsichtbar bleibt, wovon geschwiegen wird. Davon, welchem Narrativ Sendezeit, welchem Ereignis politische Bedeutung verliehen wird. Welche Toten und Verletzten als betrauernswert gelten – und welche nicht. Vor drei Monaten publizierte ich in dieser Zeitung einen Text, in dem ich meine Bestürzung über die Unfähigkeit in Teilen der Linken zum Ausdruck brachte, zivile Opfer des 7. Oktober auf israelischer Seite anzuerkennen und zu betrauern. Ein Gefühl, mit dem ich nicht allein war und das vielen in den letzten Monaten als Werkzeug diente, antilinke Rhetorik zu befeuern und die Aufmerksamkeit für das andauernde, palästinensische Trauma zu schwächen. Weg ist das Gefühl deshalb nicht. Aber neben die eine Form der Bestürzung hat sich längst eine zweite gestellt.
Maßlose Taktik
Es ist eine Bestürzung über Politiker*innen an der Spitze der Bundesregierung, die es bis heute nicht über die Lippen bringen, den wenig komplexen Umstand zu benennen, dass Verantwortung für einen toten Menschen bei dem liegt, der tötet. Über Olaf Scholz, der Ende Oktober trotz zu dem Zeitpunkt hinreichend vorliegender Anzeichen für israelische Kriegsverbrechen in Gaza verlautbarte, man könne sich sicher sein, dass die israelische Armee »die Regeln beachten wird, die sich aus dem Völkerrecht ergeben«. Dass Hunderte annähernd 1.000 kg schwere Bomben gezielt auf dicht besiedelte Orte wie Jabaliya oder auf Gebiete im Süden Gazas abgeworfen wurden, die Israel zuvor zu Safe Zones erklärt hatte; dass, was dort geschieht, einer Massenvertreibung ähnelt, die in mehrerer Hinsicht an die palästinensische Nakba von 1948 erinnert; dass die Gesamtbevölkerung des Gazastreifen an den Rand einer Hungersnot getrieben wurde, die Israel offenbar als Kriegsmittel einsetzt – all das ließ Scholz behaglich aus.
Und Annalena Baerbock schrieb zuletzt auf X zwar von »humanitärer Not« und benannte zurecht die Verantwortung der Hamas, diejenige Israels jedoch an keiner Stelle. Was die deutsche Regierung in Auslassungen und schieren Unwahrheiten an den Tag legt, wirkt letztlich wie ein spiegelbildlicher Abzug ebenjener Hamas-unkritischen Linken, deren analytische Unschärfe und Vermeidungshaltung von der Regierungsbank aus seitenverkehrt wiederholt wird. Jedoch nicht als minoritäre Kritik, sondern aus einer geopolitischen Machtposition heraus und mit fatalen Konsequenzen in Echtzeit. Deutsche Rüstungsexporte an jene israelische Regierung, die gerade unzählige Kriegsverbrechen begeht, haben sich infolge des Krieges verzehnfacht. Es ist auch eine Bestürzung gegenüber Vertreter*innen der deutschen Wissenschaft und mehrerer Kolleg*innen der Presse. Je länger der Krieg andauert, desto mehr drängt sich der Eindruck auf, der deutsche Diskurs sei bemühter, die Legitimität spezifischer Worte, Vergleiche oder Haltungen zu Israel-Palästina zu maßregeln, als die Unumstößlichkeit einer universell geltenden Idee von Humanität zu verteidigen. Letztere wird in diesem Kontext, in Form formalistischer Kosten-Nutzen-Abwägungen von Menschenleben, auch hierzulande immer wieder öffentlich zur Disposition gestellt.
Gesellschaft im Krieg
Vom Gelände des Nova-Festivals aus fahre ich mit dem Auto entlang einiger der am schwersten vom Terror des 7. Oktober betroffenen Orte wie Be’eri und Kfar Aza, bis nach Sderot. Es ist eine Strecke, die den gesamten Nordteil Gazas umfasst, all das in nur knapp zehn Minuten. Ich halte in einer nahegelegenen Militärbasis. Zach, ein verantwortlicher General der israelischen Armee, erklärt hier im Gespräch, er gehe davon aus, dass dieser Krieg mindestens ein Jahr lang andauern werde. Es sei der »Krieg für Frieden, der letzte, den Israel führt«. Als ich nachfrage, ob er seinen eigenen Worten glaubt, angesichts der Abertausenden zivilen Opfer sowie der wiederholten Rufe israelischer Regierungsmitglieder nach einer Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung Gazas, sagt er, jetzt sei nicht die Zeit für Spekulationen. Über uns fliegt ein Militärhubschrauber in Richtung Gaza, im Hintergrund summen Drohnen.
In Israel sind an förmlich jeder zweiten Straßenecke Schilder zu sehen, auf denen auf Hebräisch steht: »Anachnu Nenazeach« (»wir werden siegen«) – sie hängen in Leuchtschrift über den Einfallstraßen nach Jerusalem, auf Hochhäusern und Straßenecken in Tel Aviv, an Autos sowie in Fensterscheiben. Ob sie im Auftrag der Regierung dort aufgehängt wurden, kann mir niemand wirklich beantworten. Klar ist: Sie spiegeln die Stimmung einer Gesellschaft, die das Trauma des 7. Oktobers nicht annähernd verwunden hat und meint, in einem Kampf um ihre Existenz zu stehen. In den großen Fernsehsendern wird tatsächlich kaum über die Realität in Gaza informiert. Im israelischen Fernsehen, das ich zur Zeit meines Besuchs intensiv verfolge, finde ich kaum einen ernstzunehmenden Bericht, der diese Realität angemessen beschreiben würde.
