Islamistische Sozialdienstleister
Im Regionalkrieg, der von Gaza aus immer größere Kreise zieht, spielt die Hisbollah eine zentrale Rolle. Wer ist die »Partei Gottes«?
Von Karl Winter
Die mit Sprengstoff präparierten Pager und Walkie-Talkies explodieren am 17. und 18. September in Autos, in Märkten, in einem Bus, auf einer Beerdigung. Mutmaßlicher Täter: der israelische Geheimdienst Mossad. Das Ziel: die schiitische Miliz und Partei Hisbollah und ihre Strukturen im Libanon. Kurz nach dem Anschlag tritt Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah vor die Kameras. »Dieser kriminelle Akt kommt einer Kriegserklärung gleich«, tönt Nasrallah aus den Fernsehern im Libanon, in Iran und anderswo. Israel habe alle roten Linien überschritten. »Die Bestrafung wird kommen.« Aber wer sind die Milizionäre der Hisbollah eigentlich?
Die Geburtsstätte der Hisbollah ist die Bekaa-Ebene im Libanon, sie liegt zwischen recht hohen Bergen, an deren Fuß viel Gemüse und Obst angebaut wird. Schon im Neolithikum siedelten hier Menschen, in der Antike dann unter anderem Römer*innen, von denen noch einige Säulen in der Landschaft herumstehen. Doch im Schoß der landschaftlichen Idylle brodelt es seit Jahrzehnten gewaltig: Im Libanon tobte seit Mitte der 1970er Jahre ein Krieg, in dem nicht nur verschiedene Milizen entlang ideologischer, religiöser und kultureller Linien aufeinander schossen, sondern auch andere Länder mitmischten, wie Syrien, Israel und auch Iran.
Die Bekaa-Ebene wurde in den 1970er und 1980er Jahren zum Rückzugsort diverser libanesischer und palästinensischer Milizen und Widerstandsgruppen, linke Guerilla-Organisationen hatten dort Ausbildungslager, wie etwa der bewaffnete Arm der kurdischen Arbeiter*innenpartei PKK, neben diversen bewaffneten Gruppen aus Europa. Aber auch islamistische Organisationen wie die Hisbollah – der Name bedeutet so viel wie »Partei Gottes« – nutzten die Bergregion als Basis.
Pseudo-Revoluzzer
Die Entstehung der Hisbollah ist eng mit der israelischen Besatzung des Libanon verbunden, insbesondere mit der Invasion im Jahr 1982, als Israel in den Libanon einmarschierte, um gegen die PLO (Palästinensische Befreiungsorganisation) vorzugehen, die sich im Süden des Landes festgesetzt hatte. Die israelische Besatzung im Süden des Libanon schürte Unmut in der libanesischen Bevölkerung, besonders unter den dort ansässigen schiitischen Gemeinden. In diesem Kontext bildete sich die Hisbollah als eine Widerstandsbewegung gegen die israelische Besatzung heraus. Die »Partei Gottes« hatte dabei von Anfang an einen großen Bruder zur Seite: Das Regime in Iran.
Die islamische Revolution von 1979 hatte in den Jahren vor dem Entstehen der Hisbollah das politische Klima im Nahen Osten grundlegend verändert. War das Schah-Regime, das vor der Revolution in Iran das Sagen hatte, noch stark vom Westen abhängig, so kristallisierte sich mit den Mullahs eine Herrscherclique heraus, die eine eigenständige Politik verfolgte. Die islamische Republik verstaatlichte die Ölindustrie, um den Einfluss ausländischer Konzerne einzudämmen. Aus der Kombination von Ölindustrie und brutaler fundamentalistischer Herrschaft entstand das, was wir heute als iranischen Imperialismus bezeichnen können. Imperialismus deshalb, weil mit der Schaffung eines eigenständig agierenden iranischen Monopol-Kapitals in Teheran auch ein neues Machtzentrum entstand, mit Plänen weit über die iranischen Grenzen hinaus.
Die Hisbollah trat 1985, inmitten des libanesischen Bürgerkriegs, mit einem Manifest an die Öffentlichkeit, das die Wut über Armut und Ausbeutung ansprach, sie aber nicht in Klassenkampf übersetzen wollte, sondern in ein islamistisches Programm schiitischer Prägung, angelehnt an das Regime in Iran.
