Friendshoring in Magdeburg
Die Ansiedlung von Intel in der ostdeutschen Stadt sagt viel über globale Kräfteverhältnisse und einen grundlegenden Wandel der Industriepolitik aus
Im Frühjahr 2022 kündigte der Chiphersteller Intel den Bau eines neuen, gigantischen Werks zur Halbleiterherstellung in Magdeburg an. Die Euphorie war anfänglich groß. Die Standortallianz zwischen Magdeburg, einstmals Stadt des Schwermaschinenbaus, und dem Chip-Riesen Intel schien auf Anhieb zu funktionieren: Intel zeigte Präsenz in der Stadt, veranstaltete Bürger*innendialoge und konnte sogar die städtische Pressesprecherin abwerben. Doch die Stimmung kippte schnell: Mit dem Abflauen der Corona-Pandemie sank auch die Nachfrage nach Computern und damit nach Halbleitern drastisch, Intel meldete rote Zahlen, die Energiepreise stiegen, und der Konzern forderte weitere Subventionen des Bundes – statt der bereits zugesagten 6,8 Milliarden würden laut Medienberichten von Intel etwa zehn Milliarden Euro an öffentlichen Geldern gefördert, um das Projekt umzusetzen. Der Baustart wurde zudem von Anfang 2023 auf 2024 verschoben.
Zwar betonte Intel angesichts anders lautender Medienberichte, dass der Standort Magdeburg nicht infrage stehe und das Projekt von der Bewilligung weiterer Fördergelder nicht abhängig sei; das Gezerre um die Ansiedlung – insbesondere um Art und Umfang der Subventionen – scheint jedoch hinter geschlossenen Türen weiterzugehen, das legen Medienberichte nahe. Dennoch ist es äußerst unwahrscheinlich, dass die Stadt Magdeburg die Ansiedlung des US-amerikanischen Konzerns durch eine kompromisslose Haltung ernsthaft gefährden würde. Denn jenseits der ökonomischen Vorzüge für die ostdeutsche Region stecken hinter dem Werben um den Standort Ost vor allem geopolitische Überlegungen der EU und des Bundes. Gemeinsames Ziel ist es, einen weiteren Halbleiterstandort in Deutschland und Europa zu etablieren und globale Lieferketten und ökonomische Abhängigkeiten umzustrukturieren. Dafür ist der Staat bereit, tief in die Kasse zu greifen.
Die Rückkehr des Staatskapitalismus
Über die Rückkehr eines Staatskapitalismus auf nationaler Ebene diskutiert die wissenschaftliche Linke spätestens seit der Corona-Pandemie. Die vorübergehende Umstellung auf bedarfsorientierte Produktion, aber auch die massiven Unternehmenssubventionen, aktuell die Preisbremsen im Energiesektor und andere staatliche Interventionen stellen die Wirksamkeit neoklassischer Maßnahmen zur Krisenbewältigung zunehmend infrage. Die Politikwissenschaftler Hans-Joachim Bieling und Joscha Abels konstatierten in der Prokla jüngst auch für die EU-Ebene eine staatsinterventionistische Wende und erkannten vier zugrundeliegende staatliche »Gestaltungslogiken«, die einen solchen Wandel vorantreiben. Am Beispiel Intel lässt sich nicht nur zeigen, was damit gemeint ist, sondern auch, wie sehr die nationalen und globalen ökonomischen Umstrukturierungsprozesse von solchen Logiken getrieben sind.