In Jerusalem stechen mir an mehreren Straßenecken im Zentrum meterlang zwischen Bäume gespannte Banner ins Auge, die eine verschärfte Variante derselben Forderung proklamieren: »Wir werden nicht aufhören, bis wir siegen«. Im Kleingedruckten steht: »Eliminierung von Terroristen« / »Reinigung des Gebiets« / »Volle Kontrolle«. Und eine Forderung, auf die sich in Israel fast alle einigen können: »Befreiung der Geiseln«. Letztere steht auch auf den Schildern der marginalen, jedoch langsam anwachsenden israelischen Antikriegsbewegung, die noch am selben Abend in Tel Aviv demonstriert. Die Schilder der circa 300 Leute fordern an diesem Abend »Waffenstillstand jetzt«, »Stoppt das Massaker [in Gaza]«, »Palestinian Lives Matter«. Auf derartigen Demos sieht sich die israelische Linke in den letzten Wochen zunehmend mehr Polizeigewalt gegenüber.
Am Folgetag treffe ich Amiel Vardi, einen Aktivisten, mit dem ich nach Masafer Yatta reise – eine Ansammlung von Dörfern südlich von Hebron im israelisch besetzten Westjordanland, zu denen unter anderem das Dorf Umm al-Khair gehört. Umm al-Khair liegt im C-Gebiet des Westjordanlands, das de facto von Annexion bedroht ist. Palästinensische Wasserzisternen und Gebäudekomplexe wurden hier in den vergangenen Monaten vermehrt abgerissen – mit der Begründung, sie hätten keine Baugenehmigung. Umliegende israelische Siedlungen florieren. Zwischen 1. Januar und 6. Oktober 2023 kamen im Westjordanland nach Angaben der UN 192 Menschen durch israelische Armee- oder Siedler*innengewalt ums Leben, darunter 40 Kinder. Seit dem 7. Oktober steigen die Zahlen rapide an. Stand Mitte November waren es weitere 201 Palästinenser*innen, darunter 52 Kinder.
Brennpunkt Besatzung
Amiel selbst hat am 7. Oktober Freunde durch das Hamas-Massaker verloren. Entmutigt hat ihn das nicht. Der Aktivist und Dozent versucht, mehrmals pro Woche ins Westjordanland zu reisen, um Präsenz zu zeigen und so dazu beitragen, der Siedler*innen- und Armeegewalt und den drohenden Vertreibungen von Palästinenser*innen entgegenzuwirken. In Umm al-Khair treffe ich Tarek, einen Dorfbewohner Ende 20, der hier als Englischlehrer arbeitet. Er steht an einem Berghang und zeigt auf die anliegende Siedlung Carmel. Lokale, bewaffnete Siedler*innen, erzählt er, erlaubten den Dorfbewohner*innen momentan nicht, das anliegende Salbeifeld zu ernten. Unweit des Zauns steht ein mittelschwerer Mann und guckt verloren in die Luft. »Das ist mein Bruder«, sagt Tarek. Er leidet unter einer geistigen Behinderung und bewegt sich regelmäßig zu nah an den Zaun, weshalb er in den vergangenen Monaten mehrfach beinahe erschossen worden sei. »Ich habe Angst um ihn und um uns. Seit dem 7. Oktober sind wir es, die den größten Preis zahlen. Nicht, weil wir Teil von Hamas wären. Sondern wegen unserer Hautfarbe und Identität.«
»Es ist eine neue Nakba«, sagt ein älterer Dorfbewohner, der namentlich nicht genannt werden will. Sein Vater wurde Amiel zufolge vor knapp einem Jahr vom Jeep eines Siedlers überrollt. Soldaten hätten tatenlos zugesehen. Ein anderes Dorf namens Zanuta liegt auf einem windigen Bergrücken in den trostlosen Hügeln von Süd-Hebron. Bis vor kurzem wurde es von Hirt*innen bewohnt, die in dieser kargen Landschaft Ziegen und Schafe züchten. Nach dem Angriff der Hamas, erzählt Amiel, begannen bewaffnete Siedler*innen, einige in Uniformen der Reservistenarmee, nachts einzubrechen, Leute zu verprügeln, Häuser zu zerstören. Nach Jahrzehnten des Kämpfens haben die 150 Bewohner*innen von Zanuta aufgegeben. Dem ging eine Entscheidung des israelischen Obersten Gerichts vom Frühjahr 2022 zugunsten der Armee voraus, die ein 3.000 Hektar großes Gebiet in Masafer Yatta zur militärischen Übungszone, der sogenannten Firing Zone, erklärte – eine nach internationalem Recht illegale Entscheidung, die Zwangsvertreibungen deutlich befeuert hat.
Zanuta ist zum Zeitpunkt meines Besuchs eine Ruine. Inmitten der zerstörten Grundschule des Dorfes liegen Kinderbücher mit Tiermotiven, auf einer Tafel sind zwischen den Trümmern Essensbegriffe auf Englisch erklärt. Die Zerstörung sei erst knapp zwei Wochen her, erzählt Amiel. Unweit der einstigen Schule, an einer zweiten zerstörten Struktur, liegt ein Berg zurückgelassener Klamotten, Kinderschuhe, Jacken und Jeans. Ein anderes Bild, das mir seit meinem Besuch ebenfalls nicht mehr aus dem Kopf geht.