Die Hisbollah trat 1985, inmitten des libanesischen Bürgerkriegs, mit einem Manifest an die Öffentlichkeit. Der Titel: »Offener Brief an die Unterdrückten im Libanon und in der Welt«. Ein Titel, der die Wut über Armut und Ausbeutung ansprach, sie aber nicht in Klassenkampf übersetzen wollte, sondern in ein islamistisches Programm schiitischer Prägung, angelehnt an das ebenfalls schiitische Regime in Iran. An den Grundpfeilern des Manifests hält die Hisbollah bis heute fest: Ein mit antisemitischen Bildern verstärkter Hass auf Israel und den Westen sowie der Kampf für einen Islamischen Staat.
Die Hisbollah vermochte es in den 1980er und 1990er Jahren sehr geschickt, ihre sozialrevolutionäre Programmatik beizubehalten, zu suggerieren, sie vertrete die Sache der kleinen Leute, und gleichzeitig vollständig mit den wirtschaftlichen und politischen Eliten des Libanon zu verwachsen, zu einem Staat im Staat zu werden, zu einer Partei, deren militärischer Arm größer ist als die libanesische Armee, welcher eher die Funktion zukommt, der Hisbollah zuzuarbeiten. Im Jahr 2000 zogen sich die israelischen Streitkräfte aus dem Südlibanon zurück, was auch mit den ständigen Angriffen der Hisbollah zu tun hatte. Die verbuchte den Rückzug für sich und schuf einen Mythos: Die Hisbollah, die Unbezwingbaren, die einzigen, die es mit dem Feind aufnehmen können. Auch wenn die Konfliktlinien im Nahen Osten kompliziert sind und pro-iranische Kräfte wie die Hisbollah sich durch ihre Unterstützung für das Assad-Regime in Syrien Feinde gemacht haben, können sie sich im Kampf gegen Israel des Rückhalts vieler sicher sein.
Die Massenbewegung von 2019
Neben ihrer militärischen Machtposition hat die Hisbollah eine entscheidende Rolle im libanesischen Sozialstaat übernommen. Besonders in schiitischen Gebieten, die lange Zeit von der Regierung vernachlässigt wurden, baute sie ein umfassendes Netz an sozialen Dienstleistungen auf. Dazu gehören Krankenhäuser, Schulen und Sozialzentren, die vielen Libanes*innen eine Alternative zur oft ineffizienten staatlichen Infrastruktur bieten. Diese sozialen Dienstleistungen haben die Hisbollah zu einer zentralen Kraft im Alltag vieler Menschen im Libanon gemacht. Wer sie angreift, so wie israelische Kräfte das mit den jüngsten Anschlägen tun, greift damit auch ein Staatswesen an, von dem viele Menschen abhängig sind.
Gleichzeitig gibt es auch in der Herrschaft der Hisbollah Bruchlinien. Im Oktober 2019 brachen Massenproteste los, als die Regierung eine Steuer auf WhatsApp-Anrufe ankündigte – ein scheinbar kleiner Funke, der ein Feuer entzündete. Die Menschen strömten in Scharen auf die Straßen, nicht nur in der Hauptstadt Beirut. Sie protestierten gegen eine Arbeitslosigkeit von mehr als 25 Prozent, gegen Armut, schlechte Infrastruktur – immer wieder wurden dabei auch kritische Stimmen gegen die Hisbollah laut, und gegen den Einfluss des iranischen Regimes, für den sie steht. Die Proteste, die von vielen im Land bereits als Revolution bezeichnet wurden, führten zum Rücktritt einiger hochrangiger Politiker.
Die Stärken der Bewegung von 2019 waren, dass sie soziale Fragen ansprach, ohne sie religiös aufzuladen, dass in der Bewegung viele Frauen in vorderster Reihe standen und dass sie über konfessionelle und kulturelle Grenzen hinweg mobilisierte. Sunnit*innen, Schiit*innen, Christ*innen, Drus*innen und andere Bevölkerungsgruppen standen damals Seite an Seite für einen sozialen Wandel. Menschen, deren Familien im Bürger*innenkrieg teils noch gegeneinander gekämpft hatten. Trotz der anfänglichen Euphorie ebbte die Bewegung nach einigen Monaten wieder ab. Es fehlte ihr an Organisiertheit und klaren Zielen. Die Ursachen der Proteste aber haben sich seither weiter verschärft: Die Währung hat dramatisch an Wert verloren, und die Armut neue Höchststände erreicht. Alles drängt nach einer Fortsetzung der Revolution – sie wäre auch eine Alternative zur Macht der Hisbollah, die im eskalierenden Krieg mit Israel eher noch gestärkt zu werden droht.