Die erste Gestaltungslogik, die im Fall Intel eine Rolle spielt, ist eine kapitalistische: Staaten versuchen, die raum-zeitliche Begrenzung der kapitalistischen Produktion zu durchbrechen und diese zu reorganisieren. Auch die Intel-Ansiedlung in Magdeburg folgt dieser Logik staatlicher Intervention. Sie wird aus einer nationalstaatlichen Perspektive als Projekt verstehbar, im Osten eine konkurrenzstarke Filiale zu installieren, die eine Sogwirkung auf Zulieferer, Wachstum und Wohlstand in der Region entfaltet. Die geplante Chipfabrik bildet somit einen Ankerpunkt, um die kapitalistische Entwicklung in der Region zu fördern und die regionale Abhängigkeit vom Westen Deutschlands und seinen Produktionsstandorten zu kompensieren. (ak 682) Andererseits muss die Intel-Ansiedlung auch als eine technologische Absicherung Europas in Zeiten prekärer Wertschöpfungsketten verstanden werden, die sich durch die Pandemie und den Ukraine-Krieg weiter zuspitzte. Dies unterstrich auch Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck deutlich, als er im Rahmen einer Pressemitteilung zur Europäischen Industriepolitik im März 2022 folgendes formulierte: »Zwei Halbleiterfabriken von Intel in Magdeburg sind ein wichtiger und starker Impuls für die Wirtschaft in schwieriger Zeit und ein zentraler Sprung für die digitale Souveränität Europas.«
Anhand von Habecks Aussage wird zudem eine weitere Gestaltungslogik deutlich: die geoökonomische. Schon bevor Russland in der Ukraine einmarschierte und die Diskussion um eine sogenannte wertegeleitete Außen- und Handelspolitik des Westens so richtig Fahrt aufnahm, beklagte die europäische Kommission die Abhängigkeit bei Rohstoffen, Vor- und Fertigprodukten im digitalen Bereich von asiatischen Märkten. So konstatierte Kommissionspräsidentin von der Leyen 2021 im Zuge von Lieferengpässen bei Halbleitern, dass »wir«, beziehungsweise das Überleben der europäischen Industrie, von Hochleistungschips aus Asien abhängig seien. Denn: »Ohne Chips kein digitales Produkt«.
Kampf der Chip-Industrien
Die globalen Lieferketten, wie sie zuvörderst von westlichen Staaten und Kapitalen in der Vergangenheit geformt wurden, werden heute zunehmend infrage gestellt und ihre Neustrukturierung anhand von »geteilten Werten« beziehungsweise strategischen Interessen gefordert. »Reshoring« oder auch »friendshoring« nennt man das. Insofern sind die dem Chiphersteller Intel für den Standort Magdeburg versprochenen Subventionen Teil einer Industriepolitik, die sowohl die Wettbewerbsfähigkeit von europäischen Produktionsstandorten, als auch die »technologische Souveränität« des EU-Binnenmarktes im Blick hat – indem die Abhängigkeit von asiatischen Märkten reduziert wird.
Noch hängt die milliardenschwere Förderung der Intel-Niederlassung allerdings am erfolgreichen Abschluss des sogenannten »European Chips Act«, der derzeit in Brüssel verhandelt wird und durch eine Änderung des EU-Beihilferechts die Milliardensubventionen erst ermöglichen würde. Insgesamt sollen damit bis zu 43 Milliarden Euro Fördergelder für die Chip-Produktion auf EU-Territorium mobilisiert werden. Doch nicht nur die EU, auch die USA nehmen mit dem Chips and Science Act (52 Milliarden Dollar) eine Menge Geld in die Hand, um die Ansiedlung von Chipfabriken im eigenen Land zu fördern und mehr Kontrolle über den Produktionsprozess dieser strategisch wichtigen Ware zu gewinnen. China hat 143 Milliarden Dollar dafür eingeplant. Neben diesen Reshoring-Prozessen sind auch Handelsbeschränkungen auf Chips und nicht zuletzt das geopolitische Ringen um Taiwan, der weltweit wohl wichtigste Produktionsstandort der Halbleiterindustrie, Belege für ein sich zuspitzendes Konkurrenzverhältnis der Halbleiterindustriestandorte EU, USA und China.
Angesichts der Klimakatastrophe und des Drucks der sozialen Bewegungen komme, so beschreiben es Bieling und Abels, jüngst auch eine ökologische Gestaltungslogik staatlicher Interventionen zur Geltung. Zentral sei dabei die Frage, wie die Industrie- und Infrastrukturpolitik unter dem Vorzeichen ökologischer Nachhaltigkeit umgestaltet werden kann, etwa mit Blick auf Energieerzeugung oder Mobilität. Derlei Umgestaltung ist zwar durchaus begrüßenswert – jedoch nicht widerspruchsfrei, denn oberste Priorität bleibt der Erhalt des Industriestandortes Deutschland. Am Beispiel Intel in Magdeburg ist zu beobachten, wie Politik und Unternehmen nicht müde werden zu betonen, wie wichtig ihnen grüne Energie und nachhaltige Produktion seien. So soll unter anderem ein eigener Windpark für den Konzern errichtet werden. Zugleich werden Unmengen an Wasser für die Chip-Produktion benötigt. Dafür soll das Wasser aus der Elbe verwendet werden. Bereits vergangenes Jahr musste der Wasserverbrauch aufgrund einer Dürre in der Region reguliert werden. Die ökologischen Folgen von Industrieansiedlungen in solchen Größenordnungen werden aktuell auch an einem anderen Standort im Osten sichtbar: im brandenburgischen Grünheide, mitten im Wasserschutzgebiet, wo das Tesla-Werk bis zu 1,8 Millionen Kubikmeter Grundwasser im Jahr für die Elektroauto-Produktion verbraucht und es zu Konflikten zwischen dem örtlichen Wasserverband, der Landesregierung und Tesla gekommen ist.
Anders als der Tesla-Chef Elon Musk geben sich die Vertreter*innen des Intel-Konzerns in Magdeburg bis dato bürger*innennah. Im Rahmen von Bürger*innengesprächen will man den Magdeburger*innen die industriellen Umstrukturierungsmaßnahmen schmackhaft haben.
Hier kommt eine sozialintegrative Gestaltungslogik zum Tragen: Der Strukturwandel wird mit Rückendeckung von Staat, Banken, Unternehmen, Gewerkschaften, Verbraucherverbänden und Zivilgesellschaft offensiv vorangetrieben, und potenziell negative Folgen sollen abgefedert werden. So sind kritische Stimmen aus Zivilgesellschaft oder Medien im Zuge der Ansiedlung kaum zu hören. Gebetsmühlenartig betont werden der Umfang an vermeintlich gut bezahlten Arbeitsplätzen und die Strahlkraft, die die Unternehmensansiedlung auf die gesamte Region haben soll. Dabei bleibt vorerst unklar, inwiefern die Gewerkschaften einen Fuß in die Tür kriegen und es schaffen, Tarifverträge zu implementieren.
Intel als Klammer gemeinsamer Kämpfe
Es ist an der Zeit, die sozialen und ökonomischen Widersprüche dieser industriepolitischen Bestrebungen, insbesondere in Ostdeutschland, ins Visier zu nehmen, um nicht nur auf Krisenerscheinungen zu reagieren, sondern den Staat im Sinne einer transformations- und klassenorientierten Wirtschaftspolitik vor sich herzutreiben. Für die linke Bewegung heißt das: Sie muss lernen, sich in den Widersprüchen der aufgezeigten Gestaltungslogiken zu bewegen, diese in ihrem Sinne zu beeinflussen. In Magdeburg wurde jüngst ein solcher Versuch unternommen: So forderte das Sozialkombinat Ost! einen Sozialfonds in der Landeshauptstadt Sachsen-Anhalts für schnelle, unbürokratische Hilfen für Menschen mit geringeren Einkommen. Diese Forderung wurde seitens der Stadt kürzlich mit der Begründung zurückgewiesen, dass eine Finanzierung nicht möglich sei. Zugleich wurde Intel für die Produktion ein Strompreis in Aussicht gestellt, der ein Fünftel des marktüblichen Preises beträgt. Diese Logik entspricht der Rationalität des Kapitals, offenbart jedoch zugleich deutlich seine inneren Widersprüche. Solche Zusammenhänge öffentlichkeitswirksam zu thematisieren und eigene Forderungen abzuleiten, bleibt eine wichtige Aufgabe der Linken.
Die Folgen der Ansiedlung auf die gesamte Region bleiben bisher unklar. Allerdings zeichnet sich schon jetzt ab, dass Mieten stärker steigen werden und der Wohnungsbau insbesondere für wohlhabende Haushalte mit zukünftigem »Intel-Gehalt« vorangetrieben wird – Verdrängungsprozesse und eine steigende soziale Ungleichheit werden nahezu zwangsläufig die Folge sein. Die sogenannte staatsinterventionistische Wende muss deshalb als Gelegenheit betrachtet werden, diese sich aufdrängenden Widersprüche in soziale Kämpfe münden zu lassen und eine progressive Umstrukturierungspolitik voranzutreiben. Für eine Linke kann das bedeuten, die seit jeher fragmentierten Kämpfe wieder zusammenzubringen. In Magdeburg könnte das mit Intel als gemeinsamer Klammer funktionieren, denn die Ansiedlung des Chip-Giganten wird viele Akteure fordern: Gewerkschaften im Kampf um gute Arbeitsbedingungen ebenso wie Klimaschützer*innen, die die Gefahren für die Umwelt thematisieren, Anwohner*innen, die sich gegen die Verdrängung wehren und noch viele mehr.